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Sidney Lumet (XII) zum 100. Geburtstag: Die Göttliche – Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es!

25 Jun

Garbo Talks

Von Tonio Klein

Tragikomödie // „Du warst ja Kinderdarsteller – ich auch.“ Also sprach der Regisseur Sidney Lumet zu Ethan Hawke, Hauptdarsteller in seinem letztem Film „Tödliche Entscheidung“ (2007), wie das Bonusmaterial der Blu-ray zeigt. Bereits mit fünf Jahren stand Lumet auf der Bühne des Yiddish Art Theatre in New York City. Diese Stadt und seine jüdische Identität ziehen sich durch nahezu sein gesamtes filmisches Werk, wenngleich er nicht einmal in New York, sondern am 25. Juni 1924 in Philadelphia geboren wurde. Der Sohn polnischstämmiger Einwanderer wuchs aber in der Stadt, die nie schläft, auf, war augenscheinlich ebenfalls recht aufgeweckt und folgte seinen Eltern in das Theater, dem sie angehörten. Da er als Junge auch in einem Film mitspielte, kann man sich noch heute ein Bild machen. „…One Third of a Nation…“ (1939) ist ein weitgehend vergessenes, aber hervorragendes und für das Hollywood dieser Zeit ungewöhnliches Stück sozialkritischen Realismus über die prekäre Wohnsituation von Amerikanern aus dem Arbeitermilieu (vgl. „35 Millimeter“, Heft 52, Dezember 2023, hier bestellbar). Sozialkritik, (Recht und) Gerechtigkeit sowie das Theater sollten den in armen, aber künstlerisch aktiven Verhältnissen aufgewachsenen Lumet zeitlebens interessieren und sein Werk kennzeichnen.

Anfänge und Markenzeichen

Lumet landete nach dem Armeedienst beim Fernsehen, wo er ab 1950 eine schier unglaubliche Anzahl an Kurzfilmen inszenierte, die oft noch den Gesetzen dessen gehorchten, was man hierzulande gelegentlich „Fernsehspiel“ nennt: Die Aufzeichnung erfolgte live. „Wer beim Fernsehen ‚von der Pike auf gelernt‘ hat, hat meist nichts gelernt“, so zitiert Robert Zion („Rhonda Fleming“ – Erstausgabe 2020) Wolf-Eckart Bühler. Zumindest bei Lumet: Unsinn; wie viel hat der Mann gelernt! Die durch das Live-Format nötigen intensiven Proben bei anschließend nur einem Versuch haben ihn bis ins hohe Alter geprägt, sodass er auch im Kino lange proben ließ und anschließend mit nur wenigen Takes auskam. Zeitlebens wurde er als ausgesprochen präziser und ökonomischer Handwerker geschätzt. Das allein macht natürlich noch nicht einen großen Künstler aus, aber befähigte Lumet neben vielem anderen, gleich mit seinem Kinodebüt einen noch heute bekannten Klassiker zu landen: „Die 12 Geschworenen“ (1957) nach einem Theaterstück von Reginald Rose.

Er schrieb dann an nicht weniger als einem halben Jahrhundert US-amerikanischer Kinogeschichte mit, bei allen ästhetischen und inhaltlichen Veränderungen der dortigen Filmkultur. Angesichts von 43 Kinoregiearbeiten schuf er natürlich nicht nur Meisterwerke, diese aber in beachtlicher Zahl. Verließ er einmal sein geliebtes New York City und ging ins grelle L.A. wie im Thriller „Der Morgen danach“ (1986) oder ins ländliche Texas wie im Drama „Aus Liebe zu Molly“ (1974), entstanden nicht seine besten Filme. Wenngleich es Ausnahmen wie das britische Polizistendrama „Sein Leben in meiner Gewalt“ (1973) mit Sean Connery als wirklich kaputtem Ermittler gibt: Fast immer scheint Sidney Lumet sein New York zu brauchen wie von 1977 bis 2004 Woody Allen.

