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Alfred Hitchcock (XVI): Jung und unschuldig – Der Krimi mit Augenzwinkern

28 Dez

Young and Innocent

Von Tonio Klein

Krimi // Natürlich kommen bei einem echten Hitchcock selten Zweifel auf, ob der Verfolgte nicht doch schuldig sein könnte, von „Der Mieter“ (1927) und „Verdacht“ (1941) vielleicht einmal abgesehen. Von daher ist erfreulich und konsequent, dass der Meister (der er hier schon war!) im vorliegenden Film sofort alles zu 99 Prozent klarstellt, auch wenn der Mord in einer Ellipse geschieht: Ein Ehepaar streitet sich; er (George Curzon) wirft ihr – dem Filmstar Christine Clay (Pamela Carme) – vor, eine Affäre mit dem jüngeren Drehbuchautor Robert zu haben, sie schmiert ihm ein paar. Nicht die üblichen Dämchenohrfeigen, sondern durchaus heftig und vor allem erkennbar voller Verachtung. Darob geht der Mann in den Regen und bekommt ein nervöses Blinzeln. Am nächsten Morgen wird Christine tot an der Küste angespült, in Badekleidung, die sie vorher nicht anhatte. Tolle Montage mit dem Wechsel von Küstenpanorama und Inserts, bei denen es sich theoretisch noch um eine lebendige Schwimmerin handeln könnte, aber wir ahnen das Gegenteil. Zudem verkündet eine Nahaufnahme von kreischenden Möwen das Unheil (so wie Vögel in der Mythologie und in weit mehr als nur einem berühmten Hitchcockfilm dies halt tun). Was geschah wirklich zwischen den Bildern?

Hitchcock (fast) auf der Höhe statt am Anfang

Ein junger Mann läuft zu der Leiche, scheint die Verblichene zu kennen, läuft wieder weg und wird von zwei Damen, die Letzteres noch sehen, der Untat verdächtigt. Die Täterschaft wäre zwar nicht völlig unmöglich – es gibt ja die Ellipse. Aber das noch in diese Richtung zu drehen, was das Blinzeln als billige falsche Fährte offenbaren würde, ist nicht Hitchcocks Niveau; also ist der Mann natürlich der unschuldig Verfolgte. Der einzige Vorwurf, den man dem Film hierbei machen muss, ist, dass sein an sich gelungener Humorfaktor einen gewissen Preis hat. Allzu sehr werden die Staatsgewaltvertreter als Vollpfosten dargestellt. Auch dies ist natürlich ein Stück weit typisch für den Meister, der es mit der Polizei nicht so hatte, nachdem er als kleiner Steppke einen Moment in der Arrestzelle eingesperrt gewesen war und Papa es aus erzieherischen Gründen für sinnvoll hielt, ihn nicht stante pede abzuholen. Inwieweit das Koinzidenz oder Kausalität ist, lässt sich freilich nicht leicht sagen.

Es ist natürlich ein eher früher Hitchcock, aber anders, als der Klappentext suggeriert, auch nicht so ganz ein Werk, in dem es bemerkenswert ist, dass der Mann schon seine Markenzeichen und Könnerschaft einbringen konnte. 1937 war er zumindest in seiner Heimat England bereits eine feste Größe und seit 1925 Langfilm-Regisseur, der 1927 mit „Der Mieter“ erstmals einen hitchcocktypischen Thriller (und einen meiner liebsten Stummfilme) gedreht hatte. Er wusste, was er da tat, wie er das Publikum herumkriegte und bei der Stange hielt. Das Schöne für den Rezensenten: Man merkt, wie er das machte. Und für den Gucker: Man genießt es nicht trotzdem, sondern auch deshalb.

Der Bobby ist nicht Robert zugeneigt

Wenn wir uns den geschickten Dialog des Streits noch einmal vergegenwärtigen, ahnen wir, warum Mordopfer und Finder einander kannten: Es handelt sich natürlich um den Drehbuchautor Robert (Derrick De Marney), der Christine einmal ein Skript verkauft hatte. Interessanterweise (aber das mag im Auge des Betrachters liegen) wird der Ehebruchsverdacht, den der mordende Gatte geäußert hatte, nie völlig entkräftet. Ob Roberts etwaiger Fehltritt nun doch irgendwie für einen gewissen Anteil Schuld stehe? Der Filmpublizist Ulrich von Berg verriss im Sammelband „Alfred Hitchcock“ (hrsg. v. Lars-Olav Beier und Georg Seeßlen, 1999) „Der zerrissene Vorhang“ (1966) und bei der Gelegenheit quasi das Gesamtwerk des Regisseurs. Ob sein Lästern über das angeblich Moralinsaure des Jesuitenzöglings Hitchcock auch in „Jung und unschuldig“ einen Anknüpfungspunkt fände, muss aber Spekulation bleiben.

