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Robert Siodmak (I): Schrei der Großstadt – Zwei Wege, nur einer ist der richtige

02 Apr

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Cry of the City

Drei Regiearbeiten Robert Siodmaks haben wir bei „Die Nacht der lebenden Texte“ bereits rezensiert, aber dass unser Autor Ansgar Skulme weitere Werke des Film-noir-Spezialisten vorstellten möchte, ist Anlass genug, eine Reihe zu starten.

Krimidrama // Martin Rome (Richard Conte) ist ein notorischer Krimineller. Nach einer Schießerei mit einem Polizisten liegt er verwundet im Krankenhaus, der Gesetzeshüter ist tot. Am Krankenbett wird er von den beiden Cops Candella (Victor Mature) und Collins (Fred Clark) aufgesucht. Candella und Rome kennen einander seit Kindestagen, schließlich sind sie beide Kinder italienischer Einwanderer in New York City. Doch während Candella den Weg der Rechtschaffenheit gewählt hat, ist Rome auf der schiefen Bahn zu Hause. Ebenfalls im Krankenhaus hält sich der Anwalt Niles (Berry Kroeger) auf, der sich allerdings gar nicht mit dem Polizistenmord befasst, sondern Rome erstaunlich nachdrücklich einen Raubüberfall anzulasten und ein Geständnis zu erzwingen versucht. Bald steckt Lieutenant Candella knietief in einem Sumpf aus Intrigen, Habgier und Bereitschaft zum Äußersten, zwischen den hohen Wänden der Großstadt …

Mit „Die Killer“ legte Robert Siodmak 1946 einen der bis heute populärsten und besten Film noirs vor, die das Classical Hollywood von den frühen 40er- bis zu den späten 50er-Jahren hervorbrachte. Der Film war eine Produktion von Universal Pictures – dem Studio, bei dem Siodmak den Großteil seiner Zeit in Hollywood unter Vertrag stand – in Zusammenarbeit mit der Produktionsfirma von Mark Hellinger. Der war kurz vor seinem plötzlichen Tod im Dezember 1947 auch noch als Produzent für zwei weitere Meisterwerke des Film noirs verantwortlich: „Zelle R 17“ (1947) und „Stadt ohne Maske“ (1948) unter der Regie von Jules Dassin. Die Zusammenarbeit von Siodmak als Regisseur mit Hellinger als Produzent stellt ohne Zweifel eine der glücklichsten Fügungen in der Geschichte des Film noirs dar. Auch ohne Hellinger ließ Siodmak wenig später „Der schwarze Spiegel“ (1946) folgen – aufwendig gefilmt mit Olivia de Havilland in einer Doppelrolle. Zudem hatte Siodmak bereits vor seinem Hollywood-Durchbruch 1946 mehrere andere heute als Film noir geltende Crime-Stories und Thriller für Universal inszeniert, von denen vor allem „Zeuge gesucht“ und „Unter Verdacht“ (beide 1944) hervorzuheben sind, sowie außerdem „Die Wendeltreppe“ (1945) für RKO. Für die 20th-Century-Fox-Produktion „Schrei der Großstadt“ wurde er nun erneut an ein sogenanntes „Major-Studio“ ausgeliehen, das man den „Big Five“ (MGM, Paramount, Warner, RKO und Fox) zurechnet. Es wurde Siodmaks zweiter Film für Fox nach der romantischen Komödie „The Night Before the Divorce“ (1942).

Siodmak am Zenit

Siodmaks letzter vor „Schrei der Großstadt“ veröffentlichter Film war das Drama „Time Out of Mind“ (1947). Aus heutiger Sicht wohl einer seiner unbekanntesten Hollywood-Filme und sein bis dato erster Film seit 1944, der nicht dem Film noir zugerechnet werden kann. Für Fox kehrte er nun zu dem zurück, was ihn berühmt gemacht hatte. Dort bekam er es mit Darryl F. Zanuck zu tun, der Fox‘ oberster Chef der Produktionsriege war und bereits auf viele höchst erfolgreiche Jahre in seinem Metier zurückblicken konnte. Auf Zanucks Einfluss kann man wohl zurückführen, dass „Schrei der Großstadt“ verhältnismäßig viele draußen in der Stadt gedrehte Aufnahmen enthält. Aufgrund der besser planbaren Produktionsabläufe bevorzugte Siodmak sonst eigentlich Studio-Aufnahmen. Gerade wegen des außerhalb des Studios gedrehten Materials wird der Film seinem Titel schlussendlich aber auch vollauf gerecht. Siodmak kontrastiert den heimtückischen Rachen der verruchten Großstadt gleichzeitig mit recht vielen Nahaufnahmen seiner Protagonisten – eine stilistische Eigenwilligkeit, die nicht in jedem seiner Film noirs so auffällig ist wie hier. Einige Szenen, wie etwa die finale Konfrontation von Niles und Rome, profitieren sehr von dem interessanten Versuch, sie mit eindringlichen Nahaufnahmen zu akzentuieren. Abgerundet wird dieses stilistisch präzise Werk von einem genialen Score aus der Feder von Alfred Newman, der mit Musik hier sehr sparsam umgeht, was diese umso intensiver macht, wenn sie zum Einsatz kommt – ganz ohne laut oder besonders schnell werden zu müssen. Newman lädt die Bilder durch seine Klänge teilweise mit enormer Wucht auf, behutsam und beharrlich. Dies steht der Großstadt-Thematik gut zu Gesicht. Man kann sicherlich davon sprechen, dass Robert Siodmak nach diesem Film keinen besseren Film noir mehr drehte, auch wenn all seine Genre-Beiträge zweifelsohne sehenswert sind. Die meisten von ihnen waren 1948 aber bereits fertiggestellt.

