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Horror für Halloween (XX) / Dario Argento (XIV): Aura – Unterschätzter Argento, dessen Puzzleteile ein Ganzes ergeben

17 Okt

Trauma

Von Tonio Klein

Horrorthriller // In „Aura“ (1993) müssen sich der eingefleischte Fan von Dario Argento wie auch der Neuling erst einmal hereinfinden – zu viele verschiedene Einflüsse scheinen eine Sammlung fragmentarischer Szenen zu ergeben. Die ersten Szenen lassen sich überhaupt nicht zu einer Handlung zusammenfügen: Das Publikum bekommt eine Guillotinierung aus der Französischen Revolution als Papiertheater (!) zu sehen; ein typischer Argento-Mord an einer Physiotherapeutin (Isabell O’Connor) kommt mit schwarzen Handschuhen und subjektiver Kamera des Täters daher und zeigt eine fiese Kopf-Abtrenn-Drahtschlingen-Mordmaschine und erstmals den auch hier reichlich vorkommenden Einsatz von Tieren.

Die junge Aura Petrescu (Asia Argento), fast noch ein Mädchen, will sich von einer Brücke stürzen, wird aber vom Reporter David Parsons (Christopher Rydell) gerettet. Als Aura in einem Diner auf die Toilette geht und aus dem Hinterausgang verschwindet, folgen wir ihr und verlassen David – wieder eine andere Geschichte: Aura wird von der Jugendfürsorge aufgegriffen; sie kommt zu ihren Eltern (Piper Laurie, Dominique Serrand) in ein reichlich unheilschwangeres Haus, in dem zudem sogleich eine spiritistische Sitzung stattfindet.

Während dieser Sitzung schlägt der Kopf-ab-Mörder wieder zu, den die Medien in dem ihnen eigenen Zynismus fortan den Headhunter nennen. Der Mord weitet sich zu einer Serie aus und wird Aura und ihren Beschützer David mehr beschäftigen, als ihnen lieb ist. Hierbei scheint es fast, als würde der Film zu viel wollen und zu viele Themen aufbieten: Auras Anorexie und die vulgärpsychologischen Erklärungen, delirierende Fantasiesequenzen rund um Auras schwierige psychische Lage, seltsame Dunkelmänner aus dem Medizin- und Psychiatriebereich. Und Auras Mutter wollen wir von dem Moment an nicht recht trauen, als wir sie erstmals sehen. Da streckt sie ihre krakenartigen Hände direkt in die Kamera, übertrieben freundlich, grell geschminkt (in einem Film, der ansonsten nicht so grell aussieht wie manch anderer Argento), um die „verlorene Tochter“ wieder in die Arme zu nehmen. Mütter und autoritäre Mütterfiguren wie Internatslehrerinnen waren bei Argento eben noch nie wohlgelitten.

Erinnerung an Brian De Palma

„Trauma“, so der Originaltitel von „Aura“, scheint dann vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, was ihm ein wenig schadet. Durch die Musik Pino Donaggios und durch Settings wie ein Krankenhaus sowie die Bedrohung durch medizinische/psychiatrische Einrichtungen und familiäre Gewalt ist dies der Argento-Film, der am stärksten an Arbeiten des Regisseurs Brian De Palma erinnert, etwa an „Sisters – Die Schwestern des Bösen“ (1972) und „Dressed to Kill“ (1980). Doch De Palmas langgezogenen, auf die Zuspitzung eines einzigen Ereignisses zielenden Suspense-Szenen sind nicht Argentos Sache. Zu überbordend ist sein Material, zu plötzlich geschieht zu vieles, zu oft kommt etwas scheinbar völlig Neues, werden neue Nebenfiguren eingefügt, neue Rätsel aufgegeben, neue Opfer geköpft, neue Seitenwege der Handlung beschritten. Das ist nahezu immer interessant, geht aber stellenweise auf Kosten der atmosphärischen Dichte und lässt „Aura“ teilweise wie ein inspiriertes Rätsel erscheinen, bei dem man bangt, dass Argento seinen Ideenreichtum nicht so gut bündeln konnte und selbst nicht so genau wusste, was er wollte.

Das Beste kommt zum Schluss

Gleichwohl gewinnt der Horrorthriller ungemein im Schlussakt. Sicherlich, ein paar Dinge hätten herausgekonnt, wie Davids dominante Freundin Grace Harrington (Laura Johnson), streng, blond, mit Haarschnecke an Hitchcocks „Vertigo“-Blondine erinnernd und ihres Namens (Grace = Gnade) nicht würdig, als sich David in Aura verliebt. Aber viele der losen Fäden werden zu einer gleichsam stringenten wie faszinierenden Geschichte zusammengeführt; sogar die Papiertheaterfiguren tauchen am Ende noch einmal auf und ergeben einen Sinn. Und ein kleiner Junge, der nur ganz selten als Reverenz an „Das Fenster zum Hof“ (1954) auftritt, hat eine größere Bedeutung, als nur Sprachrohr für Argentos Tierliebe und eine nicht selten vorkommende Schmetterlingsmetaphorik zu sein.

