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Hass – La haine: Die Spirale der Gewalt

26 Jan

La haine

Von Lucas Gröning

Thrillerdrama // „Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ’nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut …‘ Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!“ Mit diesen Worten beginnt Mathieu Kassovitz’ 1995 veröffentlichte Millieustudie „La haine“, die im Deutschen unter dem Titel „Hass“ in die Kinos gekommen ist. Es ist der Film im Œuvre des Regisseurs, der den nachhaltigsten Eindruck in der Kinogeschichte hinterlassen hat, auch wenn Kassovitz andere populäre Filme zu seinem Gesamtwerk zählt. „Gothika“ (2003) mit Halle Berry, Robert Downey Jr. und Penélope Cruz sowie „Die purpunen Flüsse“ (2000) mit Jean Reno und Vincent Cassel seien an dieser Stelle beispielhaft genannt.

Vinz (l.), Saïd (2. v. r.) und Hubert (r.) leben ärmlich im Ballungsraum von Paris

Mit Vincent Cassel findet sich hier auch die perfekte Überleitung zu „Hass“, bekleidet der Franzose doch hier eine der drei Hauptrollen. Kassovitz’ Film repräsentiert den Durchbruch des Parisers, der sich im Anschluss an „Hass“ zu einem fest etablierten Darsteller nicht nur im französischen Kino entwickelte, sondern sich auch in Hollywood einen Namen machte. Bekannte Filme mit seiner Beteiligung sind unter anderem Gaspar Noés „Irreversibel“ (2002), Steven Soderberghs „Oceans 12“ (2004) und „Oceans 13“ (2007) sowie „Black Swan“ (2010) von Darren Aronofsky. Seine beiden Co-Darsteller dürften hingegen den Wenigsten außerhalb eines französichen Kinokontextes etwas sagen. Für Hubert Koundé blieb „Hass“ der einzige nennenswerte internationale Erfolg, wenn man von Fernando Meirelles’ „Der ewige Gärtner“ (2005) einmal absieht. Saïd Taghmaoui wiederum hat es nach einer kleinen Durststrecke zumindest geschafft, sich als beliebter Nebendarsteller zu etablieren – und das auch in größeren Blockbuster-Produktionen. So war er unter anderem in David O. Russells „American Hustle“ (2013), Patty Jenkins’ „Wonder Woman“ (2017) und Chad Stahelskis „John Wick – Kapitel 3“ (2019) zu sehen.

Provokationen, Ekel und Gewalt

Das sind alles Filme, die mit seinem Durchbruch „Hass“, vor allem stilistisch, nur noch wenig vereint. Aber der Reihe nach: Worum geht es in Kassovitz’ Film? „Hass“ skizziert 24 Stunden im Leben der jungen Männer Vinz (Vincent Cassel), Hubert (Hubert Koundé) und Saïd (Saïd Taghmaoui), die in Chanteloup-les-Vignes leben, einer Gemeinde im Ballungsraum von Paris. Die Handlung beginnt im Anschluss an eine Nacht, in der es zu Krawallen und massiven gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern der Gemeinde und der örtlichen Polizei kam. Während der Geschehnisse wurde ein junger Mann namens Abdel (Abdel Ahmed Ghili), ein „Junge aus aus dem Viertel“ wie es im Film heißt, lebensgefährlich verletzt, nun liegt er im Koma. Mitten im Getümmel befand sich auch Vinz, der den verlorengegangenen Revolver eines Polizisten an sich nahm. Sollte Abdel sterben, so schwört er sich, wird er die Waffe benutzen, um einen Polizisten zu töten. Nur seine beiden Freunde Hubert und Saïd weiht er in den Fund ein, während sich im Viertel und in der medialen Berichterstattung das Verschwinden des Revolvers herumspricht. Fortan begleiten wir die drei Protagonisten durch ihren Tag, der von Provokationen, Ekel und sich anbahnender eskalierender Gewalt gekennzeichnet ist.

