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Sidney Lumet (III): Tödliche Entscheidung – Im Teufelskreis des verpatzten Raubzugs

21 Jun

Before the Devil Knows You’re Dead

Von Tonio Klein

Krimidrama // Ist jeder zu allem fähig? „Tödliche Entscheidung“ beantwortet die Frage relativ eindeutig mit „ja“. Schon nach wenigen Minuten zeigt der Film einen Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft. Der Täter flucht wild herum, scheint nicht besonders professionell zu sein, lässt sich anschließend von der älteren Dame, die im Geschäft Dienst tat, über den Haufen schießen, nicht ohne sie zuvor ins Koma geschossen zu haben. Es ist klar: Dieser Film wird nicht das klassische Heist-Movie sein, in dem der Raubzug auch immer etwas Erhabenes, Kunstvolles, Witziges oder in seiner Brutalität Monströses hat. Hier ist nichts larger than life.

Folgen des Raubmordes, bis es kein Halten mehr gibt

In den darauffolgenden gut 100 Minuten zeigt der Film in nicht linearer Erzählweise das Davor und Danach des Raubes, wiederholt teilweise Szenen, setzt aber bei jedem Kapitel eine andere Person ins Zentrum. Es zeigt sich: Wer keine Probleme hat, der macht sich welche, und wozu braucht man eigentlich die Gewalt der Tat, wenn man schon in einer Gewalt der Familie gefangen ist? Dies führt dazu, dass ganz gewöhnliche Menschen zu etwas Ungewöhnlichem fähig werden, ja sie verstricken sich immer tiefer in ihre Probleme, und das verpatzte Verbrechen setzt einen Teufelskreis ungeahnten Ausmaßes in Gang.

Der Kintopp-Traum von Rio

Andy (Philip Seymour Hoffman) und Hank (Ethan Hawke) sind Brüder, die trotz jeweils eines offenbar anständig dotierten Bürojobs ihre Probleme haben. Hank ist ständig mit den Unterhaltszahlungen im Rückstand, und seine Ex lässt ihn deutlich spüren, dass sie ihn für einen Loser hält. Er braucht dringend Geld, auch um sich die Liebe der Tochter in einer Welt zu erkaufen, in der nur das Materielle zählt. Andy ist schwer drogensüchtig und sowieso frustriert; er fühlte sich zeitlebens vom Vater ungeliebt, in der Ehe mit Gina (Marisa Tomei) läuft es nicht mehr, obwohl das weder bei Ginas Verhalten noch ihrem Aussehen groß einleuchtet. Es ist wohl einfach die Suche nach dem Kick nach 13 Jahren kinderloser Ehe, im Bett mit Gina wie beim Dealer. Den Kick hatte Andy während eines Rio-Urlaubs, und seine schlichte Weltsicht ist aus falschem Kintopp zusammengeklaut: Er zitiert Stanley Donens Komödie „Schuld daran ist Rio“ (1984) und glaubt ernsthaft, sein Glück wiederherstellen zu können, wenn er aussteigt und dauerhaft in Rio mit Gina lebt. Dass Brasilien und die USA kein Auslieferungsabkommen geschlossen haben, wissen die beiden bezeichnenderweise ebenfalls aus einem Film.

Wer Geld nicht nur will, sondern braucht, hat ein Problem

Die für die Auswanderung nach Rio nötigen Tantiemen soll der Raubzug bringen, doch wenn es im Kino heißt, das sei ein todsicheres, einfaches Ding, bei dem niemand zu Schaden komme, dann ist das Gegenteil wahr. Bloß hat das vielleicht noch niemand so radikal und unglamourös gezeigt wie Sidney Lumet, der Mann, der nach Fernseh-Lehrjahren schon 1957 als Kino-Regisseur debütierte. Von Altersmilde keine Spur! Der Regisseur seziert messerscharf menschliche Schwächen und familiären Druck, dass es einem die Kehle zuschnürt. Das überfallene Geschäft ist nämlich dasjenige der Eltern von Hank und Andy, die eingangs erwähnte ältere Dame ist ihre Mutter, die an dem Tag eigentlich nicht hätte im Laden sein sollen und wenige Tage später sterben wird. Am Ende werden einige Personen gestorben sein, oder sonstwie zerstört von Willensschwäche oder umgekehrt Verbitterung und Hass.

Stilistisch ist „Tödliche Entscheidung“ äußerst interessant und dabei nie selbstzweckhaft. Die einzelnen Rückblenden und Perspektivwechsel werden durch ein schnelles Hin- und Herspringen zwischen der ausgehenden und der beginnenden Ebene eingeleitet, dadurch anzeigend, dass die Vergangenheit die Protagonisten nicht loslässt. Lumet hatte dieses Stilmittel nach eigenem Bekunden für „Der Pfandleiher“ (1965) erfunden: In einer Szene geht eine New Yorker U-Bahn dergestalt über in einen KZ-Deportationszug (das Trauma des Protagonisten). Weitere Auffälligkeiten: Lumet bedient sich zwar häufig des gleißenden Lichts und der Weitwinkelfotografie, aber hell und weit ist hier nichts, eher kann die Sonne blenden und können die Räume erdrücken, wenn sie durch Weitwinkel größer erscheinen und den Menschen darin verloren wirken lassen. Den gleichen Effekt hat die bei Lumet öfter einmal verwendete Tiefenschärfe, bei der zum Beispiel auch eine Hauptfigur im Hintergrund scharf gehalten wird, statt sie durch einen Zoom oder Schnitt näher heranzuholen. Lumets Figuren sind meist erbärmliche Wichte, aber mit der Kraft zur (Selbst-)Zerstörung tragischen Ausmaßes, die jedoch wie der Raub völlig ihrer Kontrolle entgleitet. Daher erscheint es angemessen, Personen ab und an ganz klein und Gegenstände (Umstände?) ganz groß werden zu lassen. Völlig verloren wirkt Andy beispielsweise, wenn er durch die riesige, kühle, gestylte Wohnung seines Dealers wandelt. Minutenlang folgt die Kamera dem Umherirrenden, verloren Wirkenden. Dass wir dabei als fast einziges Geräusch Scott Bradys lustige Musik eines alten MGM-Cartoons hören, ist so fehl am Platze, dass wir besonders deutlich wahrnehmen, wie fehl am Platze sich Andy an diesem Ort und in seinem Leben fühlt.