New York – wo sonst?

Er lässt sich aber nicht auf Themen und nicht einmal besonders gut auf Stile festlegen: Da ist ein gewisser Schwerpunkt bei Theateradaptionen einerseits und Polizei-/Justizdramen andererseits, aber es bleibt noch genug übrig, was durch dieses Raster fällt. Obwohl Lumet für einen genauen Blick und kompromisslose Aufrichtigkeit, gelegentlich auch Härte, steht, sei zur Würdigung ein Film herausgegriffen, den man wohl als Nebenwerk bezeichnen muss. Zwar ebenfalls mit dem Big Apple verwachsen, aber tragikomisch, warmherzig, nostalgisch. Ich liebe ihn und möchte meine Liebeserklärung so genau wie möglich mit guten Gründen versehen.

Und nun spricht die Garbo …

„Die Göttliche“ heißt im Original „Garbo Talks“ nach einem berühmten Werbespruch für „Anna Christie“ (1930), den ersten Tonfilm mit der damals schon legendären Dame. Ob sie wohl 1984 wieder oder noch sprechen wird? Eine andere Frau hat einen Traum: Estelle Rolfe (Anne Bancroft), Mittfünfzigerin, geschieden, bis heute nonkonformistisch und aus Sicht mancher etwas spinnert, erfährt, dass sich ein inoperabler Tumor in ihr breitgemacht hat. Mit der Aussicht auf ein baldiges Ableben lautet ihr letzter Wunsch, ihrem ewigen Idol zu begegnen – eben Greta Garbo. Wie sie sich ihre Chuzpe (ja, wir befinden uns, ohne dass es riesige Bedeutung hätte, wieder einmal unter Juden) nicht nehmen lässt, zeigt sich, wenn sie ihrem erwachsenen Sohn Gilbert (Ron Silver) und damit auch diesem Text widerspricht. „Letzter Wunsch? Ich habe noch so viele Wünsche, ich habe nur nicht mehr genug Zeit.“ Vor ihrer Krankenhaus-Einlieferung hatte sie sich bereits (Gilbert: „Schon wieder?“) wegen eines Ladendiebstahls aus absolut nachvollziehbaren Gerechtigkeitserwägungen verhaften lassen und sich auf ihre ganz eigene Art gegen sexuelle Belästigung eingesetzt: Als Bauarbeiter von oben einer jungen Frau hinterherpfiffen und einer sagte, die könne sich mal auf sein Gesicht setzen, nahm Estelle sogleich den Aufzug, ging mitten in die Gruppe und erklärte, dass sie in Vertretung der Gemeinten käme. Auf wem dürfe sie nun Platz nehmen?

Das Resolute scheint dem Sohnemann zu fehlen, einem grundsympathischen, mit einer Frau namens Lisa (Carrie Fisher) kinderlos verheirateten Buchhalter, der durch gleich vier unangenehme Situationen in Folge eingeführt wird: Erst tunkt er versehentlich seine Krawatte in den Kaffee, um dann den Bus zu verpassen, sich ein Taxi wegschnappen zu lassen und sodann zu erfahren, dass sein Büro nicht mehr das seine ist, sondern er in ein veritables Rattenloch umziehen muss. Es geht in dieser Tragikomödie nicht nur um einen scheinbar verrückten Fan, für den der Nachwuchs Bäume ausreißt, um die noch in New York extrem zurückgezogen lebende Garbo heranzukarren. Es geht auch um die Frage, ob man aktiv oder passiv sein sollte, und das heißt bei Lumet: ob man sein Leben selbst in die Hand nimmt oder sich herumschubsen lässt. Oder bei Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es!“

