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Sidney Lumet (IX): Der Anderson-Clan – Brandaktuell bis auf das Ende

22 Mär

The Anderson Tapes

Von Tonio Klein

Thriller // „Der Anderson-Clan“ steht in der Tradition der „Heist Movies“, bei denen die Planung und Ausführung eines Raubzuges im Vordergrund steht. Die eigenwillige Gruppendynamik. Die Zugeständnisse, welche die Hauptfigur notgedrungen machen muss und die sie in Schwierigkeiten bringen werden. Das Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei, „Kollegen“, Konkurrenten. Das alles enthält der Film. Und viel mehr.

Safeknacker und Knacki „Duke“ Anderson (Sean Connery) kommt nach zehn Jahren raus und will gleich wieder ein Ding drehen, selbstredend das letzte. Seine Welt hat sich aber verändert, abgesehen davon, dass er als Brite in New York zusätzlich entwurzelt ist: Das Safeknacken gelingt ihm nicht mehr mit leichter Hand; er überlässt dies seinem Kumpel „Kid“ (frühe Rolle für Christopher Walken), der aber auch kaum versierter ist.

Panzerknacker haben’s schwer

Und die Menschen schützen sich besser gegen Einbrüche und Überfälle; Audio- und Videoüberwachung sind allgegenwärtig – nicht nur zu diesem Zweck. Wer hier wen wie warum überwacht, ist ein kaum zu durchschauender Wahnsinn. Regisseur Sidney Lumet hat noch vor dem Watergate-Skandal die Überwachung zum Thema seines Filmes gemacht und dies mit dem klassischen Heist Movie verknüpft. Kann das gutgehen?

Paranoia Heist

Zunächst stößt einen die Kombination aus Paranoiathriller und Heist Movie ein wenig vor den Kopf. Rührend altmodisch sehen all diese Kameras und besonders Röhrenmonitore und Tonbänder aus. Man fragt sich, ob Lumet da rückschauend nicht offene Türen einrennt. Und ob er des Kritischen nicht entschieden zu viel präsentiert. Irgendwann steigt man durch diese multiplen Überwachungsaktionen kaum noch durch, aber der Krimi geht unverdrossen weiter, scheinbar unbeeindruckt davon, nach Schema F, bisweilen sogar regelrecht klischeehaft, etwa mit der Figur eines homosexuellen Antiquitätenhändlers (Martin Balsam).

Eine verrohte James-Bond-Variante

Aber dann geht es doch noch gut, und wie! „Der Anderson-Clan“ gewinnt in der Schlussphase ungemein und fügt sich dadurch auch insgesamt zu einer nicht nur sinnvollen, sondern ätzenden, galligen, bisweilen misanthropischen Satire zusammen, bei der man mal lachen kann, aber einem das Lachen zumeist im Halse steckenbleibt. Genau betrachtet hat er kaum sympathische Menschen. Duke ist die verrohte Version von Connerys Bond; Connery sieht noch so ähnlich aus (etwa in derselben Zeit entstand „Diamantenfieber“), aber härter, ohne Toupet, mit einzelnen grauen Härchen. Viril wie Clark Gable, aber nicht so charmant. Eher schon ein Hedonist, auch wenn er noch Rest-Anstand hat und einmal einen besonders brutalen Gangster mühsam zurückhalten muss. Duke schwingt linke Reden und vergleicht sein Handeln mit Auswüchsen des Kapitalismus, aber er entlarvt das zugleich als Farce. Gegenüber der Jagd aller nach dem Mammon übt er keine Kritik, solange er nur das größte Stück vom Kuchen abbekommt. Ein bisschen sexuelle Erregung spielt auch noch eine Rolle; das Knacken eines Safes wird deutlich mit dem „Öffnen“ von (…) gleichgesetzt. Interessanterweise ist Letzteres das Einzige, was Duke im Laufe des Filmes gelingen wird – er schafft es, dass seine ansonsten eiskalte Freundin Ingrid (Dyan Cannon) erstmals Lust empfindet. Doch dies hilft nicht: Sie hat sogleich Angst vor ihrer eigenen Verletzlichkeit, und er muss sich mit Tonbändern von diesem Liebesakt erpressen lassen.