Bei Schimanski ist „Scheiße“ cool

Weitere Stilmittel transportieren diese Trostlosigkeit. Es ist auffällig, wie oft in „Tödliche Entscheidung“ geflucht und „Scheiße“ gesagt wird, wobei die Figuren genau der Coolness beraubt sind, mit der charismatische Tarantino-Figuren oder coole Bullen wie Schimanski fluchen. Lumets Protagonisten sind einfach nur billig und ordinär, dabei zudem höchst unkontrolliert. Sie wirken dadurch verdammt normal. Ihre äußere Situation ist gar nicht so weit außerhalb unserer Vorstellungswelt, anders als beispielsweise bei Berufskillern, bei denen es mir immer ein bisschen aufgesetzt vorkommt, wenn etwa Tarantino durch bewusst blödsinnige Dialoge sagen will, dass Killer auch nur Menschen sind. Der Tarantinovergleich liegt durch die nichtlineare Erzählweise nahe, obwohl sich beide Regisseure stark unterscheiden. Lumet macht etwas völlig anderes: Bei ihm werden nicht Killer zu normalen Menschen, sondern normale Menschen zu Killern und Räubern. In dieser Tragik, die sich aus dem Gewöhnlichen entwickelt, steckt eine beunruhigende Kraft: Jeder kann zu allem fähig sein, auch du, auch ich. Sogar alte Menschen (die wir ja häufig mit „nett“ assoziieren, wenn es nicht gerade Altnazis sind); sie sind Berufshehler oder aber entwickeln ebenfalls Abgründe, so wie Charles (Albert Finney), der Vater von Andy und Hank. Zu dieser Vaterfigur folgt im nächsten Absatz ein Spoiler. Der Schluss des Films ist brillant, wie überhaupt das ganze Werk (ob man es mag, dass Carter Burwells Musik nur von einem einzigen, leicht variierten Thema lebt, ist Ansichtssache). Und wer es noch etwas genauer wissen will, der gehe nun zum nächsten Absatz über.

Familiendrama mit falschen Verbindungen

Das Ende scheint mir bemerkenswert, weil Lumet hier noch einmal seine gnadenlose Essenz auf die Spitze treibt und gleichzeitig seinen Stil symbolisch überhöht, ihm aber dennoch treu bleibend. Hank kann von einem Tatort entkommen, der Film lässt sein Schicksal offen, weil er sich eher für die Abgründe der Familie als für den Krimi interessiert. Andy ist angeschossen und wird von seinem Vater Charles ermordet, der mittlerweile weiß, dass Andy indirekt für den Tod seiner Mutter verantwortlich ist. Lumet zeigt in dieser Szene nicht nur, dass Altersmilde Andy nicht mehr retten kann, sondern dass sie auch Charles nicht mehr retten kann, denn mit seinem Akt zerstört sich Charles zugleich selbst. Zunächst überlistet er den Schwesternnotruf, indem er sich bei der Tat den Herzfrequenzmesser einfach selbst an die Brust klemmt; so werden gleichzeitig beide Figuren parallelisiert und vereint. Charles setzt seine Herzschläge an die Stelle derer von Andy. Er IST in diesem Moment Andy, genauso verbittert wie Andy über die beiderseits kaputte Vater-Sohn-Beziehung. Wenn Andy dann tot ist, geht Charles fort, und das den ganzen Film prägende gleißende Licht wird in der langen Fluchtperspektive des Krankenhausflures noch weißer, bis alles gleißend hell ist. Soll dies nicht angeblich der Gang sein, den man beim Übertritt vom Leben in den Tod passiert? Ist Charles nicht mit der Tat ebenfalls im übertragenen Sinne gestorben? Ich denke: ja, aber sein geistiger Tod wird ihm nicht Erlösung oder gar himmlische Verheißung sein. Denn als das Bild gänzlich weiß ist, folgt ein Schnitt, und dann ist es abrupt völlig schwarz. Abspann. In jeder Hinsicht das Ende.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Marisa Tomei unter Schauspielerinnen, Filme mit Ethan Hawke, Philip Seymour Hoffman und Michael Shannon in der Rubrik Schauspieler.

Friedhof? Den Tod wird’s geben, aber keinen Frieden

Veröffentlichung: 10. Oktober 2008 als Blu-ray und DVD

Länge: 117 Min. (Blu-ray), 112 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Before the Devil Knows You’re Dead
USA 2007
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Kelly Masterson
Besetzung: Philip Seymour Hoffman, Ethan Hawke, Albert Finney, Michael Shannon, Marisa Tomei, Amy Ryan, Sarah Livingston, Rosemary Harris
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Regisseur Sidney Lumet und den Darstellern Ethan Hawke & Philip Seymour Hoffman, „How the Devil was made“ (25 Min.), Behind the Scenes (10 Min.), deutscher Trailer, Originaltrailer
Label/Vertrieb: Koch Films

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & oberer Packshot: © 2008 Koch Films

 

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