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Mad God – Mit Stop-Motion in die tiefsten Abgründe

19 Jun

Mad God

Von Volker Schönenberger

Puppentrick-Horror-Fantasy // Phil Tippett (* 1951) gilt im Bereich visueller Spezialeffekte als einer der Wegbereiter moderner Stop-Motion– und insbesondere der Go-Motion-Technik. Er stieß Mitte der 1970er-Jahre zu George Lucas’ Effektschmiede Industrial Light & Magic und war bei „Star Wars: Episode IV – Eine neue Hoffnung“ (1977) für eine holografische Schachspielszene zuständig, die er mittels Stop-Motion verwirklichte. Ein schönes kleines Detail des Films, wenn ihr euch erinnert.

Vom Schöpfer der AT-ATs

Go-Motion führt zu Bewegungsunschärfe und reduziert auf diese Weise die für reine Stop-Motion typische ruckartige Wirkung der Animationen. Tippett setzte sie erstmals für „Star Wars: Episode V – Das Imperium schlägt zurück“ (1980) ein – die imperialen Läufer (AT-AT) und Luke Skywalkers Reittier Tauntaun auf dem Eisplaneten Hoth entstanden auf diese Weise. Für „Der Drachentöter“ (1981) erhielt er 1982 seine erste Oscarnominierung für visuelle Effekte. Diese Oscar-Kategorie wurde 1984 nicht vergeben, weshalb Tippett für die visuellen Effekte von „Star Wars: Episode VI – Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ (1983) 1984 gemeinsam mit drei Kollegen mit einem „Special Achievement Award“ geehrt wurde. Ebenfalls mit drei Kollegen – darunter Stan Winston – gewann er 1994 den „regulären“ Oscar für die visuellen Effekte von Steven Spielbergs „Jurassic Park“.

Der Attentäter trifft ein

Bereits um 1990 herum hatte Tippett mit der Arbeit an „Mad God“ begonnen, doch während der Arbeit an „Jurassic Park“ legte er das Projekt auf Eis, wo es 20 Jahre lang vor sich hindämmerte (Quelle: „Bloody Disgusting“). Nachdem er es wieder hervorgeholt hatte, veröffentlichte er zwischen 2014 und 2018 drei Abschnitte daraus als Kurzfilme, zum Teil mittels Crowdfunding finanziert (Quelle: „Empire“). Nach Fertigstellung des Langfilms feierte „Mad God“ Anfang August 2021 beim Internationalen Filmfestival von Locarno (Schweiz) seine Weltpremiere, ging im Anschluss auf ausgiebige Festivaltour und landete im selben Monat unter anderem beim Internationalen Filmfestival von Oldenburg, beim Fantastic Fest im texanischen Austin und im Oktober beim Internationalen Festival des fantastischen Films im katalanischen Sitges.

Gottes Zorn kommt über uns

If you disobey me and remain hostile to me, I will act against you in wrathful hostility. I for my part, will discipline you sevenfold for your sins. You shall eat the flesh of your sons and the flesh of your daughters. I will destroy your cult places and cut down your incense stands. – Wenn ihr mir nicht gehorcht und mir gegenüber feindselig bleibt, werde ich mit zorniger Feindesligkeit gegen euch vorgehen.Ich für meinen Teil werde euch für eure Sünden siebenfach bestrafen. Ihr sollt das Fleisch eurer Söhne und das Fleisch eurer Töchter essen. Ich werde eure Kultstätten zerstören und eure Weihrauchstände abreißen.

And I will heap your carcasses upon your lifeless idols. I will spur you. I will lay your cities in ruin and make your sanctuaries desolate and I will not savor your pleasing odore. I will make the land desolate, so that your enemies who settle it shall be appalled by it. – Und ich werde eure Kadaver über euren leblosen Götzenbildern anhäufen. Ich werde euch verschmähen. Ich werde eure Städte in Trümmer legen und eure Heiligtümer verwüsten und ich werde eure angenehmen Düfte nicht genießen. Ich werde das Land verwüsten, sodass eure Feinde, die es besiedeln, darüber entsetzt sein werden.

And you will scatter among the nations and I will unsheath the sword against you. Your land shall become a desolation and your cities a ruin. – Und ihr werdet euch unter die Völker zerstreuen, und ich werde das Schwert gegen euch erheben. Euer Land soll zur Wüste werden und eure Städte zu Ruinen.

Mit der Einblendung dieses Bibelzitats (Levitikus, Kapitel 26, ab Vers 18) beginnt „Mad God“.

Anschließend senkt sich eine Art Taucherglocke in eine finstere Unterwelt hinab, beschossen von Flakgeschützen. Am Boden entsteigt ihr eine hochgewachsene Gestalt in Gummistiefeln mit Hut, Gasmaske und Handkoffer nebst Landkarte (die Figur wird namenlos bleiben, im Abspann wird sie als „Assassin“ geführt werden). Der Neuankömmling gerät in ein an Trostlosigkeit und Düsternis kaum zu überbietendes Territorium mit Fabrik- und Förderanlagen, das von grotesken Kreaturen bevölkert wird, die teils wie Mutanten wirken. Das Leben ist hier nicht viel wert.

