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Zum 80. Geburtstag von Tony Scott: Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben: Der Husarenritt des Bruce Willis

The Last Boy Scout

Von Volker Schönenberger

Actionthriller // Zeitlebens steht er etwas im Schatten seines sechs Jahre älteren Bruders Ridley (* 1937). Dabei hat Tony Scott in seiner Karriere als Regisseur zahlreiche Duftmarken im Actionfilm gesetzt.

Als Anthony David Leighton Scott wird er am 21. Juni 1944 im an der Nordsee gelegenen North Shields im hohen Nordosten Englands geboren. Nach der Schule studiert er acht Jahre lang Kunst, folgt Ende der 1960er-Jahre seinem Bruder in dessen Produktionsfirma Ridley Scott Associates, wo er ebenso wie Ridley Werbespots dreht – beide erhalten im Lauf der Zeit viele Auszeichnungen der Werbebranche. Erste fiktive Kurzfilme folgen, darunter die 57-minütige Kriegs-Reflexion „Loving Memory“ (1970). Erst 1982 dreht er seinen ersten abendfüllenden Spielfilm: die britische Produktion „Begierde“, ein Vampirdrama mit Catherine Deneuve, David Bowie und Susan Sarandon, das ab April 1983 weltweit in die Kinos kommt, seiner Zeit aber offenbar voraus ist und sich eher zum Kultfilm entwickelt. 1986 schlägt „Top Gun – sie fürchten weder Tod noch Teufel“ ein wie eine Bombe, der Kampfflieger-Actioner macht Tom Cruise zum Topstar und markiert den Beginn von Scotts Zusammenarbeit mit dem Produzenten Jerry Bruckheimer. Fortan stehen die Zeichen auf Action, etwa mit den beiden Bruckheimer-Produktionen „Beverly Hills Cop II“ (1987) und „Tage des Donners“ (1990). In dem etwas abfällig auch als „Top Gun auf Rädern“ bezeichneten NASCAR-Rennfahrerfilm setzt Scott erneut Tom Cruise als Hauptdarsteller in Szene.

„True Romance“!

Einen weiteren Kultfilm vollbringt er nach einem Drehbuch von Quentin Tarantino und Roger Avary: „True Romance“ (1993) zeigt Christian Slater und Patricia Arquette als junges Liebespaar, das an einen Koffer voll Kokain gelangt und von der Mafia gejagt wird. Mal keine Bruckheimer-Produktion, zu diesem kehrt Scott 1995 mit dem U-Boot-Atomkriegs-Szenario „Crimson Tide – In tiefster Gefahr“ zurück, mit Denzel Washington, Gene Hackman, Viggo Mortensen, James Gandolfini und Jason Robards prominent besetzt. Unter Produzent Jerry Bruckheimer wird Tony Scott noch den Überwachungsthriller „Der Staatsfeind Nr. 1“ (1998) mit Will Smith, Gene Hackman und Jon Voight sowie den SF-Actionthriller „Déjà Vu – Wettlauf gegen die Zeit“ (2006) mit Denzel Washington, Val Kilmer und Jim Caviezel drehen. Unter dem Dach der von von ihm und Bruder Ridley gegründeten Scott Free Productions produziert Tony seine eigenen Regiearbeiten teils auch selbst, etwa den Stalking-Thriller „The Fan“ (1996) mit Robert De Niro und Wesley Snipes um einen von einem Baseball-Star besessenen Fan, den Kidnapping-Thriller „Mann unter Feuer“ (2004) mit Denzel Washington, Christopher Walken und Dakota Fanning sowie den Actioner „Domino – Live Fast Die Young“ (2005) um eine Kopfgeldjägerin (Keira Knightley) und ihre Partner (Micky Rourke, Édgar Ramírez).