Bald kommt es zu einem Ausbruch der Gewalt …

„Hass – La haine“ verwendet viel Energie darauf, seinem Publikum ein realitätsnahes Gefühl für den Kontext zu geben, in dem sich der Film bewegt. Gleich zu Beginn sehen wir scharz-weißes Archivmaterial, welches Krawalle zeigt, die sich tatsächlich im Jahr 1993 in einer der Banlieues ereigneten, nachdem ein 16-jähriger Zairer namens Makomé M’Bowolé während eines Verhörs auf einem Polizeirevier von einem der Beamten durch einen Schuss in die Schläfe getötet wurde. „Hass“ verortet seine Geschichte damit direkt in der Realität und stellt das auch in der Folge weiter bewusst aus. Der Film behält beispielsweise seine schwarz-weiße Farbgebung über die komplette Lauflänge und stellt damit einen direkten Bezug zu den dokumentarischen Aufnahmen des Beginns her. Auch ansonsten sehen wir eine Vielzahl von Einstellungen, die das Dokumentarische herausstellen und den Realitätsbezug nahelegen. Unterstützt wird dieses „Heranrücken“ der Fiktion an die tatsächliche Lebenswirklichkeit außerdem dadurch, dass praktisch alle namentlich erwähnten Figuren die Vornamen der jeweiligen Schauspieler tragen, sodass nahegelegt wird, dass diese tatsächlich erlebte autobiografische Ereignisse für den Film quasi nachspielen, auch wenn das in weiten Teilen nicht der Fall ist.

„Taxi Driver“, „Citizen Kane“ und „Vertigo“

Auf der anderen Seite wiederum weist „Hass“ eine enorme Künstlichkeit auf, die viele Assoziationsmöglichkeiten zu verschiedenen Werken aus der Geschichte des Mediums zulässt, wodurch der Film als Fiktion erkannt werden kann. Dazu zählt nicht nur die berühmte Szene zu Beginn, in der Vinz mit seinem Spiegelbild auf ähnliche Weise kommuniziert, wie dies der von Robert de Niro porträtierte Travis Bickle in Martin Scorseses „Taxi Driver“ (1976) tut, auch Vorder- und Hintergrundformationen wie in „Citizen Kane“ (1941) von Orson Welles oder der sogenannte Vertigo-Effekt aus u. a. Alfred Hitchcocks „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ (1958) sind hier zu sehen. Doch auch abgesehen von all diesen Reverenzen verleugnet der Film seine Identität als Abbildung von Fiktion nicht. Enorm penibel ausgeleuchtete Einstellungen erwecken diesen Eindruck genauso wie Bilder, die eine genau durchgeplante Platzierung der Objekte im filmischen Raum erahnen lassen. Dazu kommen enorm aufwendige Kamerafahrten und Schnittmuster, die sich in Dokumentarfilmen normalerweise äußerst selten finden. All diese Stilmittel und intertextuellen Verweise entrücken den Film von der nonfiktionalen Wirklichkeit und haben die Funktion, eine Distanz zum Werk zu schaffen, die dem Dokumentarischen und im historischen Kontext Verorteten entgegensteht.

Die Figuren bewegen sich also durch eine in ihrer Künstlichkeit betonte Filmwelt, doch auch sie selbst legen ein Verhalten an den Tag, das konstruiert und in seinem Wesen künstlich erscheint. Und das, obwohl wir es hier mit Figuren zu tun haben, die durchaus psychologisiert werden, indem wir Hintergrundinformationen von ihnen erfahren. Am deutlichsten wird dies bei Vinz, dessen private Lebensumstände zu Beginn recht deutlich gezeigt werden, bevor es hinaus aus seiner Wohnung in die Straßen des Viertels geht. Die ärmlichen Verhältnisse, in denen die Protagonisten verortet sind, werden ersichtlich und scheinen die Ursache für ihre latente Unzufriedenheit zu sein. Warum aber ist hier von konstruiertem Verhalten die Rede? Das hat folgenden Grund: Zwar lässt sich die Psyche der drei jungen Männer auf die gezeigten Umstände zurückführen, dennoch scheint etwas anderes der Grund dafür zu sein, wie sie sich gegenüber ihren Mitmenschen geben. Zu den soziokulturellen Kontexten scheint der unaufhörliche Drang zu stoßen, eine bestimmte Form von Männlichkeit zu konstruieren, die den Figuren ein psychologisches Überleben innerhalb des Viertels erlaubt.

