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Billy Wilder (IX): Zeugin der Anklage – Blicke und Beziehungen

03 Aug

Witness for the Prosecution

Von Lars Johansen

Gerichtsdrama // Ich mag Gerichtsfilme sehr. Sie waren, zusammen mit einigen Fernsehserien wie „Petrocelli“ (1974–1976) der Grund dafür, dass ich als Heranwachsender eigentlich Jura studieren wollte, um dann in großen Prozessen vor einem Geschworengericht am Ende das alles entscheidende Plädoyer zu halten und unter dem Jubel der Massen die Angeklagten von den Vorwürfen zu entlasten. Nun gibt es in Deutschland kaum Geschworenengerichte und so blieb es eine Idee. Außerdem haben wir es bei Billy Wilders 1957er-Regiearbeit mit einem durchaus doppelbödigen Drama zu tun. Ich werde versuchen, Spoiler zu vermeiden oder vorher darauf hinzuweisen, aber den meisten dürfte das Ende bekannt sein. Denn „Zeugin der Anklage“ ist ein Klassiker. Und es zeigt die Meisterschaft eines Regisseurs, der in jenen Tagen einen erfolgreichen Film nach dem anderen drehte. Ob Komödie oder Thriller, Alkoholikerdrama oder Film noir, Wilder war in einer Menge Genres zuhause. Und wenn ich den Film hier ein Drama nenne, dann ist das natürlich nicht ganz richtig, denn dahinter lauern Abgründe der Komik und so ist er auch eine überaus böse Komödie.

Sir Wilfrid und seine Nemesis

Es beginnt in einem Gerichtssaal und es endet in einem. Das, was man im englischen Sprachraum so schön als Courtroom Drama bezeichnet, hat eigentlich keine deutsche Entsprechung. In den USA wurde es als Genre in den 50er-Jahren populär. Und Billy Wilders Film war 1957 einer der ersten erfolgreichen Filme dieses Genres. Im gleichen Jahr war noch Sidney Lumets Klassiker „Die 12 Geschworenen“ ins Kino gekommen, der genau wie „Zeugin der Anklage“ auf einem Theaterstück basierte. Wilder hatte das Glück, dass die Vorlage zu seinem Film von Agatha Christie stammte, die sich im übrigen hochzufrieden mit dieser Verfilmung zeigte. Wilder wiederum nannte Christie eine hervorragende Plot-Künstlerin, die leider etwas flach schreiben würde. Als Gegenbeispiel zog er Raymond Chandler heran, der exzellent schreiben konnte, aber in der Konstruktion seiner Geschichten nicht gerade ein Genie gewesen sei. Es gibt ja die berühmte Anekdote, dass Howard Hawks Chandler während der Dreharbeiten zu „Tote schlafen fest“ (1946) angerufen und gefragt habe, wer denn nun den Chauffeur erschossen habe. Und Chandler wusste es selbst nicht. Das wäre Agatha Christie gewiss nicht passiert. Und Wilder hätte sicher nicht angerufen, sondern selbst eine Lösung konstruiert, so wie sich sein Drehbuch doch ein Stück von der Vorlage entfernt, was die Details betrifft.

Das Anwaltsteam formiert sich

Worum geht es überhaupt? Der bekannte Rechtsanwalt Sir Wilfrid Robarts (Charles Laughton) kommt aus dem Krankenhaus, wo er wegen schwerer Herzprobleme behandelt wurde, in seine Kanzlei zurück. Er wird von der Krankenschwester Miss Plimsoll (Elsa Lanchester) begleitet. Kurz darauf besucht ihn der Anwalt Mr. Mayhew (Henry Darnell), der einen scheinbar aussichtslosen Fall für ihn hat. Der freundliche, scheinbar naive Leonard Vole (Tyrone Power) soll die reiche Witwe Emily French (Norma Varden) getötet haben. Robarts lehnt ab, doch dann kommt Voles Gattin, die mondäne Christine (Marlene Dietrich) in sein Büro und er ändert seine Meinung. Im Lauf des Prozesses taucht Christine Vole aber auf einmal als Zeugin der Anklage auf und erschüttert das Alibi des Angeklagten, dessen Schuld nun klar bewiesen zu sein scheint. Da meldet sich eine seltsame Frau bei Sir Wilfrid und überlässt ihm gegen eine kleine Summe Geldes Briefe der Ehefrau, die ihre Aussage in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Sir Wilfrid setzt zu seinem großen Schlussplädoyer an.