Und es geht um Vergänglichkeit, Alter, Tod. Auch um die Vergänglichkeit des Goldenen Zeitalters Hollywoods. Das alles lässt sich so sehr lieben, weil Lumet es eben mit Liebe zeigt, Hand in Hand gehend mit einem wachen Geist. Gilbert steht auch ehelich an einem Scheideweg; er hatte zwar immer ein gutes Verhältnis zur Mutter, aber hätte sich wahrscheinlich noch zig Jahre dreiviertelunglücklich treiben lassen, wenn nun nicht endlich eine Aufgabe auf ihn wartete. In dieser muss und will er sich gleichzeitig emanzipieren und so werden wie Estelle. In einem Fantasyfilm würde man das „Quest“ nennen, eine Mission, die zugleich eine Reise zu sich selbst, zum Entdecken und Nutzen verborgener Stärken ist. Also geht Gilbert auf die Suche …

… vorausgesetzt, sie ist auffindbar

Des Sohnes Odyssee bringt ihn zum heruntergekommenen und mit den Methoden seines vormaligen Berufs hadernden Ex-Paparazzo Angelo (Howard Da Silva), zu einer kaum minder abgewrackten viertklassigen Künstleragentin (Dorothy Loudon), die schlecht Klavier spielt, zu viel Tohuwabohu und eindeutig zu viele Katzen in der Wohnung hat, zu einer Weggefährtin Garbos (Hermione Gingold), die nie ein Star war und sich nun (anscheinend alkoholbedingt) bei Theaterproben kaum eine Zeile merken kann. Doch gerade sie gibt ihm den entscheidenden Tipp. Die Garbo wird übrigens tatsächlich auftauchen, gespielt von Betty Comden (ungenannt), von hinten mit Hut und von vorn nur mit beschattetem Gesicht zu sehen.

Ist das etwa wirklich …?

Ob es bei dieser Unnahbarkeit bleibt, sei nicht offenbart – jedenfalls ist die Dezenz eine optische, aber es gibt Gründe für ein Kopfkino jenseits des direkt Gezeigten. Bei aller Zurückhaltung existiert gleichwohl Raum für komische Kalamitäten, bevor Greta Garbo auftritt. So wird Gilbert beispielsweise als Kurier von Gourmetessen für sich abschottende Reiche und Berühmte hochkant und schon cartoonesk aus einem Apartmenthaus herausgeworfen.

Eine Berufung statt eines Jobs

Gerade dies illustriert über den Lacher hinaus, wie Gilbert sich entwickelt. So riskiert er durch die Übernahme seines Zweitjobs sowie andere extensive Arbeitszeitverkürzungen zu Recherchewecken den Verlust seines Erstjobs und übrigens auch seines Ehestatus. Unser vormaliger Duckmäuser ist aber mehr und mehr bereit, sich dem zu stellen, ins offene Messer zu laufen und zu sehen, dass dieses Messer ihn nicht so sehr verletzen wie seine Aufgabe nicht nur seine Mutter, sondern auch ihn glücklich machen kann. Sein finaler Monolog gegenüber dem Chef Plotkin (Richard B. Shull), der seine ausbeuterische Rücksichtslosigkeit hinter vorgespielter Freundlichkeit und Betroffenheit zu verstecken trachtet, ist vom Feinsten: Gilbert heuchelt im ironischen Sinne Verständnis und der Kotzbrocken merkt es nicht – bis der Kündigende sozusagen einen Stilbruch begeht und seine Rede mit einem „f*** yourself“ beschließt. So genial geschrieben wie entlarvend. Die Ehe übrigens zerbricht. Mit der etwas eigenwilligen und sympathischen Sekretärin Jane (zudem eine weitere erfolglose Künstlerin, dargestellt von Catherine Hicks) deutet sich eine Zukunft zumindest an, und das Ende ist für Jane ausgesprochen überraschend und für alle auf wie hinter der Leinwand sehr schön.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Den besonderen Charme von „Die Göttliche“ macht aus, dass er nostalgisch zurückblickt, aber nun selbst schon alt ist. Obwohl mir insoweit meine Kollegen von „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ wohl widersprächen. Der Film handelt von einer Zeit, die es nicht mehr gab, und er zeigt eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Die doppelte Nostalgie hat ihn nicht nur gut altern, sondern geradezu wie einen edlen Tropfen Weines zur vollen Blüte reifen lassen. Dies ist gar nicht naiv-verklärend gemeint. Es kommt durchaus zur Sprache, dass das Kino in der Zeit der Weltwirtschaftskrise das Vergnügen und die Traumflucht der Armen war, zu denen auch Estelle und ihre Geschwister und Eltern gehörten. Das Jahr 1984 wird ebenfalls nicht verklärt; Sexismus und der mit der Reagan-Ära salonfähig gewordene Raubtierkapitalismus kommen vor. Aber bei wem Lumets Sympathie liegt, ist klar; hier gibt es drei Abstufungen. Plotkin verachtet er. Zwei Personen, die für Sicherheit, Solidität und Konformität stehen, achtet er (Lisa und Gilberts Vater Walter, gespielt von Steven Hill – es hatte schon Gründe, dass das mit der Wirbelwindgattin nicht ewig gutging).

