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Brian De Palma (XIII): Spiel auf Zeit – Unbefleckte Weste in mörderischer Kloake?

15 Jan

Snake Eyes

Von Tonio Klein

Dieser Text ist nicht frei von Spoilern.

Thriller // „Pulp Fiction“? Wenn ein Mann, der zu viel wusste, Höhenangst bekommt und im Fegefeuer der Eitelkeiten zu verbrennen droht – und noch so vieles anderes. Regisseur Brian De Palma zitiert wieder einmal reichlich aus eigenem und fremdem Werk, bei Letzterem ist ihm immer noch Hitchcock die wichtigste Kraftquelle. Das wollte 1998 so gut wie niemand sehen. Schade! Denn De Palma ist nicht nur ein großer Stilist, sondern hat gerade in diesem Film auch die Kraft, eine ganz eigene, geschlossene Geschichte zu erzählen.

Was geschah wirklich in dieser einen Nacht?

Einheit der Zeit: „Spiel auf Zeit“ spielt in einer Nacht. Einheit des Ortes: eine Boxarena mit angeschlossenem Spielcasino in Atlantic City. Grell, künstlich. Hitchcock wollte einmal eine Verfolgungsjagd in Disneyland drehen, es wurde ihm von Disney verboten. De Palma kommt dem ein bisschen nahe; ebenso der gleichsam von Hitchcock stammenden Idee eines Telefonzellenthrillers, auch wenn der Ort eine reichlich große Telefonzelle ist. Abgeschlossen ist er aber. Abgeriegelt muss er auch sogleich werden, denn es geschieht ein Mord – der US-Verteidigungsminister Charles Kirkland (Joel Fabiani) fällt einem Attentat zum Opfer. Man lenke Menschen bei einer öffentlichen Veranstaltung ab und habe ganz viele „Zeugen“, die dann eben nichts statt alles bemerkt haben. Orte der Öffentlichkeit, die doch eigentlich den größten Schutz bieten sollen, werden zum Gegenteil. Hitchcocks Mord in der Royal Albert Hall in beiden Versionen von „Der Mann, der zuviel wusste“ (1934 und 1956) und der mutmaßliche Klau in „Gefährliche Flitterwochen“ (1943). Und jetzt De Palma. Wir sehen das Geschehen aus Sicht des ahnungslosen Bullen Nick Santoro (Nicolas Cage). Kein freundlicher Zeitgenosse, laut, lärmend, schrill gekleidet, offenbar hochgradig korrupt. Und kaum mit der nötigen Aufmerksamkeit bei der Sache.

Handys lenken ab!

Cage gibt mal wieder alles; hier passt es zur Rolle. In einer furiosen Kamerafahrt schlendert er durch die Halle, was optisch wie schauspielerisch stark an die Eröffnungssequenz von De Palmas „Fegefeuer der Eitelkeiten“ (1990) erinnert, wo Bruce Willis ähnlich agierte. Er hat dann aber nur die Hälfte mitbekommen, als ein Attentäter einen Politiker niedergestreckt hatte, und er muss sich den Rest zusammenreimen. Jetzt treffen sich Hitchcock, De Palma und Tarantino. Das riesige Auge der Fernsehkameras in der Boxhalle als Symbol; wir kennen das zum Beispiel von den „Vertigo“-Credits, aber eigentlich von fast allen Hitchcock- und De-Palma-Filmen. Voyeurismus als Thema, aber auch das Schauen als Mittel des Kontakts zum Kinozuschauer, als Technik des Filmemachers, die offengelegt wird. Wobei De Palma und Hitch natürlich immer alle Trümpfe in der Hand behalten; dies aber nicht immer sofort zugeben. Im Falle von „Spiel auf Zeit“ ist dafür ein Ort ideal, in dem es vor Fernseh- und Überwachungskameras nur so wimmelt. Alles eine Frage der Perspektive.

Aus einem Top Shot einer der Kameras ist erkennbar, dass der K. O. des Titelverteidigers Lincoln Tyler (Stan Shaw) simuliert war. Santoro wird ein optisches Puzzle logisch zusammensetzen müssen, so wie ein Kinozuschauer in einem (guten) Film. De Palma erzählt auch immer etwas über sein Medium selbst. Wenn Santoro dann zu Werke geht, sehen wir die vormaligen Lücken des Geschehens aus anderer Perspektive oder erstmals. Diese Tarantino-Wiederholungen und Zeitsprünge à la „Pulp Fiction“ waren damals sehr en vogue, aber De Palma hatte dies selbst schon früh in Split-Screen-Verfahren gemacht, zum Beispiel in „Sisters – Die Schwestern des Bösen“ (1973). Verwirrung und deren Aufklärung zugleich – im Bild wie bei Santoro. Er kommt dem Geheimnis zwar näher, ist aber schockiert und höchst irritiert von dem, was er herausfindet.