Mehr Schein als Sein? Mitnichten

„Style over Substance“, also mehr Schein als Sein – eine gegenüber Tony Scott gern geäußerte Kritik, nicht zuletzt aufgrund der Werbefilm- und MTV-Ästhetik, die manchen seiner Regiearbeiten innewohnt, inklusive Schnittgewittern und reduzierten Dialogen. Da mag teils sogar etwas dran sein, man denke nur an seine frühen Bruckheimer-Arbeiten „Top Gun“ und „Tage des Donners“. Aber der Vorwurf verkennt doch, dass es Scott generell weniger um das Erzählen großer Geschichten geht, weil die Story ihm lediglich als Aufhänger dient. Diesem Filmemacher geht es um Bilder, um filmische Sequenzen – er ist geradezu ein „Action-Auteur“, der seine „Actionszenen von allem narrativen Ballast befreit“ (so der ehemalige „Die Nacht der lebenden Texte“-Autor Simon Kyprianou in seiner Rezension von „Domino“). Action in Reinkultur und das so energetisch wie stilsicher. Dieser Stil hat eben allein für sich schon Substanz, weshalb „Style over Substance“ ins Leere führt. Tony Scotts Einfluss aufs Action- und Thrillergenre sollte nicht unterschätzt werden, auch wenn die großen Filmpreise allesamt an ihm vorbeigehen. Immerhin zwei Primetime Emmy Awards stehen zu Buche: 2002 für das Fernsehdrama „Churchill – The Gathering Storm“ und 2011 für die TV-Bürgerkriegsdoku „Gettysburg“, beide von ihm und Ridley Scott als Executive Producers mitverantwortet. 1995 gewinnen Tony und Ridley für ihren Beitrag zum britischen Kino bei der Verleihung der britischen Filmpreise BAFTA den Michael Balcon Award.

Auf den Gleisen

In seinen letzten beiden Regiearbeiten widmet sich Scott aus der Kontrolle geratenen Zügen: Das Remake „Die Entführung der U-Bahn Pelham 123“ (2009) fesselt mit einem feinen Psychoduell zwischen John Travolta als Lösegelderpresser und Denzel Washington als New Yorker U-Bahn-Fahrdienstleiter und Unterhändler. „Unstoppable – Außer Kontrolle“ (2010) markiert Scotts fünfte Zusammenarbeit mit Denzel Washington; die Kooperationen mit dem Topstar gehören zu Scotts besten Werken. Washington und Chris Pine spielen zwei Lokführer, die versuchen, einen führerlos dahinrasenden, mit giftigen Chemikalien beladenen Güterzug zu stoppen.

„Unstoppable“ wird Tony Scotts Vermächtnis. Am 19. August 2012 nimmt er sich in Los Angeles im Alter von 68 Jahren das Leben, hinterlässt seine dritte Frau und zwei im Jahr 2000 geborene Zwillingssöhne. Sein Leichnam wird eingeäschert, die Überreste werden fünf Tage nach seinem Tod auf dem „Hollywood Forever Cemetery“ am Santa Monica Boulevard beigesetzt, wo zahlreiche Hollywoodgrößen begraben sind. Viele Weggefährtinnen und -gefährten würdigen nach Scotts Tod dessen Schaffen. Jahre später gibt Ridley Scott bekannt, sein Bruder sei an Krebs erkrankt gewesen. Er widmet Tony sein Bibel-Epos „Exodus – Götter und Könige“ (2014), auch „Top Gun – Maverick“ (2022) von Joseph Kosinski ist ihm gewidmet – die „Top Gun“-Fortsetzung hätte er vermutlich inszeniert, sein Ableben verzögerte die Produktion des Sequels um Jahre. Am 21. Juni 2024 wäre Tony Scott 80 Jahre alt geworden. Er ruhe in Frieden.

Runningback läuft Amok – auf dem Feld!

„Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ (1991) beginnt mit einem verregneten American-Football-Match in Cleveland. Billy Cole (Billy Blanks), Runningback der gastierenden Los Angeles Stallions, erhält in der Halbzeitpause einen Anruf. Milo (Taylor Negron), beschwört ihn, es stehe viel Geld auf dem Spiel. Billy liefere besser ein paar Touchdowns, sonst sei er Geschichte. Als das Spiel weiterläuft und der Runningback den Ball erhält, läuft er in Richtung der gegnerischen Endzone, zieht eine Waffe und schießt sich den Weg frei. Anschließend richtet er sich selbst.

Bodyguard für eine Stripperin

In Los Angeles erwacht der verkrachte Privatdetektiv Joe Hallenbeck (Bruce Willis) verkatert in seinem Auto, in dem er die Nacht verbracht hat. Daheim erwischt er seine Frau Sarah (Chelsea Field) mit seinem Kumpel und Auftraggeber Mike (Bruce McGill) in flagranti. Kurz darauf ist Mike tot, jemand hatte sein Auto mit einer Bombe präpariert. Einen Auftrag konnte er Joe noch übertragen: Er soll die Stripperin Cory (frühe Rolle für Halle Berry) beschützen, die sich bedroht fühle.

Ein Pärchen wie Hans und Klärchen

Der Auftrag misslingt auf fatale Weise: Joe wird vor dem Stripclub niedergeschlagen, die Stripperin auf offener Straße von einem Killerkommando abgeknallt. Widerwillig tut sich der Privatdetektiv mit Corys Freund Jimmy Dix (Damon Wayans, „Colors – Farben der Gewalt“) zusammen. Der war mal ein vielversprechender Quarterback der Stallions, bis Glücksspiel und Rauschgift seine Karriere beendeten. Das ungleiche Duo stößt auf eine groß angelegte Verschwörung, bei der Sheldon Marcone (Noble Willingham) der Strippenzieher ist, seines Zeichens Besitzer der Los Angeles Stallions.

Drehbuchänderungen noch und nöcher

Schießereien mit heftigen Körpertreffern, Verfolgungsjagden mit reichlich Schrott, Explosionen – allein auf der Actionebene haut Tony Scott raus, was geht. Das ist sehr energetisches Actionkino, in sich ruhend, ohne im entferntesten ruhig zu sein. Und blutig ist’s! Erwähnte Körpertreffer gibt es etliche zu bestaunen, dazu weitere Gewalttaten, am Ende fällt sogar jemand in den Rotor eines Helikopters. Autsch! Das kann man zum Teil selbstzweckhaft finden, es führte 1993 auch dazu, dass die ungeschnittene Fassung von „Last Boy Scout“ hierzulande auf dem Index landete (nach 25 Jahren folgte 2018 turnusmäßig die Listenstreichung). Das Originaldrehbuch von Shane Black („Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis“, „Last Action Hero“, „Tödliche Weihnachten“) war sogar noch gewalthaltiger als der fertige Film. Black und Tony Scott waren dem Vernehmen nach mit dem Resultat alles andere als zufrieden – es führte zum Zerwürfnis zwischen dem Regisseur und seinem Produzenten Joel Silver, weil der und Hauptdarsteller Bruce Willis weitreichende Änderungen am Skript durchsetzten.

Showdown im Stadion

Richard Donners „Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis“ (1987) und John McTiernans „Stirb langsam“ (1988) hatten einige Jahre zuvor mächtige Action-Ausrufezeichen gesetzt (und zwei großartige Reihen begründet), aber der von März bis Juni 1991 „on location“ in Los Angeles gedrehte „Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ steht keinem der beiden Filme oder ihren Fortsetzungen in etwas nach. Das gilt für die Actionszenen ebenso wie für die mal zynischen, mal schwarzhumorigen Dialoge. Insbesondere Bruce Willis und der auch bei „Saturday Night Live“ reüssierende Komiker Damon Wayans spielen einander in bester Buddy-Movie-Manier die Bälle zu, dass es eine reine Freude ist. Nicht immer jugendfrei und schon gar nicht politisch korrekt. Wobei der Actionthriller nie ins Komödiantische abdriftet, dafür ist er zu zynisch, bleibt auch der Ernsthaftigkeit verhaftet. Trotz viel gleißenden Tageslichts wabert viel düstere Neo-Noir-Atmosphäre durch die Bilder.