Erinnerungen an Hamburg

Im Mittelpunkt des Films stehen vor allem zwei Personen: Charles Laughton und Marlene Dietrich. Die Dietrich hatte das Theaterstück Wilder mit der Maßgabe übergeben, dass sie unter seiner Regie die Hauptrolle spielen wolle. Und Laughton spielte sie. Wilder hat einmal gesagt, dass er, wenn er diesen Film noch einmal drehen könnte, alle Rollen von Charles Laughton spielen lassen würde. Er ist der Dreh- und Angelpunkt des Films und spielt grandios. Wenn er mit seinem Monokel das Sonnenlicht in die Augen seiner Gesprächspartner lenkt und sie geblendet nervös werden, das ist präzise inszeniert und gespielt. Und wenn Marlene Dietrich in dem Moment, als er es bei ihr versucht, den Raum verdunkelt, das ist mindestens ebenso präzise, denn auch sie zeigt, dass sie eine wirklich gute Schauspielerin ist. Das Timing ist wie bei einer Komödie und es gibt durchaus Parallelen zu dem zwei Jahre später entstandenen „Manche mögen’s heiß“ (1959).

Der folgende Absatz enthält Spoiler

Denn die geheimnisvolle Frau mit den Briefen ist, fast wie in einer Travestienummer, ebenfalls Marlene Dietrich, die durch Maske und Spiel nicht zu erkennen ist. Das zeigt noch einmal, dass man sie als Schauspielerin, die natürlich hier auch eine Schauspielerin spielt, also im Spiel noch einmal spielt (es ist nicht unkompliziert), nicht unterschätzen sollte. Als sie es am Ende Sir Wilfrid enthüllt, ist dieser völlig überrascht, denn er weiß jetzt, dass er einem Mörder die Freiheit verschafft hat. Aber er besteht darauf, dass es immer eine ausgleichende Gerechtigkeit gebe, welche tatsächlich am Ende beinahe wie in einem antiken Drama in Kraft tritt. Denn Vole will seine Ehefrau loswerden, er hat eine Jüngere und sie, die alles für ihn auf sich genommen hat und vermutlich mit einer längeren Haftstrafe für ihren Meineid rechnen muss, tötet nun mit dem Messer, einem Beweisstück aus dem Prozess, ihren untreuen Gatten. Doch, und das ist Wilder, sie tut es nicht aus eigenem Willen, denn das Monokel von Sir Wilfrid wirft in diesem Moment das Sonnenlicht auf die Tatwaffe, so dass es beinahe so wirkt, als hätte er diese Affekttat motiviert. Das ist grandios mehrdeutig inszeniert und zeigt noch einmal Wilders Kunstfertigkeit. Und natürlich wird Sir Wilfrid nun auch in dem sich anschließenden Prozess ihre Verteidigung übernehmen.

Blickrichtungen

„Zeugin der Anklage“ wird oft und gern Alfred Hitchcock zugeschrieben, weil er dessen Themen aufnehmen würde. Aber je genauer man hinschaut, desto weniger Hitchcock ist in dem Film zu sehen. Der hatte „Die rote Lola“ (1950) mit Marlene Dietrich gedreht, die auch dort grandios spielte und sang. Trotzdem war dem Film kein großer Erfolg beschieden, unter anderem deshalb, weil sich eine Rückblende vom Anfang am Ende als Lüge entpuppte. Übrigens singt die Dietrich auch in „Zeugin der Anklage“, und zwar „I May Never Go Home Anymore“, das man unschwer als „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ identifizieren kann, welches 1912 von Ralph Arthur Roberts geschrieben und komponiert wurde. Das passt auch nach Hamburg, wo diese Rückblende kurz nach Kriegsende spielt.

Zeugin der Anklage

Wilders Humor ist böser als der von Hitchcock und er ist sichtbar mehr an seinen Schauspielern interessiert. Außerdem verfilmt er sein eigenes Buch und Wilder versteht den Aufbau einer Geschichte wie kaum ein zweiter. Jedes Bild hat eine Bedeutung und wenn zum Beispiel das Gerichtsgebäude von außen gezeigt wird, dann ist die Statue der Justitia gerade eingerüstet, als sei hier im Moment keine echte Gerechtigkeit zu erwarten. Und doch gibt es diese am Schluss. Fast moralisch wird es am Ende. Aber eben auch nur fast. Denn gleichzeitig findet hier ein neues Paar zusammen.

Auch im nächsten Absatz lauern Spoiler

Das ist eine weitere Stärke des Films. Wir haben da zum einen das Paar Leonard Vole und Emily French, wobei letztere auch mit ihrer Haushältern Janet McKenzie (Una O’Connor) ein Paar bildet. Vole ist mit seiner Frau Christine, die möglicherweise gar nicht seine Gattin ist, ein Paar und am Ende dann mit Diana (Ruta Lee). Alle diese Paarungen sind sichtbar dysfunktional und müssen unglücklich enden. Sir Wilfrid hat immer einen anderen Anwalt an seiner Seite, was wohl dem englischen Rechtssystem geschuldet ist. Vor allem aber bildet er ein Paar mit Miss Plimsoll, welche von seiner Ehefrau Elsa Lanchester gespielt wird.