In der Düsternis …

Irgendwann scheint der Assassine sein Ziel erreicht zu haben. Vor ihm tut sich ein Berg von Koffern auf, dem seinen ähnlich. Diesen öffnet er nun, zum Vorschein kommt eine Zeitbombe, die er in Gang setzt …

Dantes Inferno im Industriezeitalter

Drehbuchautor und Regisseur Phil Tippett hat eine Welt ersonnen, die wie Dantes Inferno im industrialisierten Zeitalter anmutet. Es ist ein Ort, an welchem man sich nur in das dunkelste Loch verkriechen möchte, um sich dort der Gnade der Vergessenheit anheimzugeben. Elend, Folter, Tod und Körperflüssigkeiten sind allgegenwärtig. Für uns Zuschauerinnen und Zuschauer bietet das „Mad God“-Universum einen mit liebevoll gestalteten Details überbordenden Ideenreichtum, der Tippetts Arbeit für wiederholte Sichtungen prädestiniert. Dann lassen sich vielleicht noch mehr Metaphern und Anspielungen/Zitate finden. Solche wie die dunklen Quader, die uns gegen Ende um die Ohren fliegen und mich ungemein an den schwarzen Monolithen in Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) erinnert haben. Was mag ich alles übersehen haben? Ein Hang zum Morbiden hilft jedenfalls ungemein, den Filmgenuss zu erhöhen. Der apokalyptische Bilderrausch ist angetan, Sogwirkung zu entfalten. Was würde wohl Stop-Motion-Pionier Ray Harryhausen (1920–2013) zu „Mad God“ sagen? Mein Tipp: Er wäre gleichzeitig begeistert und verstört.

… tummeln sich …

Zwischendurch verlässt das Werk die reine Puppentrick-Animation und wartet mit ein paar Live-Action-Sequenzen auf, etwa mit einem Chirurgen (Satish Ratakonda) und einer Krankenschwester (Niketa Roman). Das führt zu einem gewissen Bruch, der auch nicht angetan ist, Klarheit ins Geschehen zu bringen, aber auf eine verquere Weise passt auch das ins Gesamtbild. Die Deutung gestaltet sich insofern schwierig, als „Mad God“ komplett auf Dialoge verzichtet. Mit Ausnahme der oben von mir zitierten Texteinblendung aus der Bibel enthält das Werk keine verständliche Sprache, die uns bei der Entschlüsselung der Story helfen könnte. Halten wir uns also daran und an den Titel: Ist’s ein wahnsinniger Gott, der seinen gerechten (na ja) Zorn über die Welt ausschüttet, obwohl er doch diese Welt erschaffen hat?

Wertige Special Edition von Plaion Pictures

Plaion Pictures hat „Mad God“ in einem Special Edition Digipack im Schuber veröffentlicht. Das Endprodukt liegt mir leider nicht vor, dürfte aber dem üblichen hohen Standard des Labels entsprechen. Der Film ist auf Blu-ray und DVD enthalten, auf beiden Scheiben finden sich bereits wertige Boni, etwa drei Kurzfilme, darunter Phil Tippetts knapp zehnminütiger Erstling „Prehistoric Beast“ von 1985 um eine Begegnung in der Ära der Dinosaurier und ein paar historisch anmutende Aufnahmen – immerhin mehr als 17 Minuten – mit frühen Animationsversuchen des Effektmeisters. Sehr interessant sind auch die sechseinhalb Minuten, in denen Tippett über seine Inspirationen spricht. Auf der mir nicht vorliegenden Bonus-Blu-ray finden sich zudem zwei spielfilmlange Dokumentationen plus elfeinhalb Minuten mit entfernten Szenen. Ein 60-seitiges Buch, ein 40-seitiges Booklet und ein Poster runden die Veröffentlichung ab.

Ungemein beeindruckend, wie konsequent und unbeirrt Phil Tippett seiner gestalterischen Vision folgt, ohne sich um narrative Konventionen zu scheren. Manch eine/n Filmgucker/in wird das verschrecken, vielleicht gar bis zum vorzeitigen Ausstieg des unter der Anderthalbstundenmarke bleibenden Films. Lasst euch gesagt sein: Tut es nicht, ihr verpasst etwas! „Mad God“ sucht seinesgleichen.

… fremdartige Kreaturen

Veröffentlichung: 23. Mai 2024 als 3-Disc Special Edition Digipack im Schuber (2 Blu-rays & DVD)

Länge: 84 Min. (Blu-ray), 80 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Englisch (Texteinblendung zu Beginn)
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Mad God
USA 2021
Regie: Phil Tippett
Drehbuch: Phil Tippett
Besetzung: Alex Cox, Satish Ratakonda, Niketa Roman
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Phil Tippett und Guillermo Del Toro, Audiokommentar von Cast & Crew, „Maya Tippett’s The Making of Mad God“ (10:20 Min.), Inspirationen (6:30 Min.), Interview mit Phil Tippett (4:39 Min.), Featurette „Academy of Art University & Mad God“ (5:15 Min.), „Maya Tippett’s Worse Than the Demon“ (12:34 Min.), Kurzfilme „Early Animation Tests“ (17:38 Min.), „Prehistoric Beast“ (9:50 Min.) und „Mutant Land“ (3:20 Min.), Doku „Phil Tippett – Meister der fantastischen Kreaturen“ (80:36 Min.), Making-of (99:58 Min.), entfernte Szenen (11:37 Min.), Fotogalerie (9:20 Min.), 60-seitiges Buch, 40-seitiges Booklet, 3 Poster
Label/Vertrieb: Plaion Pictures

Copyright 2024 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshots: © 2024 Plaion Pictures

 

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