Pärchen auf der Flucht

Zunächst einmal kippt Robert nach dem Verhör um und wird von Erica (Nova Pilbeam) aufgepäppelt. Sie wird zu Recht als Hauptfigur genannt, gibt die Tochter des Polizeipräsidenten (Percy Marmont) und war wirklich jung, wenngleich schon Frau. Gerade siebzehn, hatte sie noch in Hitchcocks „Der Mann, der zuviel wusste“ (1934) eine wichtige Kinderrolle gehabt (als Vorgängerin des kleinen Jungen, den Filmmutter Doris Day in Hitchs bekannterer, gleichnamiger Neuverfilmung von 1956 mit dem berühmten Lied „Che Serà, Serà“ rettet).

Die toughe, pragmatische Frau bildet bald den weiblichen Part eines „Love on the Run“-Duos, zumal sie nach einer gewissen Zeit auch von Roberts Unschuld überzeugt ist. Das ist immer ein Motiv für spannende und manchmal spaßige Situationen des britischen Kriminalfilms der 1930er-Jahre, wobei sich zu der Flucht auch das Detektivspiel gesellt. Es sei gestattet, hier auch einmal auf einen unbekannteren Vergleichsfilm hinzuweisen; „The Ghost Camera“ (1933): Nicht nur war Hauptdarstellerin Ida Lupino mit 15 noch jünger als Nova Pilbeam. Auch sei dieses Werk dringend dem Vergessen entrissen, handelt es sich doch um einen der besten Hitchcocks not made by Hitchcock; eine Perle in modern-lebendigem Schnitt, der Mischung aus Spannung und sehr britischem Humor und der Chemie der Hauptfiguren (wo ebenfalls die Frau die Pragmatischere ist). „Jung und unschuldig“ hat das Lob nicht so nötig, aber verdient. Der Film ist insoweit konsequent, als sich Hitch um den wirklichen Schurken außer am Schluss kaum kümmert und ganz bei dem Konflikt Pärchen vs. Polizei ist. Er hatte im Gespräch mit Peter Bogdanovich seinen „Die rote Lola“ (1950) als schwach bezeichnet, weil die Schurken Angst hätten. Und gemäß seinem „Je gefährlicher der Schurke, desto besser der Film“ müsste man auch „Jung und unschuldig“ abstempeln, aber ihn mochte Hitchcock. An seinen Ausführungen im Interview mit François Truffaut ist indirekt ersichtlich, dass es ihm eher um das ging, dessentwegen der Filmtitel Programm ist: Sehr junge, unschuldige Menschen in eine bedrohliche Situation hineinzuwerfen und auch am Rande die Jugend zu zeigen (Kindergeburtstagsszene!), und der Fokus liegt eben nicht auf dem wahren Täter, sondern auf der Staatsmacht und auf skurrilen Situationen.

Robert in der Zange

Das geht auch fast immer auf; zudem gibt es Hitchcockschen Suspense mit dem Mittel des Informationsvorsprungs: einmal kurz, als Polizisten die eine alte Mühle herunterkletternden Beine unseres Pärchens im Gegensatz zu uns nicht sehen, und einmal lang, gegen Ende. Dort ist es leider nicht ganz rund, denn im letzten Akt wird die Flucht zu einer Schnitzeljagd, in der Erica und Robert ein paar Hinweise haben, mit denen sie den wahren Täter finden können. Mithilfe eines alten Penners (Edward Rigby – spaßig, wie er sich für das Finale in einem Nobelhotel in feinen Zwirn winden und entsprechend aufführen muss), der den Täter kennt, sucht Erica nach dem blinzelnden Mann. Mit etwas viel Eigenlob beschreibt Hitchcock gegenüber Truffaut, wie in einer aufwendigen Kamerakranfahrt durch den Hotel-Tanzsaal schließlich die Augen des Band-Schlagzeugers übergroß herangezoomt werden, um zu blinzeln. Handwerklich ist das ohne Zweifel herausragend, ästhetisch ist es seiner Zeit voraus (von wegen, erst Sergio Leone habe Augenpaare in Großaufnahme gezeigt), dramaturgisch dient es dem Informationsvorsprung, denn unsere Hobbydetektive haben den Mann da noch gar nicht entdeckt. Aber so entstehe laut Hitchcock Suspense? Dazu ist die Technik und Ästhetik dann doch zu sehr Ausstellungsstück, deren Kunstfertigkeit und Dauer sich umgekehrt proportional zur Gefährlichkeit des Mörders verhält. Er ist völlig fertig und wird kurz nach dem Blinzeln schwer gestört den Rhythmus fortwährend versemmeln, um schließlich vom Stuhl zu kippen. Das Vorherige wird so zum wenn auch eleganten Popanz und man möchte nur mit Loriot „Ach was!“ rufen, wenn der Mann endlich blinzelt.