Kleider machen Leute, aber keine Seelen

Da gibt es für Santoro nur einen Weg: Er wird endlich aufrichtig. Recht bald kommt dann auch der Hitchcocksche Informationsvorsprung ins Spiel: Wir erfahren, dass der von Gary Sinise gespielte Securitychef Kevin Dunne ein Krimineller ist, der für den Mord verantwortlich ist. Er hatte dabei die Freundschaft Santoros gnadenlos ausgenutzt; denn dieser sah, was er sehen sollte, und angesichts seines völligen Mangels an Ehrgefühl würde er doch bestimmt Dunne helfen …

Der nützliche Idiot, der kein Idiot mehr sein will

Santoro entwickelt genau so eine verspielte Lust an der optischen Detektion, wie sie De Palma längst hat und auf uns Zuschauer überträgt. Dabei wird der Film moralisch ohne jeglichen Kitsch. Santoro bekommt irgendwann heraus, was seine Rolle sein soll. Als dermaßen verkommenes Subjekt eingeschätzt und als Schachfigur missbraucht zu werden, das schmerzt dann doch. Dass jemandem ohne sein Wissen eine Rolle in einem abgekarteten Spiel zugewiesen wird, dass diese Rolle mit dem Schauen zu tun hat, das kennen wir wieder einmal aus „Vertigo“. De Palma reichert dies mit einer über das Vorbild hinausgehenden psychologischen Geschichte an. Santoros Sinneswandel ist glaubwürdig, was bei einem wie ihm gar nicht einmal einfach zu schreiben und zu inszenieren ist.

Beschützer oder Schützen?

Eine geheimnisvolle Frau taucht auch noch auf: Julia Costello (Carla Gugino). Erkennbar eine Kunstfigur, ganz in Weiß gekleidet, weißblondes Haar, anscheinend eine Perücke. Hier sieht man einmal, wie virtuos De Palma mit den Farben spielt. Julia verbirgt etwas, wirkt aber nach außen „unschuldig“. Doch bald ist das schöne Kostüm blutbefleckt. Julia verliert ihre Unschuld, ihre Schutzhülle, ihre Perücke, darunter hat sie schwarzes Haar. Sie muss das Kostüm ablegen, eine Wunde verbinden, eine schwarze Bluse zum weißen Rock anlegen und versuchen, unerkannt zu entkommen. Vor allem verliert sie, was in einem De-Palma-Film immer besonders wichtig ist: einen Teil ihrer Sehkraft. Nachdem ihre Brille zertreten wurde, erfahren wir, dass diese wohl eine recht hohe Stärke gehabt haben musste. Halbblind und zerrissen zwischen Schwarz und Weiß macht sie sich hilflos auf den Weg. Jede Menge im Ruhigen spannende Verfolgungen zu Fuß, Versteckspiele, wobei De Palma durch Top Shots immer auch die Geografie oder besser Geometrie des Ortes einbezieht – Shots übrigens, wie wir sie unter anderem aus seinem „Blow Out – Der Tod löscht alle Spuren“ (1981) kennen.

Welche der beiden Frauen …

Übrigens auch bei den anderen Darstellern ein hübsches Spiel mit Farben: Der schrille Santoro als Hallodri, der dann aber das „Hawaiitouristenhemd“ durch ein weißes Hemd austauschen wird, eine weiße Weste bekommen wird. Der dunkel gekleidete Dunne als Wolf im Schafspelz. Die in Kleid wie Haarfarbe sündig rote Femme fatale Serena (Jayne Heitmeyer), eine Kunstfigur, sicherlich – aber eben passend, weil Schachfigur in dem bösen Krimiplot.

… reizt zum Hin-, welche zum Wegschauen?

Menschen sehen, was sie sehen wollen, und manche Menschen bekommt man dadurch genau dorthin, wo man sie haben will. Dunne seine Opfer, De Palma seine Zuschauerinnen und Zuschauer.