Noch teilen sie das Bett, aber nicht das Lächeln

Wen aber liebt er? Das lässt sich mit Reinhard Mey sagen:

Selig die Abgebrochenen
Die Verwirrten, die in sich Verkrochenen
Die Ausgegrenzten, die Gebückten
Die an die Wand Gedrückten
Selig sind die Verrückten!

Wer zählt dazu? Gilbert, der etwas scheinbar Verrücktes versucht, weil er an Lisas und Walters Lebensmodell, das für diese durchaus in Ordnung ist, kaputtginge. Die genannten abgewrackten Alten aus der Künstlerbranche. Ein leutseliger, etwas exzentrischer Schwuler (was hier erwähnt sei, da es auch in der Handlung auf gar nicht homophobe Weise eine Rolle spielt) namens Bernie (Harvey Fierstein), der Gilbert ebenfalls zu helfen versucht.

Ja, Hollywood ist ein Haifischbecken, Garbo gab den Menschen ihre Träume auf höchstem Niveau, andere jedoch wurden von den Haien oder dem Zahn der Zeit angenagt. Dies spiegelt sich in Lumets Besetzungen wider: Howard Da Silva war nie ein großer Filmstar, aber zu früheren Zeiten in Hollywood und im Theater gut beschäftigt, markant zum Beispiel als Bartender in Billy Wilders Alkoholikerdrama „Das verlorene Wochenende“ (1945). Hermione Gingold, bereits 1897 geboren, trat nur sporadisch in Filmen auf und hatte vor allem in Theaterrevuen mehr Erfolg, ohne ein Topstar zu sein. Im Fach der „komischen Alten“ konnte man sie schon 1958 im Musical „Gigi“ wie zuvor in der Bühnenversion sehen. 1984 war sie dann wirklich alt und hatte in „Die Göttliche“ eine kleine, aber feine Rolle, die ihre letzte werden sollte – ein würdiger Abschied.

New York 1984 – ebenfalls eine verlorene Zeit

So sehr es die Dreißiger – Garbos Hauptschaffensjahrzehnt – in dem Film nicht mehr gibt, so sehr gibt es dessen New York City des Jahres 1984 nicht mehr. Obwohl nie „alles schön oder zumindest besser war“, wie ein reichlich platter Spruch sagt: Ein bisschen sehnen wir uns schon zurück. Nach dem New York, in dem es noch Antiquitätengeschäfte gab (wobei Lumet einen Inhaber negativ konnotiert und Estelle ihm erst mal erklären muss, aus welchem Film das angepriesene Garbo-Foto stammt). Und Buchläden, in denen die Kamera liebevoll über Schwarten gleitet, die im Deutschen zu den begehrten „Citadel“-Filmbüchern wurden. Für Kinoliebhaber ist nur noch „Strand“ übrig; der legendäre Buch-, Zeitschriften- und Memorabilienhändler Jerry Ohlinger ist leider 2018 verstorben. Stattdessen haben wir Ebay, das stets mobil verfügbare Internet und jede Menge DVDs und Blu-rays. Estelle kennt dennoch oder gerade wegen des scheinbaren Mangels jeden Garbo-Film auswendig. Sie hat sogar ihren Sohn nach John Gilbert benannt, mit dem die Verehrte auf und jenseits der Leinwand ein publikumswirksames Liebespaar bildete. Aber Estelle versinkt nie in einer Parallelwelt, wie das heutzutage virtuellerweise passieren kann.