Ein Sammelsurium an Hitchcockismen, und es geht auf – jedenfalls meistens

Letztlich ist das nicht allzu schlimm in einem Film, der gut und in sämtlichen Gestaltungsmitteln viel ausgereifter als die Massenware seiner Zeit ist. Es ist natürlich Geschmackssache, ob man sich an Hitchcock-Markenzeichen erfreut oder ob man diese zu redundant findet und Regisseure bevorzugt, die stärker Diener ihrer Sujets sind. Hier gibt es im positiven Sinne doch einiges, das sich nicht aufdrängt und eher am Rande eingeflochten wird; beispielsweise die Kindergeburtstagsszene als Kalamität ausgerechnet in scheinbar geschützter Öffentlichkeit – insoweit ist „Der unsichtbare Dritte“ (1959) nicht die einzige, aber eine besonders schöne Vergleichs-Fundgrube. Die nur kurz, aber schroff und so nah wie laut präsentierten Vögel gefallen natürlich sowieso. Und wie in einer kleinen Gemeinschaft über eine Untat gesprochen wird und dies einerseits fein zynisch beobachtete Sensationsgier, andererseits Pein für die Hauptfigur ist, lässt sich beispielsweise in „Der Mieter“ (1927), „Erpressung“ (1929), „Im Schatten des Zweifels“ (1943) und „Frenzy“ (1972) bestaunen. Hier nun sind es die Gespräche bei der Familienmahlzeit mit Erica und ihren jüngeren Brüdern, die wild spekulieren und noch nicht wissen, dass Erica Robert längst kennengelernt hat.

Sie kennt ihn längst – nach dieser Begegnung bei der Polizei

Eine typische „Jemand droht in den Abgrund zu stürzen“-Szene einschließlich ausgestreckter Hand und weit aufgerissener Augen aus der Vogelperspektive gerät aber etwas anachronistisch. Was in „Der unsichtbare Dritte“ und „Saboteure“ (1942) spannendes Finale ist (auch wenn Hitch bei Letzterem nicht zu Unrecht bedauerte, dass der Schurke statt des Helden in Gefahr ist), kommt hier eher mittendrin: Ericas Auto stürzt in einem Bergwerk durch einen eher zufälligen Kataklysmus in die Tiefe und Robert muss zusehen, dass es seine Holde dem Vehikel nicht gleichtut. Dies passt nicht dazu, dass der Film ansonsten keinen Zweifel lässt, wer für wen der Glücksbringer ist. Erica ist die stärkere Figur, die Robert ein ums andere Mal aus der Patsche helfen muss – und kann. So erweckt sie ihn nicht nur aus der Ohnmacht und hilft ihm bei der Flucht, sondern geht an anderer Stelle seine männliche Ritterlichkeit ins Leere, als er sich in eine Wirtshausklopperei wirft, um dann feststellen zu dürfen, dass sie es ganz allein aus dem Getümmel geschafft hat.

Gute Blu-ray – und wie sollte man mit dem Blackfacing umgehen?