Paraderolle für Bruce Willis

In einer Auflistung von Bruce Willis’ besten Rollen gehört Joe Hallenbeck weit nach vorn. Einstmals Topmann beim Secret Service und als Präsidentenretter ein Held, hat eine ehrenhafte Tat gegenüber einem gewalttätigen und frauenfeindlichen Senator (Chelcie Ross) ihn die Karriere gekostet und aus der Bahn geworfen. Wirkt der verkrachte Privatschnüffler anfangs noch etwas klischeehaft und zu cool, um wahr zu sein, bekommt er spätestens dann eine menschliche Note, wenn er in einem Nebensatz seinem unverhofften Partner Jimmy Dix seine ganze Tragik offenbar: I wish that water wasn’t wet, I wish the sky wasn’t blue and I wish that I didn’t still love my wife. Ahh, life sucks! – Ich wünschte, Wasser wäre nicht nass, ich wünschte, der Himmel wäre nicht blau, und ich wünschte, ich würde meine Frau nicht mehr lieben. Ahh, das Leben stinkt! Auch seine unbeholfenen Versuche, gegenüber seiner halbwüchsigen Tochter Darian (klasse: Danielle Harris, „Daylight“) eine wie auch immer geartete Vaterrolle einzunehmen, lassen die Fassade bröckeln. Nach und nach kommen hinter der Coolness, dem Zynismus und dem Alkohol die menschlichen Züge Hallenbecks zum Vorschein, und wir erkennen, dass bei ihm Hopfen und Malz vielleicht doch noch nicht ganz verloren sind.

Wo bleibt eine deutsche Neuveröffentlichung?

„Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ ist im deutschen Handel vergriffen. Bei der Suche danach auf dem Gebraucht- und Sammlermarkt gilt es, darauf zu achten, nicht an die FSK-16-DVD zu geraten – die ist geschnitten (Unterschiede siehe Schnittbericht). Ob der Actionthriller Teil des Warner-Deals von Plaion Pictures ist? In dem Fall könnten wir beizeiten mit einer feinen Mediabook-Edition rechnen. Verdient hat der Film sie allemal. Ein Highlight aus jener Ära des Actionkinos, in der Hollywood stetig fulminante Genrebeiträge im A-Liga-Format hervorgebracht hat. Wer „Stirb langsam“, „Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis“ und dergleichen als Pflichtfilme in seiner Sammlung sieht, sollte sich auch „Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ ins Regal stellen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Tony Scott haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Halle Berry und Danielle Harris unter Schauspielerinnen, Filme mit Billy Blanks, Kim Coates, Noble Willingham und Bruce Willis in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 5. November 2010 als Blu-ray, 26. April 2001 als DVD, 28. April 1999 als gekürzte DVD

Länge: 105 Min. (Blu-ray), 101 Min. (FSK-18-DVD), 96 Min. (gekürzte FSK-16-DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Spanisch
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte u. a.
Originaltitel: The Last Boy Scout
USA 1991
Regie: Tony Scott
Drehbuch: Shane Black
Besetzung: Bruce Willis, Damon Wayans, Chelsea Field, Noble Willingham, Taylor Negron, Danielle Harris, Halle Berry, Bruce McGill, Badja Djola, Kim Coates, Chelcie Ross, Joe Santos, Clarence Felder, Tony Longo, Frank Collision, Bill Medley, Lynn Swann, Michael Papajohn, Shane Dixon, Jeff Hochendoner, Billy Blanks
Zusatzmaterial: Originaltrailer
Label/Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2024 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & untere Packshots: © Warner Home Video

 

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Domino – Live Fast Die Young: Das Vermächtnis des Tony Scott

