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Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen: Und führe uns nicht in Versuchung!

04 Dez

Hauptdarstellerin Verena Altenberger bespricht sich mit Regisseur Dominik Graf

Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen

Ausstrahlung: Sonntag, 8. Dezember 2019, 20:15 Uhr, Das Erste

Von Volker Schönenberger

TV-Krimi // Zehn Grimme-Preise, ein Bayerischer und ein Deutscher Filmpreis – Dominik Graf gehört zweifelsohne zu den profiliertesten und versiertesten Regisseuren Deutschlands, auch wenn er derlei Zuschreibungen ungern vernimmt und Auszeichnungen skeptisch gegenübersteht. Dabei hat er sich von Anbeginn seiner Karriere dem Genrefilm verschrieben – Action, Krimi und Thriller sind sein Metier, und stets fügt er dem Ganzen eine gehörige Portion Drama hinzu. Seit Mitte der 1970er-Jahre aktiv, feierte Graf 1988 mit „Die Katze“ mit Götz George, Gudrun Landgrebe, Heinz Hoenig und Ralf Richter einen ersten Achtungserfolg im Kino. Zwei Jahre zuvor hatte er mit dem Schimanski-„Tatort: Schwarzes Wochenende“ erstmals die große deutsche Krimireihe um eine Folge bereichert – bis 2017 folgten drei weitere „Tatort“-Episoden. Aus seiner Filmografie lassen sich viele Empfehlungen aussprechen, genannt seien noch die flirrende Ausbrecherjagd „Zielfahnder – Flucht in die Karpaten“ (2016), der herausragende Russenmafia-Zehnteiler „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010) und der Actionthriller „Die Sieger“ (1994) mit Herbert Knaup, Katja Flint, Hannes Jaenicke, Meret Becker und Heinz Hoenig, seinerzeit an den Kinokassen gescheitert und von Graf selbstkritisch missbilligend beurteilt, erst 2019 mit der Aufführung des Director’s Cuts bei der Berlinale rehabilitiert.

Polizeioberkommissarin Eyckhoff muss Farbe bekennen

Zum „Polizeiruf 110“ stieß Graf spät: 2005 inszenierte er für den Bayerischen Rundfunk die brillante Episode „Der scharlachrote Engel“ (als Ermittler: Michaela May und Edgar Selge), ein heftiges Stalking- und Vergewaltigungsdrama mit Nina Kunzendorf und Martin Feifel. Es folgten die nicht minder sehenswerten „Polizeiruf 110“-Beiträge „Er sollte tot“ (2006), „Cassandras Warnung“ (2011) und „Smoke on the Water“ (2014). Graf blieb für die Reihe dem Bayerischen Rundfunk und dem Schauplatz München treu, nun hat er mit „Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ den zweiten Fall der Münchner Polizeioberkommissarin Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) inszeniert. Eyckhoff trat erstmals in der von Florian Schwarz gedrehten Folge „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ in Erscheinung, die erst im September 2019 im Ersten ausgestrahlt worden war.

Abhöraktion gegen Börsenkriminelle

Gleich zu Beginn sehen wir Eyckhoff in einer Verhörsituation – als Verhörte. Die Haupthandlung entfaltet sich somit als Rückblende, umklammert vom Bericht der Ermittlerin. Sie und ihr Team sind darauf angesetzt worden, die Büroräume von Reiko Fastnacht (Michael Zittel) abzuhören. Der Geschäftsführer von Safe Pack Energy wird des illegalen Börsenhandels verdächtigt – Insidergeschäfte, um es zu präzisieren. Die Technik ist zügig installiert, Eyckhoff, Polizeioberkommissar Wolfgang Maurer (Andreas Bittl), zwei weitere Kollegen und eine Kollegin gehen in der Nähe des Unternehmens in Lauerposition. Schnell erfahren die Ermittler, dass die Aktie des Energie-Anbieters MTT im Begriff ist, einen gehörigen Sprung nach oben zu machen. Das weckt die Gier der unterbezahlten Polizisten, man beschließt, selbst zu investieren. Maurer sowie Roman Blöchl (Robert Sigl), Meryem Chouaki (Berivan Kaya) und Tobias Rast (Dimitri Abold) weihen ihren Kumpel und Ex-Kollegen Heinz „Calli“ Callum (Sascha Maaz) ein, der Frührentner beleiht sogar sein Erbe, um MTT-Aktien zu kaufen. Einzig Eyckhoff beteiligt sich nicht, was weniger an moralischen Erwägungen liegt als daran, dass es ihr schlicht an Geld mangelt, das sie investieren könnte. An Tag X steigt die Aktie tatsächlich im Sekundentakt. Doch dann geht schief, was nur schiefgehen kann, und bald liegen bei den Ermittlern die Nerven blank. Eyckhoff sieht sich derweil genötigt, in Kooperation mit Lukas Posse (Wolf Danny Homann) von der Börsenaufsicht gegen ihr eigenes Team zu ermitteln.