Nur nicht den Kopf verlieren

Spätestens, als es in den Nachrichten heißt, der Täter sei tot und die Gefahr sei vorüber, weiß nicht nur der Argento-erfahrene Betrachter: Quatsch! Und dann schwingt sich „Aura“ erst zu seiner ganzen Größe auf, kann aber auch noch in der Rückschau das eine oder andere besser aussehen lassen, als es zunächst schien. Es gibt zum Beispiel die eine in vielen Argento-Regiearbeiten wichtige Szene, in der ein Protagonist und das Filmpublikum ihren Augen nicht ganz trauen dürfen. Die etwas plakativ-künstliche Zurschaustellung von (herrlich falschem) Regen und Unwetter wird eine sinnfällige Erklärung erfahren, die mit dem ins Schauerliche abgleitenden und auch in der Realität schaurigen Motiv des Täters zusammenhängt. Zudem wird es richtig spannend am Ende, und auch noch mal blutig, wenngleich sich der Film diesbezüglich für Argento-Verhältnisse zurückhält.

Argento wird uns nicht im Regen stehenlassen

Diese Zurückhaltung ist den US-Geldgebern geschuldet; Hardcore-Fans mögen das bedauern, aber es ist Argento hoch anzurechnen, dass er sich weiterentwickeln wollte, ohne sich zu verleugnen. Der Verzicht auf allzu plakative Schauwerte legt den Blick auf die psychologische Geschichte frei, die Wahl einer gesichtslosen Gegend Minnesotas als Schauplatz und Drehort wird kein Zufall gewesen sein. Gleichwohl schafft der psychologisch bedingte Einsatz von Wasser und grellen Effekten (der Fluss, der Auras Tod bedeuten könnte, ein See oder Teich im Mondlicht, der ihren erneuten Suizidversuch bedeuten könnte; Regen und Gewitter, die wichtig bezüglich des Mörders sind) eine schön schaurige Atmosphäre. Mit anderen Worten: Das ist durchaus Kino fürs Auge, für die Sinne, nicht nur für den Kopf – aber gegen Ende auch reichlich hintergründiges Kino. So wie Pino Donaggio diesmal nicht einfach nur die Streicher schwelgen lässt, sondern in einem seiner interessantesten, vielseitigsten Soundtracks sich die Musik in ihre Einzelteile auflöst und manchmal wie ein Orchester klingt, das noch stimmt, so zerlegt Argento den Film, die Psyche Auras und die des Mörders in seine Einzelteile – aber führt das zu einem grandiosen Ende zusammen.

Verbindungen über Eigenzitate hinaus

Dabei kann der geneigte Hobby-Cineast die eine oder andere Reverenz neben dem bereits Genannten entdecken. Dass sich zwischen den Opfern ein Zusammenhang im Sinne einer Schuld-Gemeinschaft der Vergangenheit ergibt, mag Cornell Woolrichs Roman „Die Braut trug Schwarz“ beziehungsweise der gleichnamigen 1968er-Adaption durch François Truffaut entsprungen sein – ein Film, der seinerseits in Teilen eine Hitchcock-Reverenz ist.

Auch der vermeintliche Überblick verzerrt die Dinge

Die Besetzung mit der vor wenigen Tagen im Alter von 91 Jahren verstorbenen Piper Laurie ist ausschließlich ihrer Mitwirkung in De Palmas „Carrie – Des Satans jüngste Tochter“ (1976) geschuldet – und jetzt ist sie wieder eine Übermutter. Die „Irren“, die Aura in einer Krankenhausszene bedrängen, könnten aus „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1933) des von Argento verehrten Fritz Lang stammen.

Weniger grell, aber vorhanden: Primärfarben

Die wiederkehrenden Rufe nach einem (toten) Nicholas könnten Roger Cormans Poe-Adaption „Das Pendel des Todes“ (1961) entlehnt sein. Die finale Kopf-Abtrennung erinnert an das Finale von Argentos „Rosso – Die Farbe des Todes“ (1975). Gleichwohl ist „Trauma“ alias „Aura“ mehr als nur Selbst- und Fremdzitatenschatz. Argentos großer amerikanischer Film hat seine ganz eigene Aura. So wie ein abgetrennter Kopf einen noch anzublicken scheint, ist dieser Film weder kalt noch tot.

Eyes Wide Shut, aber sie scheinen uns anzublicken

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Dario Argento haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Asia Argento unter Schauspielerinnen, Filme mit Brad Dourif in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 24. November 2017 als Blu-ray in der Classic HD Collection“, 15. April 2016 als Blu-ray „Eurocult Collection #20 C“ im „Dario Argento Mediabook 3er Set“ (mit „Das Phantom der Oper“ und „Sleepless“, auf 666 Exemplare limitiert), 19. Mai 2015 als Blu-ray, 15. Oktober 2013 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & DVD, 2 Covermotive à 500 bzw. 1.000 Exemplare), Blu-ray in großer Hartbox und DVD in großer Hartbox (auf jeweils 99 Exemplare limitiert)

Länge: 112 Min. (Blu-ray), 107 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Trauma
IT/USA 1993
Regie: Dario Argento
Drehbuch: Dario Argento, T. E. D. Klein
Besetzung: Christopher Rydell, Asia Argento, Piper Laurie, Frederic Forrest, Laura Johnson, Dominique Serrand, James Russo, Brad Dourif, Hope Alexander-Willis, Ira Belgrade, Sharon Barr, Fiore Argento, Isabell O’Connor (als Isabell Monk)
Zusatzmaterial: Making-of (7:50 Min.), US-Vorspann (1:34 Min.), italienischer Trailer, US-Trailer, europäischer Trailer, italienisches Werbematerial, nur Mediabook: 16-seitiges Booklet mit einem Text von Martin Beine
Label/Vertrieb 2016: X-Rated
Label 2017 & 2015 & 2013: Edition Tonfilm
Vertrieb 2017 & 2015 & 2013: LFG

Copyright 2023 by Tonio Klein

Szenenfotos & untere Packshots: © LFG

 

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