Wer zuerst lacht, lacht am schlechtesten

Spätestens bei der Ausführung des Raubes merken wir an einer Vielzahl von auf einmal wichtigen Nebenfiguren, für wie verkommen der Thriller die meisten Menschen hält. Wie auch in seinem letzten Film „Tödliche Entscheidung“ (2007) erzählt Lumet nicht chronologisch, sodass wir relativ früh wissen: Die Räuber werden geschnappt werden. Zeitsprünge zwischen den späteren Aussagen der Opfer und dem Fortgang des Raubes geben sich die Klinke in die Hand und werfen durch ihre ständige Gegenüberstellung ein zusätzliches Schlaglicht auf menschliche Niedertrachten (beispielsweise Suggestivfragen der Polizei und unaufrichtige Schilderungen der Opfer von einem Geschehen, das wir sogleich im Zeitsprung zurück ganz anders sehen). Dazu muss man wissen, dass Anderson und seine Bande ein ganzes Nobel-Appartementhaus in Manhattan ausrauben, was entsprechend viele Bewohner und ihr Verhalten zeigt. Manchmal sollen sich in Extremsituationen ja die Zungen lösen und soll der wahre Charakter eines Menschen zutage treten (zu sehen zum Beispiel in „Der versteinerte Wald“, 1936). So ist das hier. Lustig ist noch, dass eine gefühlt Neunzigjährige das alles eher interessant findet und über ihre Mitbewohnerin lästert („Sie müssen mal gucken, was die liest. Nur Pornos. Die hat nur Sex im Kopf und ist schon 72.“). Wenig lustig sind andere Miniaturen; einige seien genannt: Da gibt es den Mann, der lieber seine Frau foltern lässt als die Safe-Kombination zu verraten. Und den selbstherrlich-herablassenden Polizeichef, der einem Sergeant befiehlt, mit seinem Team in einer halsbrecherischen Kletter-Aktion von oben in das Gebäude einzudringen, obwohl das angesichts des Riesen-Polizeiaufgebotes wohl kaum nötig wäre. Gerade die verachtende Art und Weise, in der er den Auftrag erteilt, hinterließ bei mir den Eindruck: Dass der Befehlsempfänger schwarz ist, dürfte kein Zufall sein. Herrlich indirekte Kritik durch bloßes Zeigen statt durch Dozieren.

Die Kletterei als Farce

In Richtung absurde Farce geht zudem, dass sich all diese Abhöraktionen als gänzlich ineffektiv erweisen. Kein Lauscher weiß von dem anderen, der Raub findet ungehindert statt; stattdessen achten die Überwacher auf nebensächlichen Kram. Dies mag auch den (noch am sympathischsten) Klischee-Homosexuellen erklären und rechtfertigen. „Ein Homosexueller, etwa 40, betritt das Haus“, sagt ein Überwacher einmal ins Mikro – kann man das bereits SEHEN? Und wofür ist das wichtig? Wir wissen es nicht! Wir können aber fassungslos den Kopf schütteln angesichts des extrem verschlungenen Pfades, auf dem die Polizei dann doch noch informiert wird. Das muss man einfach selbst gesehen und die entsprechenden Dialoge („Übernehmen Sie die Kosten für das Gespräch?“) selbst gehört haben. Nur soviel: Mit der ganzen Überwacherei hat es nun wirklich nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Guter Stil ist Stil, den man nicht sieht

