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Black Cinema Collection (2): Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs – Die Straßen von San Francisco

20 Jun

They Call Me MISTER Tibbs!

Von Andreas Eckenfels

Krimi // Los verschwinde! Mach, dass du wegkommst! Scher Dich zum Teufel, du Niete! Mich kotzt es an, wenn ich nur an dich denke! Hau ab, worauf wartest du noch? Heute Nachtmittag bin ich besser bedient worden, da auf dem Teppich. Viel besser! Lass dich nie wieder hier blicken, dein Anblick macht mich krank, du Krüppel! Du sollst abhauen, und das Ding hier kannst du auch wieder mitnehmen! Du dreckiger Hurensohn!

Es sind deutliche, aber auch letzte Worte, die die junge Prostituierte Joy (Linda Towne) einem unbekannten Freier halbnackt in ihrer Wohnung entgegenbrüllt – er bringt sie im Anschluss um. Der Hausmeister Mealie (Juano Hernandez) entdeckt zufällig die Leiche und berichtet es sogleich dem kriminellen Hausverwalter Rice Weedon (Anthony Zerbe). Der befürchtet, dass es in seinem Apartment-Komplex bald nur so von Polizisten wimmeln wird, wenn die Sache rauskommt, und gibt Mealie Geld, damit er seinen Mund hält. Dennoch verrät Weedon der Polizei per anonymem Anruf den Namen des Mannes, den Mealie einige Zeit vor dem Leichenfund aus dem Haus hat kommen sehen: den bekannten Pastor Logan Sharpe (Martin Landau).

Lieutenant Virgil Tibbs (l.) sucht mit seinen Kollegen nach einem Prostituiertenmörder

Als Virgil Tibbs (Sidney Poitier) am Tatort eintrifft, hat der San-Francisco-Lieutenant bereits erfahren, dass sein enger Freund Sharpe als Hauptverdächtigter gilt. Im Schlafzimmer des Opfers wird obendrein eines von dessen Büchern gefunden. Tibbs stellt Sharpe im Beisein zweier Kollegen zur Rede. Der Beschuldigte erklärt glaubhaft, Joy schon länger gekannt zu haben, und bestätigt auch seinen Besuch am Tag des Mordes. Dieser hätte aber einem sozialen Zweck in seiner Funktion als Pastor gedient. Er wollte die junge Frau wieder mit ihrer Familie zusammenführen. Erst als er mit Tibbs allein ist, gibt Sharpe zu, dass er ab und an auch mit Joy geschlafen habe. Doch mit ihrem Tod habe er nichts zu tun. Er glaube an eine Rufmordkampagne. Immerhin macht sich Sharpe derzeit medienwirksam für ein wichtiges Referendum stark, welches den Bewohnern seines Viertels mehr Rechte zusprechen soll. Kann Tibbs die Unschuld seines langjährigen Freundes beweisen?

Zweiter Einsatz mit überraschenden Änderungen

Drei Jahre nach dem fünffach Oscar-gekrönten „In der Hitze der Nacht“ (1967) schlüpfte Sidney Poitier erneut in die Kultrolle des standhaften Verbrechensbekämpfers Virgil Tibbs. Bei der Fortsetzung von Regisseur Gordon Douglas („Formicula“, „Barquero“) sind keine Vorkenntnisse vonnöten. Obwohl Schriftsteller John Ball (1911–1988) bereits zur Drehzeit zwei weitere Tibbs-Romane veröffentlicht hatte, wurde keiner davon als Vorlage genutzt. Die Drehbuchautoren Alan Trustman („Thomas Crown ist nicht zu fassen“, „Bullitt“) und James R. Webb („Das war der wilde Westen“, „Ein Köder für die Bestie“) dachten sich einen eigenständigen zweiten Einsatz aus, der einige überraschende Änderungen parat hält.