Der Cast war schon die halbe Miete

Wie „Die Killer“ glänzt auch „Schrei der Großstadt“ mit einer ausgesprochen guten Besetzung voller talentierter Charakterdarsteller. Hope Emerson als brutales Mannweib Rose ist eine eindrückliche Gestalt, wie man sie im Hollywood-Kino bis dato nur selten gesehen hatte. Es verwundert wenig, dass sie zwei Jahre später auch zum Cast des Frauenknast-Klassikers „Caged“ gehörte, der in Deutschland unter dem Titel „Frauengefängnis“ erschien. Berry Kroeger als korrupter Anwalt strotzt nur so vor Verschlagenheit und Skrupellosigkeit, Roland Winters – seinerzeit der aktuelle Darsteller von Charlie Chan – hat sichtlich Spaß an der Rolle des Zigarre paffenden Gefängnis-Bosses und Walter Baldwin als Zellengenosse Orvy ist eine dieser vielen kleinlauten, verlorenen, im Grunde ihres Herzens vielleicht sogar guten Seelen, die der Film noir zu bieten hat. Konstantin Shayne, ein weiterer immer wieder sehenswerter Darsteller, überzeugt als Arzt ohne Lizenz – ein verlorener Immigrant in der Großstadt. Auch Shelley Winters und Debra Paget sind in relativ kleinen Rollen dabei, wobei Paget in solch einer Reinheit und Unberührtheit dargestellt wird, dass sie gewissermaßen die komplette Antithese zu Martin Rome ist, der sie zu beeinflussen versucht. Ihre Rolle der Teena Riconti und der Hauptpart des Lieutenants Candella sind die Symbole absoluter Rechtschaffenheit in „Schrei der Großstadt“. Sie flankieren Rome, der von Richard Conte überzeugend naiv und egoistisch gespielt wird. Rome ist kein besonders heller Kopf, aber hat seinen eigenen Vorteil immer vor Augen. Einer, für den die beschwingte Leichtigkeit gewissermaßen immer eine Tarnung war – doch im Verlauf des Films zerbröckelt diese Maske immer mehr. Ein moderner Billy the Kid, äußerlich der Liebling aller Schwiegermütter, der einfach nicht erwachsen werden will, weil es sich am einfachsten lebt, wenn man wie ein schlecht erzogenes Kind einfach so alles bekommt, was man will. Eigentlich sollte Victor Mature diesen „bad guy“ spielen, Robert Siodmak jedoch entschied sich für Richard Conte, während Mature den Gegenpart bekam. Mature gefiel diese Ausbootung nicht besonders, jedoch fügte er sich in sein Schicksal und spielte die Rolle des aus der Mitte von Little Italy kommenden, geradezu perfekt integriert scheinenden Cops vollauf glaubwürdig. Gar nicht so einfach, bei einer derart positivistisch angelegten Figur. Es sollte Matures vorerst letzter Film für Fox werden. Nach seiner Heimkehr aus dem Krieg hatte er bis dato ausschließlich für Fox gearbeitet, beginnend mit John Fords „Faustrecht der Prärie“ (1946) je zwei Western und zwei Film noirs abgeliefert, darunter auch der „Der Todeskuss“ (1947), an dessen Erfolg Fox mit „Schrei der Großstadt“ nun anschließen wollte. Mature blieb die ganzen 50er-Jahre über ein gefragter Mann für Hauptrollen in diversen guten, unterhaltsamen B-Filmen, ehe er sich schließlich aus dem Business zurückzog, ohne sein Gesicht in kleinen Rollen zu verlieren, er war jedoch nie wieder so erfolgreich wie in den ersten Nachkriegsjahren.