Also sprach Lumet, der Stilist, der den Stil aber nie zum Selbstzweck werden lässt. So hält er sich mit Mätzchen zurück, aber das eine oder andere fällt gleichwohl auf. Das eher verwaschene New York kontrastiert mit teils schreienden Farben, zum Beispiel bei Ingrid, die dadurch gleichsam fassadenhaft wie unsicher wirkt; dito der oben erwähnte Mann mit dem Safe, der seinen Reichtum genießt und im Moment der Bedrohung seine hässliche Fratze offenbart. Neben Farbe ist die Gestaltung des filmischen Raumes wichtig. Lumet liebt tiefenscharfe Fluchtperspektiven, Weitwinkel, ungewöhnliche Kameraperspektiven. Mit Letzterem unterstreicht er Absurdität wie Gefährlichkeit der erwähnten Fassadenkletterei. Mit Ersterem zeigt er am Ende, wie minutiös der Polizeieinsatz geplant ist (die ganze Straße ist leer, aber am Ende wartet das Polizeiaufgebot), lässt dies aber immer mit der beschränkten Sicht der Räuber kontrastieren, die tatsächlich nicht sehen können, was sich über ihnen zusammenbraut. Sehr spannungssteigernd und durch die Totale dem Zuschauer den berühmten Informationsvorsprung gegenüber den Protagonisten gebend. Hingegen können all diese Überwachungskamerabilder, genau wie der Blick der Gangster aus dem Fenster, immer nur eine begrenzte Sicht gewähren, was das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag des Observierungswahns noch stärker herausstreicht.

Als die Abhörer noch vom Unrecht wussten

Es wäre interessant gewesen, was Lumet zu späteren Abhörskandalen gesagt hätte, wie beispielsweise zur Globalen Überwachungs- und Spionageaffäre, in die der US-Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) maßgeblich verwickelt war. Diese hatte 2013 Edward Snowden aufgedeckt, und wir haben uns mittlerweile bedauerlicherweise daran gewöhnt. „Natürlich hören wir euch ab“, so ein CIA-Agent in Brian De Palmas „Domino – A Story of Revenge “ (2019). Solchem Gebaren scheint Lumet schon vorzugreifen, doch eines hat er sich nicht in seinen kühnsten Albträumen ausgemalt: dass den Verantwortlichen fürs illegale Überwachen einmal jegliches Unrechtsbewusstsein fehlen würde. In der letzten Szene sieht man, wie alle Organisationen unabhängig voneinander ihre Bänder löschen, damit ja nicht herauskomme, dass sie selbige illegal bespielt hatten. Was – auch durch den ungewöhnlichen Einsatz elektronischer Toneffekte und einer giftgrünen, computertechnisch anmutenden Schrift – wohl bedrohlich wirken soll, wäre heutzutage fast schon ein Aufatmen wert, nach dem Motto: Hurra, die haben noch Angst, erwischt und bestraft zu werden.

So viel muss gelöscht werden – und passt heute millionenfach auf einen Chip

Heute gilt eher, dass alle Dienstvorgesetzten bis hin zum US-Präsidenten dafür sorgen, dass die Schlapphüte sich sicher fühlen können. Merkels Handy wurde abgehört? Okay, dann hören wir von nun an damit auf (womit Obama seinerzeit zugab, dass es stimmte und er es nicht für sonderlich aufregenswert hielt). Gerade deswegen ist extrem schade, dass der bis ins hohe Alter aktive Lumet nun doch nicht mehr lebt und dazu weder etwas sagen noch einen Nachfolgefilm machen kann. Aber wir haben ja „The Anderson Tapes“, wenn auch hierzulande nur als Streaming-Angebot diverser Anbieter. Die 2003 veröffentlichte DVD ist vergriffen.

Das Bild trügt: Duke Anderson hat mit James Bond wenig gemein

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Martin Balsam, Sean Connery und Christopher Walken unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 2. November 2010 als 2 Movie Collector’s Pack DVD „Best of Hollywood“ (mit „Der Wind und der Löwe“), 28. Januar 2003 als DVD

Länge: 95 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: The Anderson Tapes
USA 1971
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Frank Pierson, nach dem Roman von Lawrence Sanders
Besetzung: Sean Connery, Dyan Cannon, Martin Balsam, Christopher Walken, Ralph Meeker, Alan King, Val Avery, Dick Anthony Williams, Garrett Morris, Stan Gottlieb, Paul Benjamin, Anthonly Holland, Richard B. Shull, Judith Lowry, Margaret Hamilton, Conrad Bain, Sam Coppola
Zusatzmaterial: Originaltrailer, Trailershow
Label/Vertrieb: Columbia TriStar

Copyright 2023 by Tonio Klein

Szenenfotos & Packshot: © 2003 Columbia TriStar

 

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