Die auf Blut gebaute Kunstwelt

Blut stört ab und an die klaren Farbgebungen und hat darüber hinaus eine moralische Konnotation. Fast schon ein Running Gag ist es, wenn immer wieder ein blutiger Geldschein auftaucht; die Metapher ist unübersehbar und wird so ziemlich alle Haupt- und Nebenfiguren in unterschiedlichen Situationen betreffen. Aber es ist immer dasselbe Geld. Bei der Moral hängt alles mit allem zusammen; sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Der Geldschein ist De Palmas roter Faden aus Blut („Der rote Faden aus Blut“ hieß übrigens einmal ein Buch über Tarantinos Erzählstrukturen – wie passend!). Auch Santoro wird bluten müssen; in einer Geschichte um Freundschaft und Verrat ausgerechnet durch die Schläge eines Mannes, zu dem er gerade meinte, ein Vertrauensverhältnis aufgebaut zu haben. Dies schmerzt doppelt; vielleicht ist deswegen Santoros Gesicht lange Zeit extrem zerschunden zu sehen. Aber so einer hat eben auch nichts mehr zu verlieren; gleichzeitig sieht er seine einzige physische und psychische Rettung darin, endgültig zu den Guten überzulaufen und für sie auch zu kämpfen. Dass er noch blutverschmiert (über FSK 12 ließe sich streiten) alles gibt, ist glaubwürdig, und so kann es zu einem dramatischen Finale kommen. Es ist sehr depalmaesk, Zeitlupe, das Aufeinanderzubewegen zweier Ereignisse, symbolisiert durch todbringende Gegenstände. Maximaler Suspense, weil nun dem Zuschauer die Gefahr nicht mehr verborgen ist. Wir kennen das aus De Palmas Finalszenen in „Dressed to Kill“ (1980) und „Mein Bruder Kain“ (1992). Vor allem bei Letzterem hatte De Palma das tödliche Zusammentreffen zweier Menschen durch das tödliche Sich-Nähern eines todbringenden Gegenstandes unterstützt. Dies setzt er nun auch hier virtuos ein.

Geplant war für das Finale noch ein gewaltiger Hurrikan, den das Budget nicht hergab, von dem aber noch Ansätze im Film vorhanden sind. Dieses Motiv zeigt, dass De Palma vielleicht mehr wollte: diese gesamte künstliche Amüsierhölle dem Erdboden gleichmachen. Er war schon vorher sehr genau im Ablichten dieser Sport- und Casinowelt, bei der die Kamera nie in ein identifizierbares Äußeres dringt. Er zeigt die Grelle, die Geografie, die künstlichen Farben in der Hotelanlage mit den Top Shots, die schleimigen Besucher, die sich hier leichte Mädchen angeln und zocken wollen.

„Ich weiß, was du im Ring getan hast.“

Brian De Palma ist ein genauer Beobachter und er scheint diesen Ort nicht wahnsinnig zu mögen. „Das ist doch ’ne Kloake“, so Dunne. „Aber es ist meine Kloake“, so Santoro freudig, doch da ist er noch vor seinem Sinneswandel. Am Ende sehen wir dann erstmals Atlantic City von außen, bei Tag, fast zu friedlich, um wahr zu sein. Aber dass diese Häuser auf der Sünde gebaut sind, daran lässt De Palma keinen Zweifel – um diese zu erblicken, bitte den gesamten Abspann ansehen! Fazit: ein unterschätzter Thriller, was allein schon das Fehlen einer deutschen Neuveröffentlichung seit der 2002er-DVD belegt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Brian De Palma haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Carla Gugino unter Schauspielerinnen, Filme mit Nicolas Cage, Kevin Dunn, Luis Guzmán, John Heard und Gary Sinise in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 11. Juli 2002 als DVD

Länge: 95 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: Snake Eyes
USA 1998
Regie: Brian De Palma
Drehbuch: David Koepp
Besetzung: Nicolas Cage, Gary Sinise, John Heard, Carla Gugino, Stan Shaw, Kevin Dunn, Jayne Heitmeyer, Michael Rispoli, Joel Fabiani, Luis Guzmán, David Anthony Higgins, Mike Starr, Tamara Tunie, Chip Zien
Zusatzmaterial: keins
Label/Vertrieb: Touchstone / Buena Vista

Copyright 2024 by Tonio Klein

Unterer Packshot: © 2002 Touchstone / Buena Vista

 

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