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Von Simon Kyprianou

Action // Tony Scott ist ein schmerzlich unterschätzter Regisseur, ja mehr noch: ein missverstandener Regisseur. Vielfach werden seine Filme als geistesarme Zerstreuung abgetan, zu selten werden sie begriffen, zu selten wird Tony Scott Anerkennung als radikaler Action-Auteur zuteil. Seit seinem ersten Film „Begierde“, dem Vampirdrama mit David Bowie, Catherine Deneuve und Susan Sarandon, hat er einen konsequenten künstlerischen Ansatz verfolgt, ihn verändert, angepasst, und modifiziert – bis er ihn seit etwa 2004 mit „Mann unter Feuer“ zu seiner Essenz geführt hat.

Kino der Bilder und Momente

„Mann unter Feuer“, „Domino“, „Deja Vu“ und sein letzter Film „Unstoppable“ von 2010, das sind die vier großen Tony-Scott-Filme – Kino radikal reduziert, bis nur noch das Notwenigste übrig bleibt, nichts mehr überflüssig ist. Tony Scotts Kino besteht nur noch aus Licht, Farbe, Dynamik, Kraft und Emotionen. Er erzählt in diesen vier Filmen keine großen Geschichten – eigentlich erzählt er gar keine Geschichten mehr. Hier ein entführtes Mädchen, da ein verwirrtes Leben, dort ein Anschlag und in „Unstoppable“ gilt es einen rasenden Zug aufzuhalten. Das sind lediglich Aufhänger, Vorwände, keine Geschichten.

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Das Leben als Kopfgeldjägerin ist gefährlich …

Geschichten haben Tony Scott nie interessiert, Dialoge auch nicht. Bei Tony Scott geht es um Bilder und Momente. Die Bilder sind für ihn die besseren Worte, mit ihnen erzählt er alles – wie sich die Menschen fühlen, wie zerrissen sie sind, wir kaputt sie sind. Alle erforderlichen Informationen stecken bei Tony Scott in den Bildern. Es sind Momente, die ihn umtreiben, Momente der Angst, der Wut, der Gewalt.

Denzel Washington als Jedermann

Sieht man eine Actionszene bei Tony Scott, dann ist sie losgelöst von allem anderen, ein Moment für sich allein. Die Actionszenen transzendieren in Tony Scotts Filmen zu unerbittlichen, von allem Kontext gelösten, von allem narrativen Ballast befreiten Überlebenskämpfen. Besonders radikal ist das in „Mann unter Feuer“. Der von Denzel Washington verkörperte Protagonist ist ein Wrack, kaputt und gebrochen – und so sind auch die Bilder: epileptisch, wild, wahnsinnig, zerrissen, unklar. Nichts trennt mehr die Bilder und die Gefühle der Figuren. Ein unfassbar purer Actionfilm.

Seine Figuren sind stets einfache Männer, ohne große Ambition außer der, das Richtige zu tun. Es sind Zugarbeiter, Polizisten, Angestellte. Es ist jedermann, es sind Filme fürs Proletariat. Seine „Jedermänner“ kochen vor Emotionen, denn er bringt sie immer in Situationen, denen sie nicht gewachsen sind, sie müssen über sich hinauswachsen. Denzel Washington war oft seine Wahl für derartige „Jedermänner“.

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… und wild

Doch auch vor 2004 ist Tony Scotts Weg sehr interessant. Der ironisch, leicht homoerotische U-Boot-Thriller „Crimson Tide“ ist eine durchaus subtile Satire auf amerikanischen Militarismus. „Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ kann die Strukturen des Actiongenres in den 90ern nach unzähligen Wiederholungen nur noch satirisch aufgreifen, bedient sie gleichzeitig aber mit reichlich Verve. „Spy Game“ ist ein eher durchschnittlicher Thriller, eigentlich kaum der Rede wert, aber Tony Scott erzählt ihn gewitzt und lässt Robert Redford seinen Film tragen.

