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Der rote Schatten – Mad Scientist mutiert zum Zirkusdirektor

14 Mär

Circus of Horrors

Von Volker Schönenberger

Horrorthriller // Im England des Jahres 1947 rennt die wohlhabende Evelyn Morley (Colette Wilde) schreiend durch ihr abgelegenes Anwesen und zerschmettert alle Spiegel, die ihr ihr entstelltes Gesicht präsentieren. Verpfuscht vom plastischen Chirurgen Dr. Marc Rossiter (Anton Diffring, „Agenten sterben einsam“), der die Flucht antritt, eine Straßensperre durchbricht und kurz darauf einen Unfall erleidet, sich aber zu seiner ihn vergötternden Assistentin Angela (Jane Hylton) und ihrem Bruder Martin (Kenneth Griffith, „Die Wildgänse kommen“) retten kann. Dem Trio gelingt es, nach Frankreich zu entkommen. Dort schlüpft Rossiter unter dem Namen Dr. Bernard Schüler mit Angela und Martin bei einem heruntergewirtschafteten Zirkus unter. Dessen Direktor Vanet (Donald Pleasence, „Halloween – Die Nacht des Grauens“) hat eine Tochter, Nicole (Carla Challoner), deren Gesicht Narben einer Bombenexplosion aufweist.

Evelyn Morley ist mit ihrem neuen Gesicht alles andere als zufrieden

Zehn Jahre später gastiert der Zirkus in Berlin. Dr. Rossiter konnte Vanets Tochter seinerzeit operativ von ihren Narben befreien, Nicole (nun Yvonne Monlaur) hat sich zu einer aparten jungen Reitartistin entwickelt. Unter der Leitung von Rossiter alias Schüler hat sich der Erfolg eingestellt, was nicht zuletzt an den neu hinzugekommenen Artistinnen und Artisten liegt. Diese hat der neue Zirkusdirektor in der Halb- und Unterwelt rekrutiert – es sind Kriminelle, denen er mit seiner verfeinerten Operationstechnik neue Gesichter verschafft hat. So etwa Elissa Caro (Erika Remberg), eine Prostituierte, die Rossiter dabei beobachtet hatte, wie sie einen Freier absticht, der sie berauben wollte. Damit seine Angestellten bei der Stange bleiben, hat Rossiter Dossiers über ihre Vergangenheit angefertigt. Und wenn doch mal jemand beschließt, den Zirkus zu verlassen – wehe ihm oder ihr! So hat sich der Zirkus in Europa dank diverser tödlicher „Unfälle“ einen morbiden Ruf erarbeitet. Zurück in England, stellt sich ein Besucher (Conrad Phillips) Schüler als Journalist Arthur Desmond vor, der einen Artikel über den „Circus of Horrors“ plane, was Schüler empört zurückweist. Er ahnt nicht, dass es sich bei dem angeblichen Journalisten um Inspector Ames von Scotland Yard handelt.

Haben die einen Schatten?

Bei „Der rote Schatten“ muss man sich auf einige Ungereimtheiten und Unglaubwürdigkeiten einlassen, um das Werk goutieren zu können. Nun gut, das mag für viele Produktionen aus dem Segment niedrig budgetierten Horrors gelten, aber die Chuzpe ist doch bemerkenswert, mit der hier der dank eines plastischen Chirurgen florierende Zirkus präsentiert wird. Mit Gesichtsoperationen werden neue Artistinnen und Artisten rekrutiert – check! Es mangelt nicht an im Gesicht entstellten Versuchskaninchen, die sich bereitwillig unter das Messer eines ihnen völlig Unbekannten begeben – check! Narbige Angehörige der Halb- und Unterwelt erweisen sich als talentierte Zirkuskünstler – check! Kriminelle mit neuem Gesicht lassen sich mittels einer Akte erpresserisch bei der Stange halten – check! Eine Todesserie hält diejenigen, denen dasselbe blühen kann, nicht davon ab, das Weite zu suchen – check! Wer doch das Weite suchen will, kündigt dies zuvor an und gibt Rossiter so erst Gelegenheit zur Rache – check! Besagte Todesserie erregt zwar die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Behörden, doch das Treiben im Zirkus kann unbehelligt weitergehen – check!

