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Chopper – Kult-Gangster und Labertasche

11 Jul

Chopper

Von Andreas Eckenfels

Thrillerdrama // Ich bin ein völlig normaler Typ. Ein normaler Typ, der ein bisschen auf Folter steht.

In Australien ist er eine Legende: Schwerverbrecher Mark Brandon Reed (1954–2013), genannt „Chopper“. Seit seinem 16. Lebensjahr saß er immer wieder im Knast. Mord, Raub, Brandstiftung, Entführung, schwere Körperverletzung – gern misshandelte er seine Opfer, indem er ihnen mit einem Bolzenschneider die Zehen abschnitt. Zwischen seinem 20. und 38. Lebensjahr war Read lediglich 13 Monate in Freiheit. In den Zeitungen wurde über seine Taten ausführlich berichtet, die Prozesse fanden in den Medien große Aufmerksamkeit.
Hinter Gittern schrieb er mehrere halbbiografische Kriminalromane und sogar Kinderbücher, die zu Bestsellern avancierten.

So war es nicht verwunderlich, dass Regisseur Andrew Dominik im Jahr 2000 heftiger Gegenwind entgegenschlug, als er für sein Spielfilmdebüt ausgerechnet die Verfilmung von Reads erstem Roman „Chopper – From the Inside“ auswählte. Dominiks Mut wurde belohnt: „Chopper“ gewann weltweit zahlreiche Preise, darunter drei AFI Awards in seinem Heimatland, und gilt bis heute als Kultfilm – auch dank der gnadenlosen Performance seines damals noch unbekannten Hauptdarstellers Eric Bana („King Arthur – Legend of the Sword“).

Aus dem Knast, in den Knast

Mittels Texttafel macht Dominik gleich klar, dass es sich bei seinem Film um keine faktentreue Biografie handelt, sondern dass er sich für das Drehbuch einige erzählerische Freiheiten genommen hat. Ein Interview für das australische Fernsehen von 1991, in dem Eric Bana als Mark Read den eingangs zitierten Satz über sich selbst sagt, bildet die Rahmenhandlung von „Chopper“.

Mark „Chopper“ Read hat irre Spaß

1978 sitzt Read gerade im Pentridge-Gefängnis eine 16,5-jährige Haftstrafe ab, weil er versucht hatte, einen Richter zu entführen, um seinen Kumpel Jimmy Loughnan (Simon Lyndon) freizupressen. Als er von Keithy George (David Field), dem Anführer einer rivalisierenden Knastgang, provoziert wird, die imaginäre Grenzlinie ihres Territoriums nicht zu überschreiten, sticht er diesen kurzerhand ab. Am nächsten Tag ist George tot. Die Gang setzt sogleich ein Kopfgeld in Höhe von 10.000 australischen Dollar auf Read aus, weshalb Chopper gemeinsam mit Bluey Barnes (Dan Wyllie) und Jimmy einen Gegenschlag plant. Doch ausgerechnet der völlig überforderte Jimmy mutiert zum Verräter und sticht kurz darauf mit einem selbstgebauten Messer auf Chopper ein, der schwerverletzt auf die Krankenstation kommt. Um seine Tat wie Notwehr aussehen zu lassen, schlitzt Jimmy sich selbst in den Arm.

Chopper überlebt knapp. Da die Gefängnisleitung aus Sicherheitsgründen seinem Wunsch nach einer Verlegung nicht nachkommt, entscheidet er sich zu einem radikalen Schritt: Er lässt sich von einem Mitgefangenen einen Großteil beider Ohren abschneiden. Die Aktion hat Wirkung. Read kommt nun zwar nicht in ein anderes Gefängnis, verbleibt aber den Rest seiner Haftstrafe in einer Abteilung für Insassen mit psychischen Problemen.

Als Read 1986 entlassen wird, kommt er einige Zeit bei seiner Ex-Freundin Tanya (Kate Beahan) unter. Er leidet unter Paranoia, fühlt sich verfolgt, hat Angst um sein Leben. Dass Chopper ständig mit einstigen Weggefährten, – seien es sein Vater, alte Freunde oder frühere Opfer – aufeinandertrifft, macht die Lage nicht besser. Zudem arbeitet er für die Polizei als Informant und glaubt somit eine Art Freifahrtschein für gewalttätiges Verhalten zu haben. Es dauert nicht lange, bis die tickende Zeitbombe namens Chopper wieder mit einem lauten Knall hochgeht und er erneut im Knast landet.

Komplexe Charakterstudie

Andrew Dominiks knallhartes Debüt erinnert mehr an Nicolas Winding Refns „Bronson“ (2008) mit Tom Hardy als an Gangster-Action, wie es etwa die „Rise of the Footsoldier“-Reihe bietet. Mit „Chopper“ entwirft der 1967 in Neuseeland geborene Regisseur keine gradlinig erzählte Biografie, sein Film ist vielmehr eine Aneinanderreihung von Episoden aus Reads Leben von Ende der 1970er- bis Anfang der 1990er-Jahre, eine komplexe Charakterstudie, in der Fakten und Mythos eng miteinander verbunden sind.