Der Kriminalbeamte muss gegen einen Freund ermitteln

Im Vergleich zum Vorgänger arbeitet Virgil Tibbs nun nicht mehr in Philadelphia, sondern in San Francisco. Zudem hat er jetzt den Rang eines Lieutenants inne statt wie zuvor den eines Detectives. Ebenfalls war „In der Hitze der Nacht“ nichts davon bekannt, dass Tibbs verheiratet ist und zwei Kinder hat. Erklärungen zu den kleinen inhaltlichen Änderungen werden nicht gegeben. Nur der Originaltitel „They Call Me MISTER Tibbs!“ (Ja, MISTER in Versalien!) erinnert an die Ereignisse, die der Ermittler in der Kleinstadt Sparta durchgemacht hat. Dafür bleibt fraglich, worauf der deutsche Titel mit den „Zehn Stunden“ anspielen will – unter enormen Zeitdruck muss Virgil Tibbs den Täter jedenfalls nicht dingfest machen.

Fragwürdige Erziehungsmethoden

Natürlich war es nicht zu erwarten, dass „Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs“ die Klasse des meisterhaft inszenierten Erstlings halten kann. Dennoch hätte man etwas mehr als einen durchschnittlichen Kriminalfall erwarten können, der sich gerade mal aufgrund seiner namhaften Besetzung auf besserem TV-Serien-Niveau einpendelt. Die Sets – seien es das Polizeirevier oder die Appartements von Logan Sharpe und Rice Weedon – wirken steril und eintönig. Sobald es aber raus auf die Straßen geht, etwa bei der Massenszene zu Beginn, als Sharpe seine Rede hält, und bei den zwei Verfolgungsjagden durch die Straßen von San Francisco, kommt wenigstens ein wenig Stimmung und Spannung auf. Wie im Vorgänger nimmt auch die Polizeiarbeit, die akribische Auswertung von Beweisen und Indizien, einigen Raum ein.

Sohn Andy pafft mit Papa – mit üblen Folgen

Doch sobald ein wenig Tempo in den Fall reinkommt, wird dieses durch die eingestreuten Familienszenen frühzeitig ausgebremst. Nach getaner Arbeit fährt Virgil Tibbs nach Hause zu seiner Frau Valerie (Barbara McNair) und den Kindern Andy (George Spell) und Ginger (Wanda Spell). Von seiner Frau verlangt Tibbs, dass das Essen pünktlich auf dem Tisch steht und sie ihm sexuell verfügbar ist. Gegenüber seiner Tochter Ginger ist er durchaus herzlich. Allerdings: Der strenge Vater kann seinen vorlauten Sohn kaum bändigen, der zu seinem großen Bedauern nicht so vorbildlich geraten ist, wie der Lieutenant sich das gewünscht hat. Als er Andy beim Rauchen erwischt, erteilt er ihm eine Lektion, die sich gewaschen hat – und heutige Jugendschützer auf die Barrikaden treiben dürfte: Der Vater schenkt seinem Sohn ein Gläschen ein und ermuntert ihn auch noch dazu, eine Zigarre zu paffen. Nach kurzer Zeit stellt sich die von Tibbs gewünschte Wirkung ein. Der Kleine rennt auf die Toilette, um sich zu übergeben. Ob es ihm eine Lehre für alle Zeiten war, wird die Zukunft zeigen. Die Szenen sollen der sonst so abgeklärt und überlegen wirkenden Figur Virgil Tibbs ein paar Facetten verleihen und Bodenständigkeit vermitteln, da er privat offenbar mit den gleichen Problemen zu kämpfen hat wie nahezu alle Familienväter unter den Zuschauern. Aber zumindest für die heutige Zeit wirken die fragwürdigen Erziehungsmethoden recht befremdlich und unfreiwillig komisch.

Gute Freunde – aber warum?