Pidax präsentiert hier einmal eine gelungene Edition. Die Blu-ray verfügt über ein scharfes, kontrastreiches Bild. Dass dies auf Kosten einer minimalen Körnigkeit geht, ist bei Blu-rays sehr alter Filme oftmals so und anscheinend nicht zu vermeiden. Bei einem angemessenen Abstand vom Fernseher fast nicht bemerkbar. Neben dem englischen Ton gibt es die west- und die ostdeutsche Synchronisation. Unterschiede aus politischen Gründen wird man vermissen und sind bei dem Stoff auch nicht naheliegend, wenngleich es so etwas in der DDR durchaus gab, siehe meinen Text zu „Das Domino-Komplott“. Als Bonus fungieren die Dokumentation „The Early Years“ und ein wertvolles, weil aus heutiger Sicht einigermaßen kurioses Zeugnis (west)deutscher TV-Kultur von 1966: Da war Hitchcock zu Gast beim „Frankfurter Stammtisch“, an dem die Weiblichkeit auf die Kellnerin reduziert ist und vier nicht mehr ganz junge Herren (in zwei Fällen mit Stilsünden-Hornbrillen) sich zunächst Hessisch babbelnd in ihrer provinziellen Spießbürgerlichkeit aalen. Nach rund 15 Minuten erscheint endlich der Gast, der sein gebrochenes Deutsch (immerhin mehr als nichts) spricht und ansonsten das macht, was er immer machte: Selbstdarstellung im ewiggleichen schwarzen Anzug zuzüglich schwarzer Krawatte und mit dem prätentiösen Gehabe, welches schon seine TV-Anmoderationen in „Alfred Hitchcock präsentiert“ (1955–1962) und „Alfred Hitchcock zeigt“ (1962–1965) für die einen zum Kult, für die anderen nur schwer erträglich werden ließ.

Hier ist mal die Frau am Abgrund

Etwas anderes ist ein reines Gedankenspiel und sehr zeitgebunden – wieweit dies so bleiben wird, muss sich im Laufe der Jahre erweisen: Der Grund, aus dem der Blinzler erst nicht erkannt wird, hat damit zu tun, dass die Swing-Kapelle, der er angehört, Blackfacing betreibt. Das war damals natürlich verbreitet; Al Jolson machte es in seinen Auftritten wie in dem berühmten „Der Jazzsänger“ (1927); Benny Goodman tat hingegen etwas, das eigentlich naheliegt, damals aber seiner Zeit voraus war: Er engagierte einfach tatsächlich schwarze Musiker, wenn sie nur gut waren. In der heutzutage scharf geführten Diskussion um den Umgang mit Kunstwerken einer anderen Zeit hätte man durchaus erwägen können, wie bei „Vom Winde verweht“ (1939) und einigen Disneyklassikern einen einführenden Texthinweis vor den Film zu setzen. Von Eingriffen in das Werk selbst sei dringend abgeraten – hier wäre dies angesichts der zentralen Bedeutung der Szene nicht durch Kürzen, sondern nur durch digitales Whitefacing möglich, was aber dem Nicht-Erkennen des Täters den Grund rauben würde. Der Vorab-Hinweis wäre ein guter Kompromiss, um das Original nicht anzutasten, sondern sowohl als zeitloses Werk wie auch als Werk seiner Zeit Zeugnis ablegen zu lassen. Da der Film dies aber auch für sich genommen tut und einem Zuschauer, der aus ihm die vermeintliche (!) Minderwertigkeit Schwarzer ableitet, mutmaßlich sowieso nicht mehr zu helfen ist, ist so ein Hinweis weder schlecht noch notwendig.

Zu Ansgar Skulmes Rezension von „Jung und unschuldig“ geht’s hier. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Alfred Hitchcock haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 10. Dezember 2021 als Blu-ray und DVD, 10. September 2018 als DVD

Länge: 83 Min. (Blu-ray), 80 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch (2021: DDR und BRD), Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Young and Innocent
GB 1937
Regie: Alfred Hitchcock
Drehbuch: Charles Bennett, Alma Reville, Edwin Greenwood, Anthony Armstrong, nach dem Roman „A Shilling For Candles“ von Josephine Tey
Besetzung: Nova Pilbeam, Derrick De Marney, Percy Marmont, Edward Rigby, Mary Clare, John Longden, George Curzon, Basil Radford, Pamela Carme
Zusatzmaterial 2021: Dokumentation „The Early Years“ (23 Min.), „Rezepte aus der Gruselküche – Alfred Hitchcock zu Gast beim Frankfurter Stammtisch“ (45 Min.), Bildergalerie, Trailershow, Werbematerial (PDF), Wendecover
Zusatzmaterial 2018: Dokumentation „The Early Years“, Trailer, Trailershow, Wendecover o. FSK und 2. Motiv
Label 2021: Pidax Film
Vertrieb 2021: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2018: Supreme Film

Copyright 2021 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 Pidax Film

 

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