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Der Hauptmann: Kleider machen Leute – und Massenmörder

11 Sept

Der Hauptmann

Von Volker Schönenberger

Kriegsdrama // Im April 1945 neigt sich der Zweite Weltkrieg auf deutschem Boden dem Ende zu. Eine Schar Wehrmachtssoldaten jagt einen der ihren durch Wald und Flur. Doch sie haben getrunken, ihre Kugeln verfehlen das Ziel. Es gelingt dem Deserteur Willi Herold (Max Hubacher), seinen Häschern zu entkommen. Mehr schlecht als recht und unzureichend bekleidet schlägt er sich ein paar Tage durch, bis er in einem verlassenen Auto Ausrüstung, Proviant und eine Hauptmanns-Uniform findet. Das Überziehen der höherrangigen Tracht wirkt umgehend: Der versprengte Gefreite – oder ebenfalls Deserteur – Walter Freytag (Milan Peschel) hält Herold für einen echten Hauptmann und bittet darum, sich ihm unterstellen zu dürfen. In einem Dorfgasthof behauptet Herold dreist, Plünderungen durch Deserteure protokollieren zu wollen, damit die Geschädigten später Schadenersatz erhalten. Das nötigt ihn kurz darauf, einen Deserteur zu erschießen, eine Aufgabe, die der falsche Hauptmann kaltblütig erledigt. Bald schließen sich ihm weitere desertierte oder von ihren Einheiten getrennte Soldaten an, darunter der Gefreite Kipinski (Frederick Lau). Schließlich erreicht der kleine Trupp ein Strafgefangenenlager. Auch dort zieht Herold seine Nummer durch – immerhin hat er Einsatzbefehl und Befugnisse „vom Führer persönlich“ erhalten …

Auf Menschenjagd – aber vergeblich

Der deutsche Drehbuchautor und Regisseur Robert Schwentke („R.E.D. – Älter, Härter, Besser“, 2010) hat es riskiert, „Der Hauptmann“ im vermeintlich altmodischen Schwarz-Weiß zu inszenieren. Er tat gut daran, hätten einige der blutigen Szenen das Werk für manche Filmgucker doch womöglich als Splatter-Exzess in Exploitation-Gefilden verortet. Und dort gehört es beileibe nicht hin. Der Verzicht auf Farbe hält uns auch ein wenig auf Distanz – zu nah will man dem bitteren Geschehen auch nicht kommen, es wirkt auch so tief genug nach. Die Gewaltszenen sind schonungslos, auch wenn Schwentke seinen Kameramann Florian Ballhaus nicht ganz draufhalten lässt. Aber wenn ein schweres Maschinengewehr voll auf einen in einer Grube stehenden Haufen Todgeweihter hält, wissen wir auch so, dass das, was da hochspritzt, nicht nur Sand ist. Beim internationalen Filmfestival von San Sebastián gab’s 2017 für den Sohn von Kamera-Legende Michael Ballhaus den Preis für die beste Kamera.

Gebt mir eine Uniform!

Wir haben es mit einem ernsthaften und erschütternden Kriegsdrama zu tun, das einen Blick auf Mechanismen von Machtausübung wirft. Wenn das Überwerfen einer Uniform seinem Träger sogleich die Macht über Leben und Tod verleiht, hat das zwar im in den letzten Zügen liegenden „Dritten Reich“ viel mit der langen militaristischen Tradition Deutschlands und Preußens zu tun, es zeigt aber auch, wie leicht wir unter verschiedenen Deckmänteln agierenden Rattenfängern auf den Leim gehen können.

Willi Herold übernimmt das Kommando

Max Hubacher („Mario“) spielt Willi Herold eiskalt und skrupellos. Am Ende redet er sich sogar noch vor dem deutschen Militärgericht heraus. Für die Gewissensbisse ist der von Milan Peschel („Gundermann“) verkörperte Gefreite Freytag zuständig, während der von Frederick Lau („Victoria“) gespielte Gefreite Kipinski die Gelegenheit nutzt, richtig aufzudrehen. Das gesamte Ensemble passt vorzüglich.

Der Hauptmann von Köpenick war uns lieber

„Der Hauptmann“ zeigt eine Köpenickiade der grausamen Art. Und ebenso wie den Schuster Friedrich Wilhelm Voigt, der als Hauptmann von Köpenick Berühmtheit erlangte, hat es Willi Herold tatsächlich gegeben: Der im September 1925 geborene Schornsteinfegerlehrling war 1943 zum Wehrdienst eingezogen und im Krieg in Italien eingesetzt worden. Seine im Film gezeigten Gräueltaten an der Heimatfront sind belegt, sie lassen in ihrer Kaltschnäuzigkeit frösteln, zumal Herold nicht als überzeugter Nazi galt. Er starb am 14. November 1946 mit einigen Spießgesellen als Kriegsverbrecher unter dem Fallbeil. Seine Taten sind bereits 1998 im Dokumentarfilm „Der Hauptmann von Muffrika – Eine mörderische Köpenickade“ aufgearbeitet worden. Zur Lektüre sei „Der Henker vom Emsland – Dokumentation einer Barbarei am Ende des Krieges 1945“ von T. X. H. Pantcheff empfohlen, erschienen 1995.