In Freiheit leidet Chopper unter Paranoia

Ganz so artifiziell überdreht wie Refns Werk ist „Chopper“ nicht, dafür hat Dominik eine klare Farbdramaturgie und Struktur gewählt, um die unterschiedlichen Phasen von Reads Leben zu betonen. Die im echten Pentridge-Gefängnis gedrehten Knastszenen wirken bewusst monoton und steril, sind zudem in monochrome Farben getaucht. Für die Zeitspanne, wenn Read in Freiheit ist, wählte der Regisseur hingegen breit-strahlende, überbordende Neonlicht-Farben. Die Gewalt in „Chopper“ kommt meist schnell und völlig überraschend, jeder einzelne Einstich schmerzt und das blutgetränkte Leid der Opfer dauert lange und ist qualvoll mit anzusehen. Zynisch, mit viel bösartig-schwarzem Humor getränkt und alles andere als konventionell sind beide Gangster-Biografien.

Was ist wahr, was ist erfunden? Diese Frage könnte wahrscheinlich nicht mal Read persönlich beantworten. Denn schnell wird klar: Der Verbrecher ist kein vertrauenswürdiger Erzähler. Er ist eine echte Labertasche, redet ohne Punkt und Komma, prahlt mit seinen brutalen Taten. Selbst als Read von Kumpel Jimmy in die Brust gestochen wird, hat er noch einen Spruch auf Lager: Bisschen früh am Morgen für Kung-Fu, oder Jimmy? Die verstörend-offenen Worte aus dem Mund dieses bulligen, angsteinflößenden Typen, die er auch durchaus im Gerichtssaal von sich gab, machten Read zum gefundenen Fressen für die Medien und somit auch zu einer Art Berühmtheit, zumindest in Australien. 19 Morde soll er begangen haben. Gegen Ende seines Lebens, ruderte Read in einem Interview mit der New York Times aber zurück: Die Zahl sei maßlos übertrieben. Ich habe nicht so viele Menschen getötet. Es waren eher so vier oder sieben, je nach Sichtweise.

Vom Comedian zum Psychopathen

Nach seinem Auftritt als Neonazi in „Romper Stomper“ (1992) wäre Russell Crowe die erste Wahl für die Titelrolle gewesen. Doch der spätere Oscar-Preisträger war bereits in Hollywood tätig und musste keine kleinen Filme mehr in Down Under drehen. Auch Ben Mendelsohn („Ready Player One“) war ein Kandidat. Doch am Ende ging die Hauptrolle an einem Schauspieler, der sich bis dato besonders als Comedian einen Namen gemacht hatte (was mir vor der Arbeit an diesem Text nicht bekannt war): Eric Bana startete seine Karriere in der australischen Sketchshow „Full Frontal“ und hatte später sogar mit „Eric“ eine nach ihm benannte Show, in der er immer wieder in verschiedene Rollen schlüpfte.

Wie Tobias Hohmann, Autor des hervorragenden Mediabook-Textes der capelight-Veröffentlichung, schreibt, bestand Bana vor dem Dreh darauf, Mark Read persönlich zu treffen. 1998 hatte sich der Schwerverbrecher mehr oder weniger von seiner kriminellen Laufbahn verabschiedet und sich in Tasmanien niedergelassen. Dort verbrachten Bana und Dominik ein Wochenende mit dem rehabilitierten Straftäter. Szenen davon sind im Bonusmaterial zu finden. Banas Fazit: So vieles an seiner Figur war nur gespielt (…), aber dann gab es gelegentlich einen ruhigen Moment, in dem man das Ausmaß des Schmerzes, des Schadens und der Ernsthaftigkeit, die unter der Oberfläche lagen, erahnen konnte. Und genau diese Eigenart, die diesen charismatischen, aber unberechenbaren Charakter innewohnt, gelang Bana mit seiner großartigen Darbietung ambivalent einzufangen.

Nach jedem Mord und jeder Missetat, die Bana in seiner Rolle als „Chopper“ Read begeht, scheint er für einen kurzen Zeitraum innezuhalten, über seine Tat nachzudenken, fast könnte man meinen, er würde anfangen zu heulen. Doch einen Moment später ist jeder Anflug von Reue wie weggeblasen, dann ist er wieder ganz der alte Schuft, dem man weder nachts noch tagsüber auf der Straße begegnen will. Denn niemand weiß, wie dieser Psychopath tickt, weil er von jetzt auf gleich austicken kann – und keinerlei Furcht vor den Folgen seiner Taten zu haben scheint.