Erotischer Beginn mit Vampirdrama „Begierde“

„Begierde“, sein Kino-Regiedebüt, ist der erotischste Vampirfilm, den ich kenne. Scott hat damit einen klugen Film über den Eros und seine schmerzhafte Bindung an die Vergänglichkeit gedreht. Die Vergänglichkeit, das ist für Scott die große Bedrohung für die Liebe, aber die Liebe ist nichts wert, ohne die Vergänglichkeit. Kaum ein Regisseur hat Catherine Deneuves Gesicht so studiert und präzise beobachtet wie Tony Scott, kaum ein Regisseur hat David Bowies kühle Sexualität so brillant auf die Leinwand übertragen.

„Domiono“ nach „Mann unter Feuer“ entstanden, ist vielleicht der radikalste von Scotts Filmen. Domino Harvey (Keira Kneightley) war Model, Schauspielertochter und Kopfgeldjägerin. Zusammen mit ihrem Kopfgeldjägerteam Ed Mosbey (Micky Rourke) und Choco (Édgar Ramírez) ist sie ziemlich erfolgreich. Ein solch wildes Leben birgt natürlich Gefahren.

War so wirklich das Leben der Domino Harvey?

Ein Biopic ist „Domino“ nur oberflächlich. Am Ende sagt uns der Film, dass wir die „Wahrheit“ niemals erfahren werden. Es gibt keine schönen, sauberen, klaren Bilder, die ein Leben nachzeichnen, wie es nur vielleicht „wirklich“ gewesen ist. Es gibt Chaos, Rausch und Anarchie. Ein Leben zieht an uns vorbei, entstellt, verfremdet und diffus, lauter wirre Rückblenden. Die „Wahrheiten“ über Domino Hearvey sind irgendwo tief in den Bildern verborgen, finden müssen wir sie selber. Hier zeigt es sich wieder: Tony Scott überwindet das Erzählen. „Domino“ erzählt nicht von einem chaotischen Leben, „Domino“ ist wie das chaotische Leben und damit wohl doch ein radikal ehrliches Biopic.

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Domino fühlt sich dem gewachsen

Scotts letzter Film „Unstoppable“ ist vielleicht sein bester, sicher aber sein konsequentester. Ein Zug ist außer Kontrolle, zwei Arbeiter die zufällig da hineingeraten sind, wollen ihn stoppen. Nicht mehr und nicht weniger, keine Narration. Scotts brachiale Kamera fängt Kraft und Geschwindigkeit des Zugs ein. Immer wieder springen wir von normalen Bildern zu Nachrichtenaufnahmen, der Regisseur versucht die Überblickslosigkeit und die Hektik einer solchen Ausnahmesituation begreifbar und erfahrbar zu machen.

Erfahrbar machen, das ist es, was Tony Scott immer versucht hat und was ihm oft gelungen ist. Er ist ein eigenständiger Künstler, mit einem durchdachten, eigenständigen Stil. Ein großer Action-Auteur, der mehr Verständnis verdient, als ihm entgegengebracht wird.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Tony Scott haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Keira Knightley und Lucy Liu unter Schauspielerinnen, Filme mit Mickey Rourke und Christopher Walken in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 7. Mai 2015 als Blu-ray 22. Juni 2006 als DVD

Länge: 128 Min. (Blu-ray), 122 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Domino
F/USA/GB 2005
Regie: Tony Scott
Drehbuch: Richard Kelly
Besetzung: Keira Knightley, Mickey Rourke, Édgar Ramírez, Delroy Lindo, Mo’Nique, Mena Suvari, Macy Gray, Jacqueline Bisset, Lucy Liu, Christopher Walken
Zusatzmaterial: Domino Harveys Leben (ca. 20 Min.), Blick hinter die Kulissen (ca. 6 Min.), Interviews (ca. 12 Min.), Trailer (ca. 3 Min.)
Vertrieb: Highlight Communications

Copyright 2015 by Simon Kyprianou
Fotos & Packshot: © 2015 Highlight Communications

 

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