Achtung, ich lebe in der Realität, meine Herren!

Gilbert muss noch Telefone benutzen (diese nutzt man – wie modern – für Sprachnachrichten mit der Möglichkeit direkter Interaktion, liebe junge Leserinnen und Leser). Und an Türen klopfen. Und Leute treffen. Und sich mal die Tür vor der Nase zuknallen lassen. Aber gelegentlich öffnet sich eben auch eine Tür. Manchmal scheinen die Möglichkeiten größer, wenn die Masse des Verfügbaren geringer ist. Nicht zu vergessen: Hollywoods Goldenes Zeitalter bleibt, aber seine Zeugen leben eben nicht mehr in derselben Stadt wie Estelle und Rolfe, weil sie überhaupt nicht mehr leben. 1984 war das Vergangene vergangen, aber noch greifbar. Vom Versuch, diesen Traum wirklich zu ergreifen, erzählt „Die Göttliche“. 2024 ist das nicht mehr möglich. Umso schöner, aber auch wehmütiger, den Film gerade jetzt zu sehen.

Stil, den man nicht sieht – oder doch?

Lumet hat das glänzende Buch „Filme machen“ („Making Movies“) verfasst (deutsche wie amerikanische Erstausgabe 1996), eine wahre Fundgrube und großartige Kombination von Anekdotischem und Analytischem, für den Laien verständlich, für den Fachmann nicht platt. Natürlich exemplifiziert an seinem eigenen Werk, aber auch mit stets respektvollem Blick auf anders arbeitende Kollegen, kommt er unter anderem zu der Essenz, dass guter Stil ein Stil sei, den man nicht sehe. In Abgrenzung von Alfred Hitchcock, bei dem fast jeder Film sofort als ein „Hitch“ erkennbar ist. Lumets Stil ist zwar nicht unsichtbar, aber er dient immer der Sache, und die kann stärker variieren. Man kann nun Leute wie Lumet, Michael Curtiz oder Robert Wise als verlässliche Handwerker ohne Handschrift abtun oder umgekehrt einem wie dem Master of Suspense mangelnde Vielseitigkeit vorwerfen. Beides ist zu einseitig. Meine Achtung gehört beiden Typen, aber mein Herz den Erstgenannten. Sie sind nicht nur Handwerker, sondern – Teamwork hin oder her – „Autoren“ ihrer Filme, die eben nicht nur von ihnen inszeniert, sondern auch geprägt sind. Selbst der für Lumet ungewöhnlich warmherzige „Die Göttliche“. Oder vielleicht: gerade dieser, weil es auf den ersten Blick nicht so auffällt, auf den zweiten aber schon. Ihn zur Laudatio auszuwählen, ist nicht nur Marotte und Liebeserklärung. Und damit zu stilistischen Elementen.