Chopper drückt ab

Bana hat sich nicht nur die Psyche, sondern auch die Physis von Read angeeignet. Anfangs in den Knastszenen noch jung und durchtrainiert, unterbrach Dominik in der Mitte die Dreharbeiten für knapp einen Monat. In dieser Zeit nahm Bana 15 Kilogramm zu und wurde so zu dem speckigen, Tattoo-bemalten Kerl mit Schnauzer im Gesicht und Grill auf den Zähnen, der jederzeit bedrohlich wirkt. Ein starker Auftritt.

Auf nach Hollywood

„Chopper“ sorgte auf nationalen und internationalen Filmfestivals für Furore. Hauptdarsteller Eric Bana und Regisseur Andrew Dominik schafften den Sprung nach Hollywood. Die Legende besagt, dass Russell Crowe „Gladiator“-Regisseur Ridley Scott seinen Landsmann Eric Bana empfahl, der ihn dann für „Black Hawk Down“ (2001) engagierte. Es folgte die Titelrolle in Ang Lees „Hulk“ (2003), er drehte mit Wolfgang Petersen „Troja“ (2004), Steven Spielbergs „München“ (2004) und zahlreiche Blockbuster mehr. Meist spielte er den Helden, nur wenige Bösewicht-Rollen wie als Romulaner Nero im „Star Trek“-Reboot aus dem Jahr 2009 sind in Banas Filmografie zu finden. Vielleicht hat er kein Interesse mehr daran, Schurken zu verkörpern, denn seine Leistung als Mark „Chopper“ Read kann er kaum überbieten. Seltsam nur, dass sich Bana seit „Chopper“ komplett aus dem Comedy-Genre zurückgezogen hat.

Andrew Dominik drehte nach seinem Debüt nur noch drei weitere Spielfilme: Das elegische Westerndrama „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“ (2007) mit Brad Pitt erhielt zwei Oscar-Nominierungen. 2012 folgte das Krimidrama „Killing Them Softly“, erneut mit Pitt. Kontrovers diskutiert wurde zuletzt sein Marylin-Monroe-Biopic „Blonde“ (2022), für das Hauptdarstellerin Ana de Armas zu Recht eine Oscar-Nominierung zugesprochen bekam. „Blonde“ erhielt aber auch acht Nominierungen für die Goldene Himbeere und gewann den Schmähpreis in den Kategorien „Schlechtester Film“ und „Schlechtestes Drehbuch“. Dominik verbindet eine enge Freundschaft mit dem Musiker Nick Cave. Mit ihm drehte er nicht nur mehrere Musikvideos, sondern auch die Dokus „One More Time with Feeling“ (2016) und „This Much I Know to Be True“ (2022).

Zu Besuch beim Schwerverbrecher

Mark „Chopper“ Read starb am 9. Oktober 2013 an Leberkrebs. Er wurde 58 Jahre alt. Die Bonusmaterialien der neu veröffentlichten Blu-ray und DVD von capelight pictures befanden sich bereits auf der lange vergriffenen DVD-Erstauflage von Legend Home Entertainment aus dem Jahr 2003. Beim Audiokommentar, den Read für den Film eingesprochen hat, und ebenso bei dem schon erwähnten Featurette, bei dem der Verbrecher in seinem Zuhause besucht wird, kann man sich ein gutes Bild davon machen, wie der Kriminelle sich in der Öffentlichkeit präsentiert hat und was viele Menschen an ihn fasziniert haben muss. Ob er im Kommentar oder dem Video-Clip wirklich die Wahrheit und nichts als die Wahrheit erzählt, kann wohl niemand abschließend klar beantworten. Dominiks „Chopper“ wird viele weitere Generationen begeistern und weiterhin zur Mythenbildung des australischen Kult-Gangsters beitragen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Andrew Dominik haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Eric Bana unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 24. März 2023 als 2-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (Blu-ray & DVD) und DVD, 7. Juli 2003 auf DVD

Länge: 94 Min. (Blu-ray), 90 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Chopper
AUS 2000
Regie: Andrew Dominik
Drehbuch: Andrew Dominik, nach dem Roman von Mark Brandon Read
Besetzung: Eric Bana, Simon Lyndon, David Field, Vince Colosimo, Dan Wyllie, Kate Beahan, Fred Barker, Caleb Cluff, Garry Waddell, Hilton Henderson, Kenny Graham
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Chopper Read, Audiokommentar von Regisseur Andrew Dominik, Ein Wochenende mit Chopper (16:18 Min.), Hinter den Kulissen (28:48 Min.), entfallene Szenen (12:13 Min.), Trailer, Trailershow, nur Mediabook: 24-seitiges Booklet mit einem Text von Tobias Hohmann
Label 2023: capelight pictures
Vertrieb 2023: Al!ve AG
Label 2003: Legend Home Entertainment
Vertrieb 2003: Universum Film

Copyright 2023 by Andreas Eckenfels

Szenenfotos & gruppierter-Packshot: © 2023 capelight pictures

 

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