Anerkanntes Meisterwerk

Sowohl zeitgenössische als auch spätere Kritiker haben immer wieder positive Worte für „Schrei der Großstadt“ gefunden. Tatsächlich fällt es schwer, irgendetwas Kritisches über das Werk zu sagen. Zwar ist die Gegenüberstellung eines rechtschaffenen Italo-Amerikaners auf Seiten der Polizei und eines egoistischen Italo-Amerikaners auf der anderen Seite des Gesetzes zuweilen etwas plakativ, jedoch ist Romes Figur gut genug geschrieben, um mehr als ein oberflächlicher Brutalo-Schurke zu sein. Vielmehr ist der Film eine Art Demaskierung Martin Romes und man erwischt sich phasenweise sogar dabei, Sympathien mit der Figur zu hegen, wenn Rome vom cleveren, über alle erhaben scheinenden Verbrecher zum Spielball anderer Krimineller wird und sich dagegen zu wehren versucht. Insbesondere als er an die burschikose Rose gerät, ist klar, dass Rome hier nicht so etwas wie der alleinige Oberschurke ist. Er ist Teil eines Netzwerks von Kriminellen, die alle versuchen, etwas vom Kuchen abzubekommen – ob er nun will oder nicht. Das Bild einer unberechenbaren Großstadt voller korrupter Gestalten manifestiert sich mit zunehmender Dauer des Films mehr und mehr. Und die Großstadt wurde auch für den Film noir selbst immer wichtiger, zunehmend tauchte das Wort „City“ nun in den Filmtiteln auf.

Basierend auf dem Roman „The Chair for Martin Rome“ von Henry Edward Helseth, der 1947 erschienen war und seitdem bereits mehrere Drehbuchversionen erhalten hatte, ist Robert Siodmak mit „Schrei der Großstadt“ bis zum stummen Schrei im letzten Bild ein rundes Filmerlebnis gelungen. Rechnet man „Die Spur des Falken“ (1941) als ersten und „Im Zeichen des Bösen“ (1958) als letzten Film noir des Classical Hollywood, wie es von vielen Filmwissenschaftlern vorgeschlagen wird, so ist „Schrei der Großstadt“ ein etwa zur Halbzeit entstandenes Produkt dieser Ära. Der Film noir hatte ein hohes Niveau erreicht und immer noch zehn tolle Jahre vor sich. Nicht nur Siodmak als Film-noir-Regisseur, sondern auch der Film noir als Genre zeigt sich in „Schrei der Großstadt“ also praktisch auf seinem Zenit. In Deutschland kam „Schrei der Großstadt“ erst im Juli 1950 in die Kinos, knapp zwei Jahre nach der US-Premiere. Die deutsche Fassung ist absolut hörenswert, unter anderem mit Curt Ackermann als Stimme von Victor Mature. Ackermann war über viele Jahre auch die Stimme von Cary Grant sowie von Robert Mitchum und Vincent Price, synchronisierte jedoch bis auf Jeff Chandler niemanden häufiger als Victor Mature. Sein Auftritt in „Schrei der Großstadt“ war einer seiner frühesten für Mature – der zweite nach „Die Königin vom Broadway“ (1942), der ab Oktober 1949 in Deutschland gezeigt worden war.

DVD fast vergriffen

Wer noch ein Exemplar der mittlerweile nahezu vergriffenen deutschen DVD-Veröffentlichung des Films aus der Reihe „Hollywood Highlights“ von Universum Film ergattern will, sollte sich beeilen. Universum hat den Film sowohl im Doppelpack mit Samuel Fullers „Tokio-Story“ (1955) als auch als Einzel-Edition veröffentlicht. Letztgenannte kann man mit etwas Glück noch zu einem fairen Preis bekommen. Die DVD lässt in puncto Bild und Ton nichts zu wünschen übrig, allerdings bestehen die Extras zum Film nur aus dem Originaltrailer und ein paar oberflächlichen Infos über Victor Mature und Richard Conte in Schriftform. Fairerweise muss man anfügen, dass der Film in den USA erst knapp fünfeinhalb Jahre später, im Oktober 2013, von Fox selbst auf DVD veröffentlicht wurde – obendrein lediglich als „Cinema Archives“-Edition, die nach Bestellung auf DVD-R produziert wird, wobei es sich um ein in den USA bei Klassikern relativ häufig gebrauchtes Verfahren handelt, mit dem mehrere Studios die Klassiker aus ihren Archiven auf gebrannten DVDs an den Mann zu bringen versuchen. Gemessen an diesem doch sehr mageren Angebot für einen solchen Film ist die deutsche Universum-DVD allemal ein angemessenes, solides Release und dankenswert. Wer mehr über Robert Siodmak als deutschen Filmschaffenden im Exil in Hollywood und Weiteres zum „Film im Exil“ wissen möchte, wird in der 13. Ausgabe von „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ fündig.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Robert Siodmak haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Shelley Winters unter Schauspielerinnen, Filme mit Victor Mature in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 26. Mai 2008 als DVD, 21. Mai 2007 als Doppel-DVD (mit „Tokio-Story“)

Länge: 92 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Cry of the City
USA 1948
Regie: Robert Siodmak
Drehbuch: Richard Murphy, Ben Hecht, nach einem Roman von Henry Edward Helseth
Besetzung: Victor Mature, Richard Conte, Fred Clark, Shelley Winters, Hope Emerson, Berry Kroeger, Debra Paget, Roland Winters, Betty Garde
Zusatzmaterial: Original-Kinotrailer, Einleger mit Informationen zu den beiden Hauptdarstellern, Trailershow
Vertrieb: Universum Film

Copyright 2016 by Ansgar Skulme
Packshot: © 2008 Universum Film

 

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