Pelikanblut
Horrordrama // Wiebke (Nina Hoss) betreibt einen Hof, auf dem sie Polizeipferde trainiert. Mit ihrer neunjährigen Adoptivtochter Nicolina (Adelia-Constance Giovanni Ocleppo) führt sie ein angenehmes Leben. Nach einigen Mühen gelingt es ihr endlich, ein weiteres Mädchen zu adoptieren, wofür sie wie bei Nicolina nach Bulgarien fahren muss – in Deutschland kommt die alleinstehende Wiebke für Adoptionen nicht in Frage. Die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska) wirkt wie ein liebes Mädchen, doch zügig bereitet sie ihrer Adoptivmutter Probleme. Ein Ausrasten beim Essen bildet nur den Auftakt einer Reihe besorgniserregender Verhaltensweisen, die das Mädchen an den Tag legt. Während sich zwischen Wiebke und dem Polizisten Benedikt (Murathan Muslu) langsam eine Beziehung anbahnt, entgleitet der Adoptivmutter die Situation mehr und mehr.

„Pelikanblut“ lebt zum einen vom starken Spiel der drei Hauptdarstellerinnen. Von der erfahrenen, wiederholt preisgekrönten Nina Hoss („Toter Mann“, „Die weiße Massai“ , „Yella“, „Wir sind die Nacht“) ist nichts anderes zu erwarten, aber es beeindruckt doch sehr, dass die beiden Kinderdarstellerinnen in der Lage sind, die komplexe Beziehungslage der Mutter und ihrer beiden Adoptivtöchter schauspielerisch mitzutragen. Regisseurin Katrin Gebbe („Tore tanzt“) ist offenbar mit großer Feinfühligkeit an den Dreh mit den beiden aus Bulgarien stammenden Nachwuchsdarstellerinnen gegangen.

Zum anderen stellt die Eskalation der Ereignisse alles andere als ein Sehvergnügen dar, und das ist positiv gemeint, weil es wohl auch keines sein soll. Teilweise ist es schmerzhaft anzuschauen, wenn Wiebke an diversen Situationen scheitert, sich zusehends überfordert zeigt und zu ungewöhnlichen Methoden greift. Die Spannung resultiert auch daraus, dass ständig mit neuen unangenehmen Szenen zu rechnen ist. Diese Dramaturgie entwickelt nach und nach sogar ein paar Thriller- oder gar Horrorelemente, wenn Raya wie besessen wirkt und sich dies auf ihre Adoptivmutter zu übertragen scheint. Regisseurin Gebbe, die auch das Drehbuch schrieb, unterstreicht dies auch visuell mit einigen düsteren Motiven, der sehr sparsam eingesetzte Score setzt dabei ebenfalls hilfreiche Akzente.
Drama oder Horror?
Hier liegt aber auch ein Problem. Will „Pelikanblut“ ein Psychodrama um das erzieherische Scheitern einer Adoptivmutter an einem traumatisierten und problembehafteten Mädchen sein? In dem Fall lassen die Genrefilm-Bestandteile das Geschehen überzogen wirken. Will der Film ein Thriller oder gar Horrorfilm sein? In dem Fall bleibt das Werk zu lange der Psychologisierung verhaftet. Immerhin konnte ich mich dem Spannungsbogen kaum entziehen. Gegen Ende driftet die Handlung allerdings arg in metaphysische bis schamanische Gefilde ab, der Schluss fällt dadurch unbefriedigend aus.

Wiebkes Beruf – und Berufung – als Pferdetrainerin bildet eine weitgehend gelungene Analogie zu ihren Bemühungen als Adoptivmutter ab, auch wenn die Parallelen dem Publikum vereinzelt wenig subtil vermittelt werden. Insgesamt passt das aber schon. Die geografische Lokalisierung des Pferdehofs bleibt im Übrigen bewusst offen, wohl zur Verstärkung der mysteriösen Atmosphäre. Ortsnamen werden nicht genannt, zwei Autos tragen das in Deutschland nicht existente Kennzeichen HT.

Ein zu Beginn in dem bulgarischen Waisenhaus gezeigtes Wandbild erläutert den Filmtitel: Das Pelikanweibchen beißt sich die Brust auf, um mit seinem Blut den toten Nachwuchs wiederzuerwecken – ein aus der frühchristlichen Naturlehre Physiologus bekanntes Motiv, deutlich erkennbar an den Jesus-Mythos von Tod, und Auferstehung beziehungsweise Wiedererweckung angelehnt. Das Motiv findet auf bizarre und manche Zuschauerinnen und Zuschauer sicher verstörende Weise sein Pendant in der Story.

Die Blu-ray und DVD von „Pelikanblut“ kommen leider ohne nennenswertes Bonusmaterial daher. Erläuterndes Begleitmaterial wäre begrüßenswert gewesen, etwa ein Interview mit Katrin Gebbe über ihre Absichten und Ideen beim Drehbuchschreiben und der Umsetzung als Regisseurin. Auch ein Making-of hätte Gesicht gehabt, um etwas über den Umgang mit den beiden Kindern beim Dreh zu erfahren, weil die Heftigkeit der Story viel Verantwortung für die minderjährigen Mädchen mit sich bringt. Schade drum.
Grenzensprenger
Beklemmender Arthouse-Horror im Stil von „Midsommar“ und „Hereditary“ zitiert das Cover der Blu-ray und DVD von „Pelikanblut“ die Rezension aus „Deadline – Das Filmmagazin“. Das ist meines Erachtens etwas übertrieben. Aber obwohl sich „Pelikanblut“ auf seiner Gratwanderung zwischen Psychodrama und Horrorthriller etwas verhebt, bleibt das Werk doch als außergewöhnliche Seherfahrung haften. Katrin Gebbe ist für ihren Mut zu loben, sich in Deutschland an einem Genrefilm zu versuchen, bei dem sie Grenzen auslotet und das Genre sogar hinter sich lässt.

Veröffentlichung: 9. April 2021 als Blu-ray und DVD
Länge: 127 Min. (Blu-ray), 122 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Pelikanblut
D/BUL 2019
Regie: Katrin Gebbe
Drehbuch: Katrin Gebbe
Besetzung: Nina Hoss, Murathan Muslu, Sophie Pfennigstorf, Yana Marinova, Sebastian Rudolph, Daniela Holtz, Samia Muriel Chancrin, Dimitar Banenkin, Adelia-Constance Giovanni Ocleppo, Katerina Lipovska, Katinka Auberger, Christoph Jacobi, Justine Hirschfeld
Zusatzmaterial: Trailer, Trailershow, Wendecover
Label: DCM
Vertrieb: Leonine
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