Sidney Poitier dominiert natürlich den Film als Leading Man, wird aber auch nicht sonderlich gefordert. Sein Virgil Tibbs ist – nimmt man wie oben beschrieben den Privatmenschen außen vor, – der gleiche prinzipientreue Polizist wie zuvor, auch wenn er diesmal etwas glattgebügelter als im Vorgänger wirkt. Für ihn ist jeder ein möglicher Täter. Sogar seinem Freund Logan Sharpe traut er von vorneherein ohne mit der Wimper zu zucken den Mord zu. Er ist ein Mann. Kein Heiliger. So sagt er es zu seiner Frau. Während Poitiers Szenen mit Martin Landau („Ed Wood“), der kurz vor „Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs“ sein Engagement bei der Agentenserie „Kobra, übernehmen Sie“ beendet hatte, zu den Pluspunkten des Films gehören, wird hier auch eine große Drehbuchschwäche offenbar: Zwar wird ständig davon geredet, dass Tibbs und Sharpe seit ihrer Kindheit Freunde sind, aber es wird nie thematisiert, woher diese enge Verbindung zwischen den zwei Männern herrührt. Sind die beiden miteinander aufgewachsen? Waren sie Klassenkameraden? Hat Virgil Tibbs einem Widersacher des schmächtigen Sharpe mal eine Ohrfeige verpasst? Sind beide gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen? Das Publikum erfährt es leider nicht, wodurch die Beziehung an Glaubwürdigkeit einbüßt und auch der emotionale Kern der Geschichte verloren geht.

„Die Organisation“ wartet schon!

Die Wicked Vision Distribution GmbH hat „Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs“ als zweiten Beitrag innerhalb der „Black Cinema Collection“ veröffentlicht. Wie schon bei „Slaughter“ kommt im eigenproduzierten Bonusmaterial erneut Professor Dr. Andreas Rauscher in einem etwa 25-minütigen Feature fachkundig zu Wort, der launig über den Übergang des klassischen Hollywoodhelden, wie ihn Sidney Poitier präsentiert, hin zu den Blaxploitation-(Anti-)-Helden erzählt. Dazu gibt es einen Audiokommentar von den zwei bewährten Sprechern Dr. Gerd Naumann und Christopher Klaese sowie ein Booklet mit einem Text von Thorsten Hanisch.

Wer auch am finalen Teil der „Virgil Tibbs“-Trilogie Interesse hat, der wird ebenfalls in der „Black Cinema Collection“ fündig: „Die Organisation“ (1971) ist erstmals in Deutschland als Blu-ray als Nummer 5 der Reihe erschienen.

Die Filme der „Black Cinema Collection“ der Wicked Vision Distribution GmbH haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgeführt. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Martin Landau und Sidney Poitier sind unter Schauspieler zu finden.

Tibbs verteilt kräftige Kinnhaken

Veröffentlichung: 18. Dezember 2020 als 2-Disc Special Edition (Blu-ray & DVD, limitiert auf 1.500 Exemplare)

Länge: 109 Min. (Blu-ray), 104 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: They Call Me MISTER Tibbs!
USA 1970
Regie: Gordon Douglas
Drehbuch: Alan Trustman, James R. Webb
Besetzung: Sidney Poitier, Martin Landau, Barbara McNair, Anthony Zerbe, Edward Asner, Jeff Corey, Norma Crane, Juano Hernandez, David Sheiner, George Spell
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Dr. Gerd Naumann und Christopher Klaese, Featurette „Von Mister Tibbs zu John Shaft – Neue Stars und Perspektiven“ (25 Min.), Originaltrailer, Bildergalerie, 24-seitiges Booklet mit einem Essay von Thorsten Hanisch
Label/Vertrieb: Wicked Vision Distribution GmbH

Copyright 2021 by Andreas Eckenfels

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Wicked Vision Distribution GmbH

 
 

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2 Antworten zu “Black Cinema Collection (2): Zehn Stunden Zeit für Virgil Tibbs – Die Straßen von San Francisco

  1. Thorsten Hanisch

    2022/03/12 at 19:44

    Thorsten, nicht Thomas 😉

     
  2. Christoph Wolf

    2021/06/21 at 07:48

    Diese Erziehungsmethode habe ich auch noch am eigenen Leib erlebt. Ich habe mich im Grundschulalter dabei erwischen lassen, auf einer Party meiner Eltern an einer Zigarette gezogen zu haben und musste daraufhin eine ganze rauchen und dazu einen Apfelkorn trinken. Das Ergebnis belustigte die anwesenden Erwachsenen sehr, mich weniger. Geraucht habe ich später trotzdem über zwanzig Jahre.

     

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