Konstruierte Männlichkeit

Es geht um eine Männlichkeit, die sich vor allem an ikonischen Figuren aus der Popkultur orientiert, deren Werke von Vinz, Hubert und Saïd konsumiert werden. Das legen zumindest einige Elemente nahe, die für den Film zentral sind. So sehen wir in den Wohnungen von Vinz und Hubert recht prominent platzierte Poster von Sylvester Stallone, Bruce Lee, Muhammad Ali und ein Filmposter von Richard Donners „Lethal Weapon“ (1989). Darüber hinaus spielt Hip-Hop-Musik eine wichtige Rolle, am deutlichsten artikuliert durch eine innerdiegetische Darbietung des Songs „Sound of da Police“ von KRS-One im Rahmen eines Remixes mit weiteren Werken. All diese Einflüsse scheinen sich in den Persönlichkeiten der Figuren zu sammeln und immer wieder aus ihnen herauszubrechen. Dabei vereint sie alle in erster Linie das Thema Gewalt. Sowohl Sylvester Stallone als auch Bruce Lee erreichten ihren ikonischen popkulturellen Status aus einem Kontext des Kampfes und der Brutalität – Sylvester Stallone durch Rollen wie in John G. Avildsen „Rocky“ (1976) und Ted Kotcheffs „Rambo“ (1982), Bruce Lee durch seine Tätigkeit als Kampfkünstler und durch Rollen wie in „Der Mann mit der Todeskralle“ (1973) von Robert Clouse. Muhammad Ali schlägt mit seiner Identität als Boxprofi in dieselbe Kerbe, während sich der US-amerikanische Hip-Hop der 1990er-Jahre sehr explizit mit der Gewalt, passenderweise oftmals gegenüber Polizeibeamten, auseinandersetzte. Auch das angesprochene Wiederholen der Pose aus „Taxi Driver“, etwas was im Verlaufe des Films anhand einer anderen Szene aus Scorseses Werk erneuert wird, fügt sich daran an.

… und Vinz muss einige schwierige Entscheidungen treffen

Diese Männlichkeit, deren Posen lediglich über Gewalt und eine möglichst grobe Form des zwischenmenschlichen Umgangs definiert wird, scheint in der von „Hass“ gezeigten Welt die einzig adäquate Art und Weise zu sein, dieser zu begegnen. Es ist eine extrem menschenfeindliche Welt, wobei jene Menscheinfeindlichkeit zunächst von der Institution des Staates, und genauer der Polizei, ausgeht. Mathieu Kassovitz geht es aber nicht um eine einseitige Kritik am Gewaltmonopol des Staates, vielmehr zeigt sein Film, wie die von der Staatsmacht ausgehende Gewalt, einhergehend mit den miserablen ökonomischen Lebensbedingungen zahlreicher Menschen, Gegengewalt erzeugt und wie daraus ein sich wechselseitig aufbrausender Strudel der Brutalität erzeugt wird, welcher sein Ende letztlich nur in der Eskalation finden kann. Die Figuren befinden sich dabei nicht am Anfang jenes Strudels, sie sind bereits zu Beginn des Films mittendrin und haben ihre Männlichkeitsposen und die ihnen innewohnende Brutalität längst routiniert. Sie fühlen sich als Opfer und Underdogs, deren einzige Idole jene Figuren aus der Popkultur darstellen, die mit der nötigen Brutalität ein Erfolgsversprechen repräsentieren, an deren Ende ein Triumph über den absoluten, viel größer und mächtiger erscheindenden Feind steht – und zwar nicht nur in der Logik der erzählten oder durchlebten Geschichten, sondern auch in der Logik von Relevanz und Anerkennung, die sich über den popkulturellen Status definiert. Daraus ziehen sie ihre Hoffnung und deswegen scheint eine sich permanent wechselseitig bedingende Gewaltspirale unausweichlich.

Die Künstlichkeit wird sichtbar

Doch diese Spirale kann nicht die Lösung sein, sondern Diskurs wird als Mittel herausgearbeitet. Dies geschieht interessanterweise nicht durch Mittel des Narrativen, sondern durch die ästhetischen Mittel des Films und die zahlreichen intertextuellen Bezüge. „La haine“ stellt durch all diese Mittel eine Art postmodernes Sammelsurium an Ideen dar, das sich jedoch nicht in seinen Referenzen verliert, sondern sich als ein Werk versteht, das diese Bezüge zusammendenkt, um auf die Gebrochenheit seiner Figuren zu verweisen – und auf die Notwendigkeit eines humanistischen Ansatzes zur Lösung der Konflikte. Sie sind absolut zentral, denn durch jene Verweise werden die Posen der Figuren als solche sichtbar und sind nicht länger als authentischer Teil ihrer Persönlichkeit wahrnehmbar. Das kann vor allem anhand von Hubert beobachtet werden. Auch er verhält sich größtenteils wie seine Kumpane, jedoch schleichen sich kaum zu erklärende Momente der Stille und der Nachdenklichkeit in sein Verhalten ein. Diese Momente lassen sich nur sehr eingeschränkt zu den Figuren aus der medial-vermittelten Welt zurückverfolgen und stellen gerade dadurch authentische Kontraste inmitten einer von Künstlichkeit geprägten Welt dar.