Eine Kostümparty gerät zur …

Ein kleines Stück vom riesigen Kuchen der Finanzwelt und der Wertpapiergeschäfte mit ihren vielen dubiosen Geschäftspraktiken abzuzweigen – wer von derlei Versuchungen frei ist, werfe den ersten Stein. In Zeiten von Dividendenstripping-Machenschaften wie den Cum-ex- und Cum-Cum-Geschäften erscheint mir da ein aufgrund illegaler Erkenntnisse getätigter Aktienkauf mit ein paar zusammengekratzten Kröten fast schon als Kavaliersdelikt. Nicht falsch verstehen, es bleibt ein krimineller Akt, der völlig zu Recht verfolgt wird. Aber Dominik Graf und sein Drehbuchautor Günter Schütter (zu ihm später mehr) inszenieren die Straftat der Strafverfolger natürlich ohne erhobenen Zeigefinger. Hier geht es nicht in erster Linie darum, ein Verbrechen und dessen Täter zu zeigen, sondern eine bei oberflächlicher Betrachtung verschworen wirkende kleine Gemeinschaft zu porträtieren, deren Zusammenhalt auf eine so schwierige Probe gestellt wird, dass sie zwangsläufig daran zerbricht.

Das große Ego eines kleinen Staatsanwalts

Der Regisseur lässt uns den kleinen Trupp anhand eines ausgiebig gezeigten polizeilichen Kostümfests gut kennenlernen. Man feiert und säuft gern gemeinsam, so viel wird schnell deutlich. Diese pulsierenden Sequenzen verlangen gerade zu Beginn Aufmerksamkeit ab, um die Figuren einzuordnen und das eine oder andere Detail zu erfassen, das Graf uns präsentiert und womöglich später noch wichtig wird. Weshalb bekommt ein „großes Ego eines kleinen Staatsanwalts“ Bedeutung? Nur Geduld, wir erfahren es schon. Lineares Storytelling sieht anders aus, und das wird all jene befremden, die mehr aus Gewohnheit sonntagabends das Erste einschalten, um den nächsten „Tatort“ oder „Polizeiruf 110“ wegzuschauen.

… ausgelassenen Sause

Der grandiose Ausnahme-Drehbuchautor Günter Schütter treibt mich mit seinen Ideen und szenischen Überraschungen jedes Mal wieder an wie ein Torpedo-Treibsatz. Ich muss bei ihm meine Regie-Fähigkeiten permanent neu überprüfen, dazulernen, auch dieses Mal wieder vieles anders machen. So Dominik Graf, der für „Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ zum wiederholten Mal mit Schütter zusammenarbeitete, erstmals 1992 bei einer „Der Fahnder“-Folge. 1993 erneut „Der Fahnder“, 1994 „Die Sieger“, 1995 „Tatort: Frau Bu lacht“, 1997 „Der Skorpion“ (ein Favorit Grafs), dazu vier von Grafs fünf „Polizeiruf 110“-Episoden – wenn ein Regisseur und ein Drehbuchautor einander so sehr zu Höchstleistungen anstacheln wie diese beiden, hat es seine Berechtigung, von einem Dream-Team zu sprechen.

Sex und Gewalt

Was treibt einen Filmemacher wie Dominik Graf an, sein Heil in einem vermeintlich einengenden Format wie „Polizeiruf 110“ zu suchen? Er will Grenzbereiche des Erzählens tangieren, wie er in seinem Vorwort zu Prof. Dr. Marcus Stigleggers „Jenseits der Grenze – Im Abseits der Filmgeschichte“ (2019, Martin Schmitz Verlag) bekennt. In erster Linie in meinem Fall Action, in jedweder Variante, im günstigsten Fall vielleicht sogar innovativ, in jedem Fall möglichst hart, abstoßend. Bemerkenswert, wie es ihm gelingt, diesen Worten mit „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ Taten folgen zu lassen, denkt man bei einem Krimi über Insidergeschäfte an der Börse doch nicht unbedingt an Action. Wer ein wenig über Dominik Grafs Motivationen erfahren will, möge dieses Vorwort und das am Ende von Stigleggers Buch abgedruckte, 2010 geführte Gespräch der beiden lesen. Daraus scheint mir eine weitere Äußerung Grafs passend zu sein: Es gibt zwei Dinge, die mich beim Filmen und beim Schneiden am meisten interessieren. Das eine ist eine Dialogkultur, auch mit Humor, eine gewisse Smartness in Rede und Gegenrede, Sarkasmus, auch Zynismus. Selbst in den düstersten Werken muss irgend etwas von den Autoren bitte, bitte auch lustig geschrieben sein. Und das andere ist die Körperlichkeit, und da nehme ich jetzt mal die Körperlichkeit des Sexuellen und der Gewalt zusammen, weil das im Kino doch in der Praxis recht ähnliche Dinge sind. Genau das hat Graf auch diesmal wieder umgesetzt, ebenso wie: Bei jeder Art von Voyeurismus bin ich vollkommen im filmischen Bereich. Man sieht die Technik der Polizeiarbeit, es geht nur darum, dass man Leuten bei der Arbeit zusieht, die anderen Leuten zusehen. Das kommt bei meinen Polizeifilmen sehr oft vor, da gibt es ganze Sequenzen im Einsatzraum, wo man sogar die einzelnen Sätze nicht verstehen muss … Zugegeben etwas bequem von mir als Rezensent, den Filmemacher sein eigenes Werk beschreiben zu lassen, aber es passt hier so gut. Sex und Gewalt brechen sich in „Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ nur punktuell Bahn, und den Sex inszeniert er einmal beiläufig (um einen Ehebrecher zu zeigen), einmal verspielt und einmal inklusive eines kurz angedeuteten Cunnilingus als Bestandteil einer Bestechung. Großartig, da stets der Story oder zumindest der Charakterisierung der Figuren dienlich. Die Gewalt als Gegenpol wirkt so schmerzhaft, wie sie es auch ist.