Präzedenzfälle

Die Ehe zwischen den beiden Schauspielern ist insofern bemerkenswert, als Laughton homosexuell war und daraus auch kein Hehl machte. Trotzdem hat die Beziehung funktioniert und das tut sie auch im Film. Miss Plimsoll verspürt ein diebische Vergnügen daran, den widerspenstigen Sir Wilfrid zu plagen. Sie kennt seine Tricks, die verbotenen Zigarren zu verstecken, und sie weiß auch, dass er den lauwarmen Kakao in seiner Thermoskanne durch Schnaps ersetzt hat. Aber sie lässt ihn bis zu einem gewissen Grad gewähren und spielt das Spiel mit. Denn ein solches ist es immer wieder, ihre kleinen Geplänkel sind wunderbare Miniaturen schauspielerischer Höhenflüge zweier Akteure, welche die Kunst der subtilen Komödie exzellent beherrschen. Und wenn sie am Ende als einziges Paar Arm in Arm den Gerichtssaal verlassen, dann vermutet man zu verstehen, wie ihre Beziehung im wirklichen Leben funktioniert haben könnte.

Zeugin der Verteidigung

Die Veröffentlichung von capelight pictures ist mehr als ordentlich geworden. Bild und Ton sind für einen Film aus dieser Zeit sehr gut, die Extras sind zielführend, auch wenn ich mir ein Hörbuch auf einer DVD nicht anhören mag, aber das ist reine Geschmackssache. Wilders zeitloses Meisterwerk wird hier adäquat umgesetzt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Billy Wilder haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Marlene Dietrich und Elsa Lanchester unter Schauspielerinnen, Filme mit Charles Laughton und Tyrone Power in der Rubrik Schauspieler. Zu Simon Kyprianous Rezension von „Zeugin der Anklage geht es hier. Alle als „Limited Collector’s Edition” von capelight pictures veröffentlichten Filme sind in unserer Rubrik Filmreihen zu finden.

Und Gerechtigkeit für alle

Veröffentlichung: 17. Juni 2022 als 2-Disc-Mediabook (Blu-ray & DVD) und DVD, 2. November 2018 und 7. Juli 2017 als Blu-ray, 24. November 2017 als Blu-ray im Digipack, 14. Februar 2014 als DVD

Länge: 116 Min. (Blu-ray), 112 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Witness for the Prosecution
USA 1957
Regie: Billy Wilder
Drehbuch: Billy Wilder, Harry Kurnitz
Besetzung: Charles Laughton, Marlene Dietrich, Tyrone Power, Elsa Lanchester, John Williams, Henry Daniell, Ian Wolfe, Francis Compton, Torin Thatcher, Norma Varden, Una O’Connor, Philip Tonge, Ruta Lee
Zusatzmaterial:Billy Wilder und Volker Schlöndorff im Gespräch über „Zeugin der Anklage“, Monokel und Zigarren: Simon Callow über Charles Laughton, Billy Wilder – Ein Leben (Argon Hörbiografie), Internationaler Kinotrailer, nur Mediabook: 24-seitiges Booklet
Label 2022: capelight pictures
Vertrieb 2022: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2018/2017: FilmConfect Home Entertainment
Label/Vertrieb 2014: MGM

Copyright 2022 by Lars Johansen

Szenenfotos & Packshots: © 2022 capelight pictures

 
 

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Eine Antwort zu “Billy Wilder (IX): Zeugin der Anklage – Blicke und Beziehungen

  1. Tonio Klein

    2022/08/03 at 07:15

    Ich hatte auch immer das Gefühl, dass der zu sehr Whodunit ist, um Hitch zu sein. Wobei ich nochmal „Paradin“ sehen sollte, das ist zu lange her, aber gibt es da nicht insoweit Parallelen, als jemand getäuscht wird, weil er glaubt und sieht, was er glauben und sehen WILL? Im Übrigen: Sehr schön, lieber Lars, und wir sollten mal an „Justiz & Gerechtigkeit“ als Schwerpunkt ran („Courtroom Drama“ wär mir zu eng, da es so tolle Filme gibt, die nie oder fast nie im Courtroom spielen, wie DER STARANWALT VON MANHATTAN, war wieder klar, dass ich den nenne, oder DIE 12 GESCHWORENEN).

     

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