Der Gefreite Kipinski mischt eifrig mit

Robert Schwentke machte erstmals 2002 mit dem düsteren Thriller „Tattoo“ auf sich aufmerksam – auch in Hollywood bemerkte man sein Talent, bald durfte er sich in der Traumfabrik verdingen. Dort schlug er sich mal besser („Flightplan – Ohne jede Spur“, 2005), mal schlechter („R.I.P.D.“, 2013). Nach „Die Bestimmung – Insurgent“ (2015) und „Die Bestimmung – Allegiant“ (2016) zog es ihn für „Der Hauptmann“ zurück in seine Heimat. Gut so!

Das Schnellgericht Herold sucht Görlitz heim

Mit zehn anderen Filmen war „Der Hauptmann“ in der Auswahl, für Deutschland ins Rennen um den Oscar 2019 als bester fremdsprachiger Film zu gehen, kürzlich wurde dann aber „Werk ohne Autor“ von Florian Henckel von Donnersmarck ausgewählt. Sicher ebenfalls ein herausragender Film, und an der Klasse von Robert Schwentkes Regiearbeit ändert die Nichtnominierung nichts. Wenn der Regisseur seine Hauptfiguren im Abspann im alten Militärfahrzeug mit der Aufschrift „Schnellgericht Herold“ durch die Straßen des modernen Görlitz fahren und Passanten drangsalieren lässt, schlägt er damit einen zwar plakativen, aber wirkungsvollen Bogen ins Hier und Heute. Deutschland mag keine militaristische Nation mehr sein, aber dass sich auch unter unserer demokratisch-freiheitlichen Grundordnung manipulative Wortführer und viele manipulierbare Menschen tummeln, ist nicht zu bestreiten. Robert Schwentke hat im Interview geäußert, mit diesen Szenen auch das Wirken/Wüten des sogenannten Islamischen Staats (IS) in Timbuktu 2012 und Ereignisse in Sarajevo während des Bosnienkriegs 1992 bis 1995 kommentiert zu haben. Er bezieht das allerdings auch auf die Situation in Deutschland, wie er weiter ausführte: Mir ist wichtig, dass die Leute verstehen, dass am Anfang aller Massaker eine verschärfte Rhetorik steht – erst kommen die brutalen Worte, dann die brutalen Taten. Und im Augenblick ist die Rhetorik in der Bundesrepublik wieder scharf. Das muss man stringenter bekämpfen, das darf sich nicht normalisieren. „Der Hauptmann“ mag sich an einem historischen Thema abarbeiten, welches für viele nur in einer fernen Vergangenheit liegt. Das Kriegsdrama berührt dennoch ganz aktuelle Befindlichkeiten. Die Täter sind schon wieder auf den Straßen. Ein wichtiger Film, der viel Aufmerksamkeit verdient hat.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Robert Schwentke haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Frederick Lau unter Schauspieler. Einen lesenswerten Text zu „Der Hauptmann“ hat auch Christoph auf dem „Fluxkompensator“ veröffentlicht.

„Hauptmann“ Herold und sein zusammengewürfelter Trupp

Veröffentlichung: 7. September 2018 als Blu-ray und DVD

Länge: 119 Min. (Blu-ray), 115 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, auch mit Audiodeskription für Sehbehinderte
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Der Hauptmann
Internationaler Titel: The Captain
D/POL/POR/F 2017
Regie: Robert Schwentke
Drehbuch: Robert Schwentke
Besetzung: Max Hubacher, Milan Peschel, Frederick Lau, Waldemar Kobus, Alexander Fehling, Samuel Finzi, Wolfram Koch, Britta Hammelstein
Zusatzmaterial: Interviews mit den Darstellern Max Hubacher, Frederick Lau und Milan Peschel sowie Produzent Frieder Schlaich, Hinter den Kulissen („Die Flucht“, 7:52, „Das Versteck“, 8:59), Storyboard-Film-Vergleich (3:45), Featurette „Die Entstehung der Wurzel“ (4:45), unveröffentlichte Szene, Soundtrack-Video, Trailer, Trailershow, Wendecover
Label/Vertrieb: Universum Film

Copyright 2018 by Volker Schönenberger
Fotos & Packshot: © 2018 Universum Film

 
 

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2 Antworten zu “Der Hauptmann: Kleider machen Leute – und Massenmörder

  1. Filmkürbis

    2018/09/11 at 06:52

    Den wollte ich im Kino sehen, habe ihn aber leider verpasst. Wird sicherlich mal nachgeholt. Danke für diese tolle Kritik.

     
    • V. Beautifulmountain

      2018/09/11 at 07:11

      Gern geschehen. Ich danke fürs Lob. Im Kino hatte ich ihn auch verpasst, am Tag der Hamburger Pressevorführung keine Zeit gehabt, später regulär nicht dazu gekommen.

       

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