Direktor Vanet hat kein Händchen für seinen Zirkus

Dass die Geschwister Angela und Martin die Machenschaften des Chirurgen von Anfang an durchschauen, passt da ebenfalls ins Bild – oder eben nicht ins Bild, wenn man so will. Angela wird als durchaus mitfühlendes menschliches Wesen charakterisiert. Bei einem tödlichen Zwischenfall während des Frankreich-Aufenthalts erkennt sie sogar, dass Rossiter daran zumindest eine Mitschuld trägt, weil er bewusst untätig geblieben ist – an ihrer Liebe zu ihm ändert das nichts. Psychologisch durchdacht ist sie nicht gezeichnet. Ihre tiefen Gefühle für den Fiesling werden fast noch von ihrem Bruder getoppt, der Rossiter offenbar schlicht hörig ist und sich als dessen willfähriger Handlanger erweist.

Rossiter alias Schüler hingegen hat ein Händchen für die Frauen

Wer über all diese Drehbuch-Unsauberkeiten kräftig ein Auge zudrückt, kommt in den Genuss eines bunten Zirkusspektakels mit einem Panoptikum schillernder Gestalten. Das nimmt zwar noch nicht ganz surreale Züge an, aber das Produktionsdesign verleiht dem Werk einen fast schon Pop-Art zu nennenden Charakter. Herrlich der von einem kostümierten Darsteller verkörperte Gorilla! Dazu gesellt sich eine Kombination aus sexuellen Andeutungen und Gewalt, die für jene Zeit bemerkenswert ist (wobei zugegeben in jenen Jahren auch Hammer Films mit ähnlichen Motiven auf den Plan trat). Nach heutigen Maßstäben mutet das harmlos an, aber was mag sich 1960 das englische Filmpublikum gedacht haben? Shocking!

Anton Diffring geht über Leichen

Als „Mad Scientist“ mit eiskaltem Blick und ebensolcher Seele überzeugt der Deutsche Anton Diffring, der seinerzeit im englischsprachigen Raum durchaus interessante Figuren verkörperte (das eine oder andere Mal natürlich auch den stereotypen Deutschen). Sein dominantes Charisma mag als Erklärung dafür herhalten, dass er so viel Macht über andere hat und diese auch skrupellos einsetzt. Dabei opfert „Der rote Schatten“ die Horror-Atmosphäre über weite Strecken zugunsten von Thrillerelementen – bis der Horror bei einigen Todesszenen seine Position einfordert. Zudem spielt der noch nicht allzu viele Jahre zurückliegende Zweite Weltkrieg in die Stimmung des Films hinein, man beachte etwa die Entwurzelung vieler der auftauchenden Figuren. Einen eindeutigen Hinweis auf den Krieg liefert auch die kleine Nicole, deren entstelltes Gesicht wie erwähnt von Bomben herrührt – kein Einzelfall, wie wir beiläufig erfahren.

Tod in der Manege

Die im Vereinigten Königreich realisierte britische Produktion wurde mit US-Geld von American International Pictures umgesetzt, weshalb deren Gründer und Eigner Samuel Z. Arkoff als Produzent fungierte. Im Verbund mit „Das schwarze Museum“ (1959) und dem Karlheinz-Böhm-Karrierekiller „Augen der Angst“ (1960) bildet „Der rote Schatten“ die sogenannte „Sadean Trilogy“ (bisweilen auch „Sadian Trilogy“) der englischen Produktionsfirma Anglo-Amalgamated. Dabei ist allerdings zu vermuten, dass die drei Filme nicht als zusammenhängend konzipiert waren, sondern in der Rückschau aufgrund der ihnen innewohnenden Gemeinsamkeiten in puncto Grausamkeit, Gewalt und Sadismus in Verbindung mit sexuellen Andeutungen zu dieser Trilogie zusammengefasst wurden.