Die Freunde befinden sich bald auf der Flucht …

Hieraus erklärt sich auch der ästhetische Kontrast zwischen Dokumentation und Fiktion. Mittel wie der Vertigo-Effekt oder in ihrer Künstlichkeit betonte Bildkonstruktionen werden nicht nur benutzt, um ein schönes und angenehmes Rezeptionserlebnis zu garantieren. Sie stellen auch eine Klarheit dar, mit der die Figuren ihre Welt wahrnehmen und werden so zu symbolischen Ausdrücken des Inneren. Sie sind also auch Symbol einer suggerierten Klarheit, die vielleicht aufgelöst werden müsste um einen differenzierten Blick auf die Welt einzunehmen und die Konflikte beiseite zu schaffen. Genau dieses Potenzial bietet „Hass“, indem der Film seine Machart ausstellt und seine Welt somit zu einem Ort der Reflektion macht. Genau wie Posen der Männlichkeit durch ihre Offensichtlichkeit erfahrbar und reflektierbar werden, wird die Künstlichkeit der Welt durch das Ausstellen ihrer Ästhetik erfahrbar und bietet das Potenzial der Reflexion. Der Film lädt uns dazu ein, einen Schritt zurückzutreten und über die gesellschaftliche Bedingungen und die Handlungen, die zu einem Abwenden der Katastrophe führen können, nachzudenken. Genau darin liegt die Größe dieses fantastischen Films, der auch abseits einer Beschäftigung mit Ästhetik und mit den verschiedenen Motiven ein spannendes und höchst befriedigendes Seherlebnis bietet.

Zu diesem Zweck sei die limitierte Collector’s Edition empfohlen, die im vergangenen Jahr erschienen ist und außer dem Film als 4K UHD Blu-ray, Blu-ray und DVD auch umfangreiches Bonusmaterial bietet. Exemplarisch seien daraus ein Audiokommentar von Mathieu Kassovitz, eine Dokumentation über den Film, geschnittene Szenen und ein Booklet mit Texten von Özgür Yildirim und Nicolai Bühnemann genannt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Vincent Cassel haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

… und müssen einen Unterschlupf finden

Veröffentlichung: 23. September 2021 als 3-Disc Limited Collector’s Special Edition (4K UHD Blu-ray + 2 Blu-rays), 15. März 2012 als Blu-ray, 19. Januar 2012 als Steelbook DVD, 14. September 2006 als 2-Disc Special Edition DVD, 5. Januar 2012 als DVD (Arthaus Close-up, mit zwei weiteren Filmen) 7. Januar 2010 als DVD

Länge: 98 Min. (Blu-ray), 94 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Französisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: La haine
F 1995
Regie: Mathieu Kassovitz
Drehbuch: Mathieu Kassovitz
Besetzung: Vincent Cassel, Hubert Koundé, Saïd Taghmaoui, Abdel Ahmed Ghili, Solo, Joseph Momo, Héloïse Rauth, Rywka Wajsbrot, Olga Abrego
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Mathieu Kassovitz, Dokumentation 10 Jahre Hass (84 Min.), Casting-Featurette (20 Min.), Anatomie einer Szene (7 Min.), Hinter den Kulissen (6 Min.), geschnittene und erweiterte Szenen (18 Min.), Riz Ahmed über „La haine“ (14 Min.), Interview mit Mathieu Kassovitz (36 Min.), Booklet mit Texten von Özgür Yildirim und Nicolai Bühnemann, T-Shirt, 3 Artcards, Sticker, Kurzfilme von Mathieu Kassovitz: „Fierrot le pou“ (8 Min.), „Cauchemar blanc“ (11 Min.), „Assassins“ (13 Min.)
Label/Vertrieb: Koch Films

Copyright 2022 by Lucas Gröning

Szenenfotos & Packshot: © 2021 Koch Films

 
 

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2 Antworten zu “Hass – La haine: Die Spirale der Gewalt

  1. Stepnwolf

    2022/01/31 at 15:19

    Ohne Zweifel einer der besten und wichtigsten Filme der 1990er Jahre…

     
  2. Christoph Wolf

    2022/01/28 at 20:53

    Guter Text zu einem guten Film. Merci!

     

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