Als Handwerker getarnt schreitet das Team …

Fast ein wenig unfair, dem Regisseur so viel Raum zu gewähren, ohne die Hauptdarstellerin zu erwähnen, daher lassen wir Verena Altenberger zu ihrem Recht kommen. Die Gute scheint im Fernsehen erfreulich ausgelastet zu sein, spielt seit 2017 die Titelrolle in der RTL-Comedyserie „Magda macht das schon!“ und war Anfang 2019 im österreichischen Sechsteiler „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ als Mutter Elsie zu sehen. Ihre „Polizeiruf 110“-Ermittlerin Elisabeth Eyckhoff spielt sie angenehm unaufgeregt, lässt sich mal die Butter vom Brot nehmen und dann doch wieder nicht. Eine zierliche Frau behauptet sich mit Schlagfertigkeit in der rauen Männerwelt der Polizei – das habe ich jetzt viel klischeehafter heruntergeschrieben, als Dominik Graf es inszeniert und Altenberger gespielt hat. Ein um ein ganzes Ermittlerteam herum aufgebauter Fall wie dieser funktioniert nur als Ensembleleistung, und ihre Kolleginnen und Kollegen stehen ihr in nichts nach.

Altenbergers „Polizeiruf 110“-Debüt „Der Ort, von dem die Wolken kommen“ kann noch bis März 2020 in der ARD-Mediathek geschaut werden, die Folge „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ wird im Anschluss an die Erstausstrahlung dort ebenfalls zu finden sein. Jedenfalls macht sie Lust auf mehr. Ihre Premiere feierte die Folge im Übrigen am 25. Oktober 2019 bei den Hofer Filmtagen. Durchaus angemessen für den TV-Film eines Regisseurs, der Fernsehen gern wie Kino inszeniert. Oder anders: bei dem diese Abgrenzung von Fernsehen und Kino irrelevant erscheint. Mehr davon!

Nebenrolle für den Regisseur von „Laurin“

Kurz zu einer interessanten Personalie, die sich mit Roman Blöchl offenbart, Teil von Eyckhoffs Abhörteam: Robert Sigl, Regisseur des außergewöhnlichen Horrorthrillers „Laurin“ (1989) sowie vieler Filmepisoden von „Aktenzeichen XY – Ungelöst“. Sigl, hierzulande lange Zeit verkannt, aber immerhin ab und zu vom Fernsehen beschäftigt, hat aktuell drei Filme in Vorbereitung: „Golgatha“, „The Blind Room“ und „The Mandylion“. Genrefilme, zum Teil mit religiösem Bezug – interessant. Drücken wir ihm dafür die Daumen!

… zur Überwachungsaktion

Dominik Graf hat gerade den vom ZDF mitproduzierten Kinofilm „Fabian“ mit Tom Schilling in der Titelrolle abgedreht, eine Adaption von Erich Kästners „gleichnamigem Roman“, auch als „Der Gang vor die Hunde“ bekannt. Das Porträt eines Idealisten in der ausgehenden Weimarer Republik scheint mal wieder nicht unbedingt das zu sein, was das deutsche Publikum in Massen in die Lichtspielhäuser treiben wird, verspricht aber ein interessantes und außergewöhnliches Werk zu werden.

Lukas Posse von der Börsenaufsicht hat die korrupten Bullen im Visier

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Dominik Graf haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Bald liegen die Nerven blank

Länge: 90 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Originaltitel: Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen
D 2019
Regie: Dominik Graf
Drehbuch: Günter Schütter
Besetzung: Verena Altenberger, Andreas Bittl, Wolf Danny Homann, Berivan Kaya, Robert Sigl, Dimitri Abold, Sascha Maaz, Ursula Gottwald, Michael Zittel, Emma Jane, Catalina Navarro Kirner, Gisela Hahn, Claudia Messner, Christian Baumann, Niklas Kearney, Silke Heise
Produktion: maze pictures GmbH, im Auftrag des Bayerischen Rundfunks

Copyright 2019 by Volker Schönenberger
Szenenfotos: © 2019 Bayerischer Rundfunk / maze pictures GmbH

 

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