Musik, Bewegung/Stillstand und Farben

Lumet hat sich mit zwei seinerzeit häufig eingesetzten Mitarbeitern umgeben, Komponist Cy Coleman und Kameramann Andrzej Bartkowiak. Ersterer, auch Jazzpianist, wählt leichte, aber nicht seichte Unterhaltungsmusik mit im Wesentlichen klassischen Orchesterinstrumenten in eher kleiner Besetzung. Haupt- und Titelmotiv ist ein Walzer, der zunächst Wohlfühlatmosphäre verströmt, im betonten Innehalten auf der zweiten Zählzeit aber auch etwas Verhaltenes und gleichzeitig Aufstrebendes vermittelt, von dem man nicht so genau weiß, wohin es führen wird. Passend zur Handlung um einen bevorstehenden Tod und dadurch einen neuen Aufbruch mit ungewissem Ausgang, aber auch passend zum schwelgenden Glamour der Garbo als Konstante.

Vergänglichkeit und Konstanz zeigt zudem der Cartoon-Vorspann von Michael Sporn. Wenn Estelle in Sekunden ein Baby bekommt, welches sofort wächst und, kaum geboren, schon ein Mann ist, der seinen eigenen Weg geht und den die Hand der Mutter nicht mehr halten kann, möchte man ob dieser oft tatsächlich so empfundenen Geschwindigkeit weinen. Aber so schnell das alles geht, so sehr kann sich Estelle an einem immer festhalten: an den Posen der Garbo, die sie durchgängig – als Kind wie als gealterte Frau – immer wieder imitiert und wo die gezeichnete Version dieses Lebens dem Überschnellen den Kontrast des eingefrorenen Bildes entgegensetzt.

Andrzej Bartkowiak schafft interessante und vielsagende Kadrierungen, wobei Farbgebung, Fokus und Lichtsetzung deutlich weicher sind als bei Lumets oft tiefenscharfen Weitwinkelbildern, denen kein Detail entgeht. Als Estelle noch fit und ein wenig aufrührerisch ist, trägt sie rot.

Die rote Aktivistin will den Sohn aktivieren

Ansonsten ist mit Ausnahme unter anderem eines schreiend orangefarbenen Krankenhausflures (wer ist dort schon gern?) vieles in warm-dezenten Pastellfarben gehalten. Dies trifft auf den heute etwas gewöhnungsbedürftigen hellrosa Pullunder Gilberts zu, aber auch auf dezent-hellbraune Wände. Solches, gemischt mit zartem Sonnengelb, dominiert auch das Außen mit seinem Licht und den New Yorker Ziegelbauten und Bäumen des Central Park. Natürlich sieht ein Film immer ein bisschen nach seiner Entstehungszeit aus, aber insgesamt sind Farbpalette und gegenlichtwarme Ausleuchtung für Lumet und für Hollywood 1984 schon ungewöhnlich. Zudem prägt das den Film stark. Man darf vermuten, dass der Look kein Zufall ist, nicht zuletzt, weil er auch bei den „seligen Verrückten“ eingesetzt wird. Da ist nichts schrill, da sind Liebe und Empathie. Zwei Jahre später übrigens hat Lumet (wie er in „Filme machen“ verrät, sehr bewusst) in seiner kalifornischen Abirrung „Der Morgen danach“ (1986) mit kreischendem Neonbunt nur so um sich geworfen, um die Grelle von Los Angeles und des damaligen Lebensgefühls (es geht sogleich mit dem Fitnesskult los) herauszustellen. Muss man nicht mögen, aber konsequent im einen wie im anderen Fall.

Bedrückend wie berührend: Kamera und Bauten

Verklärend ist das alles wiederum nicht, insoweit ist die Architektur von hoher Bedeutung. Das Horror-Büro Gilberts ist nicht ganz so extrem unerträglich wie dasjenige Sam Lowrys (Jonathan Pryce) in Terry Gilliams „Brazil“ (1985), kommt dem aber nah und ist wegen des nur dort vorliegenden Realismus vielleicht noch schlimmer. Zudem sei auf alle Szenen im Eheheim der Rolfes geachtet. Hier verdeutlichen bereits eine überdimensionale Durchreiche und die Kameraposition, dass mit der Ehe etwas im Argen liegt. Die Durchreiche ist ein Rahmen im Rahmen, die Küche und den Essbereich eher abtrennend als verbindend. Man kann sich durch sie unterhalten, aber nicht zusammenkommen. Oft rückt beides in die linke Bildhälfte und trennt den Rest der Wohnung zusätzlich ab. Überflüssig zu sagen, dass die Kommunikation ebenfalls über diese Grenze stattfindet. Da ist nur akustisches Verständnis garantiert.