Noch ein Tod in der Manege

Für den schottischen Regisseur Sidney Hayers („Wie ein Schrei im Wind“, 1966) markierte „Der rote Schatten“ die dritte Regiearbeit. Bis Ende der 1970er-Jahre noch stark im Kino verankert, war er ab dann bis zu seinem Karriereende 1999 fast ausschließlich fürs US-Fernsehen aktiv. Er starb im Februar 2000 im Alter von 78 Jahren

Teil 10 der „Classic Chiller Collection“

Nachdem Anolis Entertainment „Der rote Schatten“ 2005 als zweiten Teil der Reihe „British Horror Classics“ veröffentlicht hatte, ließ Ostalgica dem im Januar 2021 unter dem Originaltitel „Circus of Horrors“ eine Blu-ray als zehnten Teil der „Classic Chiller Collection“ folgen. Das kleine Label Ostalgica ließ dafür eigens exklusives Bonusmaterial anfertigen, etwa einen neuen Audiokommentar, eingesprochen von Lars Dreyer-Winkelmann. Zudem gibt es einen Video-Essay von zwei weiteren Kennern des klassischen Kinos – Lars Johansen, Autor bei „Die Nacht der lebenden Texte“ und 35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin sowie Marco Koch, stellvertretender Chefredakteur erwähnter Zeitschrift und Betreiber der empfehlenswerten Filmseite Filmforum Bremen. Video-Essay bedeutet: Die beiden referieren in die Kamera, erst Lars für acht Minuten, dann 20 Minuten lang Marco. Das fällt erwartungsgemäß informativ und kenntnisreich aus, was insbesondere für Marcos Ausführungen zur britischen Filmzensur gilt. Allerdings erliegen die zwei für mein Empfinden der Versuchung, Filmtitel, Namen und Daten abzuspulen, von denen bei einem solchen Vortrag zu wenig beim Zuhörer hängen bleibt; dies war mir bereits in Marcos Video-Essay im Bonusmaterial von „Der 13. Gast“ (1951) aufgefallen. Beide Veröffentlichungen stammen aus der Frühzeit ihres Mitwirkens an der „Classic Chiller Collection“, sodass zu hoffen ist, dass derlei Boni zunehmend analytischer ausfallen. Es ändert ohnehin nichts an der Qualität dieser feinen Veröffentlichung von „Der rote Schatten“ unter dem Originaltitel „Circus of Horrors“. An die Glanztaten aus dem Hause Hammer Films kommt das Werk nicht heran, aber diese Messlatte muss man auch erst mal erreichen. Wer sich für diese Phase des britischen Horrorkinos interessiert, bekommt ein originelles Werk in ansprechender Edition geboten.

Die „Classic Chiller Collection“ von Ostalgica haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgeführt. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Anton Diffring und Donald Pleasence haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Und noch ein Tod in der Manege

Veröffentlichung: 29. Januar 2021 als auf 1.000 Exemplare limitierte 2-Disc Special Edition (Blu-ray & Soundtrack-CD), 17. März 2005 als DVD

Länge: 92 Min. (Blu-ray), 88 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: Circus of Horrors
Alternativtitel: Der Narbenteufel / Phantom of the Circus
GB 1960
Regie: Sidney Hayers
Drehbuch: George Baxt
Besetzung: Anton Diffring, Erika Remberg, Yvonne Monlaur, Donald Pleasence, Jane Hylton, Kenneth Griffith, Conrad Phillips, Jack Gwillim, Vanda Hudson, Yvonne Romain, Colette Wilde, William Mervyn, Carla Challoner, John Merivale, Peter Swanwick
Zusatzmaterial Blu-ray: Audiokommentar von Lars Dreyer-Winkelmann, Video-Essay von Lars Johansen und Marco Koch (8:18 Min. & 20:48 Min.), englischer Kinotrailer, TV-Spots, „Trailers from Hell“ mit John Landis, Bildergalerien (Fotos, Werbematerial und Skript), Trailershow, 16-seitiges Booklet mit einem Text von Carsten Henkelmann, Soundtrack von Franz Reizenstein & Muir Mathieson, Wendecover
Zusatzmaterial DVD: Interview mit Yvonne Monlaur (25 Min.), Filmprogramm „Illustrierte Filmbühne“, Filmflyer „Rank“, Bildergalerie, Trailer, TV-Spot, 4-seitiges Booklet mit einem Text von Uwe Bauer
Label Blu-ray: Ostalgica
Vertrieb Blu-ray: Media Target Distribution GmbH
Label DVD: Anolis Entertainment
Vertrieb DVD: EMS GmbH

Copyright 2023 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & gruppierter Packshot: © 2021 Ostalgica,
„Der rote Schatten“-Packshot: © 2005 Anolis Entertainment

 

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