Wo es passt, ist die Bildregie aber auch weniger unbarmherzig, unter Beibehaltung des Genauen. Dass in einem tragikomischen, zärtlichen Film allzu auffällige oder gar hektische Bewegungen und Schnitte fehlen, versteht sich von selbst. Stattdessen nutzt die Kamera in einer sehr intimen Schlüsselszene den extrem langsamen Zoom ohne Schuss-Gegenschuss-Wechsel, obwohl doch eine Person zu einer anderen spricht. Sie öffnet sich ganz. Ohne es zu merken, kommen wir ihr und kommt ihr Gegenüber ihr behutsam immer näher. Dieses Gegenüber müssen wir gar nicht sehen. Konzentration auf das Wesentliche und Vervollständigen per Fantasie; Lumet unterschätzt nicht sein Publikum. Dito im Finale. Personen entfernen sich und die Kamera folgt ihnen nicht. Wir können ihre Geschichte im Kopf weiterspinnen. Eine Person bleibt im Bild, wird aber – sicherlich auch symbolisch – unscharf, ein Schemen, von dem kaum zu glauben ist, dass er eben noch da war. The End. Ob Greta Garbo den Film jemals gesehen hat, lässt sich nicht zweifelsfrei klären.

Von Garbo zurück zu Lumet

Lumet hatte 1984 bereits eine große Erfolgsgeschichte hinter sich. Bereits für „Die 12 Geschworenen“ (1957) war er als Regisseur oscarnominiert, ebenso für das Geiseldrama „Hundstage“ (1975), die bitterböse, gnadenlose Mediensatire „Network“ (1976) und das Justizdrama „The Verdict – Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ (1982). Gewonnen hatte er die Trophäe nie, auch nicht im Zuge seiner Nominierung für „Prince of the City – Die Herren der Stadt“ (1981) in der Kategorie adaptiertes Drehbuch. Nachdem alles nach „The Verdict“ im Schnitt als mindestens ein bisschen schwächer gesehen wurde und Lumet phasenweise für längere Zeit nichts herausbrachte, bekam die Academy anscheinend ein schlechtes Gewissen: 2005 verlieh sie Lumet den Ehrenoscar, aber zum einen sind die meisten Filme der Zwischenzeit meines Erachtens zu Unrecht nicht in den Olymp aufgenommen, zum anderen meldete der Mann sich danach fulminant zurück. „Find Me Guilty – Der Mafiaprozess“ (2006) wurde ein guter, „Tödliche Entscheidung“ ein Jahr später ein großartiger Film. Bei Regisseuren, die bis ins hohe Alter arbeiten, ist ein solcher Letztling ausgesprochen selten. „Alterswerk“ wäre eine Beleidigung, selbst im wohlwollenden Sinne des Wortes! Lumet ist erzählerisch und technisch in der allerneuesten Zeit, ohne sich anzubiedern – stattdessen immer noch der Mann mit dem unbestechlichen, genauen Blick. Es sei dringend empfohlen, „Tödliche Entscheidung“ und „Die 12 Geschworenen“ im Doppelpack zu sehen. Naturgemäß bei fünfzig Jahren Abstand auf den ersten Blick ein immenser Unterschied. Aber beide 100 Prozent Lumet in einer stilistisch und erzählerisch kongenialen Kombination aus Seziermesserschärfe und Empathie. Das ging und geht in jeder Zeit. Wenn der Regisseur in „Die Göttliche“ das Seziermesser zwar nicht ablegt, aber die Wundversorgung gleich mit ganz viel Herz mitliefert, ist das ebenfalls ausgesprochen sehenswert und etwas ganz Besonderes.

Jane und Gilbert kommen sich näher

Ob Lumet noch einen weiteren Film geplant hatte, ist mir nicht bekannt. Er starb am 9. April 2011 im Alter von 86 Jahren in Manhattan an Lymphdrüsenkrebs, also einige Jahre nach Veröffentlichung von „Tödliche Entscheidung“. Zurück blieben seine vierte Ehefrau, die Journalistin Mary Gimbel, und drei Kinder. Laut der IMDb sind es zwar vier, aber Bailey Gimbel war ein Stiefsohn und heiratete bereits 1981, ein Jahr nach der Eheschließung von Lumet und Baileys Mutter – nachzulesen in einem zeitgenössischen Bericht der New York Times. Im Übrigen lässt sich in Erfahrung bringen, dass Tochter Jenny (*1967) dem Vater ins Filmgeschäft folgte und Drehbuchautorin wurde. Unter den vormaligen Gattinnen findet sich sogar eine Angehörige der Vanderbilt-Dynastie, Gloria Vanderbilt (mit Lumet von 1956 bis 1963 verheiratet).

Der filmische Aktivismus und die Aktivistin

Nicht zuletzt ein politisch kritischer Geist blieb Lumet bis ins hohe Alter; in diesem Zusammenhang sei der oft übersehene Fernsehfilm „Das Verhör“ (2004) wärmstens als Herz gelegt. In diesem kritisiert der Regisseur mit Parallelmontage die US-Folterungen im Zuge von George W. Bushs „Krieg gegen den Terror“. Ein Muslim bekommt die im Alter gern mit Fieslingsrollen besetzte Glenn Close an den Hals, während eine Amerikanerin (Maggie Gyllenhaal) im Nahen Osten „verhört“ wird. Die Dialoge gleichen sich und wechseln fließend bei scheinbarer Kontinuität, so wie schon in Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), wo sich Gangster und Polizisten gleichen. Nun eben die Ermittler der „Schurken“staaten und der USA.

Wo Protest dringend nötig war, setzte Lumet filmische Zeichen. Wo er, wie in „Die Göttliche“, scheinbar nicht ganz so wichtig war (aber man sehe die genannte Sexismus-Szene nur einmal mit moderner #metoo-Brille), machte er Estelle zur auch deswegen grundsympathischen kleinen Rebellin, und dieses Kleine ist so groß wie das vermeintlich Kleine des Films.

„Ihre Mutter ist in U-Haft.“ – „Schon wieder?“

Nur schade, dass sich dies nicht in angemessenen Veröffentlichungen niederschlägt. In den USA und im Vereinigten Königreich ist „Die Göttliche“ immerhin mal auf DVD erschienen, mit solider Bild- und Tonqualität, wenn auch ausstattungsarm. Eine deutsche Veröffentlichung auf Scheibe ist überfällig.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Anne Bancroft und Carrie Fisher unter Schauspielerinnen.

Veröffentlichung (GB): 23. Februar 2015 als DVD
Veröffentlichung (USA): 15. Januar 2011 als DVD

Länge: 100 Min.
Altersfreigabe: FSK unbekannt
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Garbo Talks
USA 1984
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Larry Grusin
Besetzung: Anne Bancroft, Ron Silver, Carrie Fisher, Catherine Hicks, Stehen Hill, Howard Da Silva, Dorothy Loudon, Harvey Fierstein, Hermione Gingold, Richard B. Shull, Michael Lombard, Ed Crowley, Alice Spivak, Maurice Sterman, Antonia Rey, Betty Comden, Mary McDonnell
Zusatzmaterial: keins
Label/Vertrieb: Simply Media & Ilc (GB), MGM (USA)

Copyright 2024 by Tonio Klein

Plakat & Szenenfotos: © MGM

 

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