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Horror für Halloween (XXXII) / Dario Argento (IV): Phenomena – Die Herrin der Fliegen

29 Okt

Phenomena

Von Volker Schönenberger

Horror // An einer Haltestelle an einer Passstraße in der Schweizer Provinz nimmt ein Postbus eine Ausflugsgruppe auf. Ein Teenager-Mädchen (Fiore Argento) hat getrödelt und bleibt zurück. Es betritt ein abgelegenes Haus, um um Hilfe zu bitten, doch dann wird die junge Frau von einem Unbekannten attackiert. Zwar gelingt es ihr, aus dem Gebäude zu fliehen, doch der Täter verfolgt sie bis zu einem Wasserfall …

Im Anschluss an diesen Prolog erfahren wir, dass ein Serienmörder in der Gegend wütet. Er bevorzugt Teenagerinnen, die er köpft. Die Köpfe werden gefunden, die Körper bleiben verschwunden. Der leitende Ermittler Inspektor Rudolf Geiger (Patrick Bauchau) und sein Assistent Kurt (Michele Soavi) ziehen den im Rollstuhl sitzenden Insektenkundler Professor John McGregor (Donald Pleasence) zu Rate. Von ihm erhoffen sie sich Aufschluss über die Todeszeitpunkte der Opfer anhand des Wachstums und Zustands der Maden und Fliegen an den verwesenden Schädeln.

Auftritt der Insektenflüsterin

Die junge Jennifer Corvino (Jennifer Connelly) trifft im „Richard Wagner“-Internat von Zürich ein. Sie liebt Insekten, wird nie von Bienen gestochen. Gleich in der ersten Nacht beginnt sie zu schlafwandeln, verlässt ihr Zimmer und wird in einem abgelegenen Trakt Zeugin eines grausamen Mordes. Ihr gelingt die Flucht in ein Waldstück, wo sie von der Schimpansin Inga gefunden wird, dem Haustier von Professor McGregor. Der zeigt sich fasziniert von Jennifers Gabe, mit den Insekten zu kommunizieren.

Dass die blutjunge Jennifer Connelly („Alita – Battle Angel“) in Dario Argentos „Phenomena“ als Protagonistin in Erscheinung tritt, hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung. Die spätere Oscar- und Golden-Globe-Gewinnerin („A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn“) war ein Jahr zuvor in Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ (1984) erstmals auf der Kinoleinwand zu sehen gewesen. Beim Dreh der finalen Szenen von „Phenomena“ biss ihr ein Schimpanse eine Fingerkuppe ab, sie wurde angenäht. Dario Argentos Regiearbeiten sind selten Schauspieler-Filme, aber Jennifer Connelly macht ihre Sache trotz ihrer Unerfahrenheit anständig, auch wenn man ihr damals sicher nicht prophezeit hätte, sie werde später zwei der wichtigsten Filmpreise der Welt gewinnen. Der Regisseur ist ja nicht unbedingt bekannt dafür, seine Darstellerinnen und Darsteller zu Höchstleistungen zu führen, da macht „Phenomena“ keine Ausnahme. Als Jennifers Schweizer Betreuerin Frau Brückner ist Daria Nicolodi zu sehen. Die jahrelange Lebensgefährtin des Regisseurs ist die Mutter von Asia Argento und tritt in ein paar seiner Filme als Nebenfigur auf, darunter „Rosso – Die Farbe des Todes“ („Profondo rosso“, 1975), „Suspiria“ (1977) und „Tenebre – Der kalte Hauch des Todes“ (1982). Die Dreharbeiten gestalteten sich für die beiden überaus konfliktträchtig, die Beziehung endete bald darauf (nachzulesen in „Dario Argento’s Phenomena“ von Alan Jones, Booklet-Text der Blu-ray von Arrow Video). Als erstes Mordopfer des Films hatte der Regisseur seine Tochter Fiore aus erster Ehe verpflichtet, die ihr Debüt als Schauspielerin aber wenig genoss und folgerichtig andere Wege einschlug.

Lieblingsarbeit von Dario Argento

Argento befand sich Mitte der 1980er-Jahre auf der Höhe seiner Filmkunst. Qualitätsschwankungen sind kaum zu bemerken, erst ein paar Jahre nach der Jahrtausendwende sank die Leistungskurve rapide nach unten. Manchen Fans gilt „Phenomena“ als ihre liebste Argento-Regiearbeit, auch Argento nennt den Film seinen Favoriten, und dafür gibt es gute Gründe. Ob Landschaftsaufnamen oder Motive im Innern, Kameramann Romano Albani findet schaurig-schöne Bilder und Einstellungen für die grausame Mär um Insekten und Serienmorde. Es verwundert, dass er danach nie wieder für Argento die Kamera geführt und dies auch vorher nur einmal getan hat – 1980 für „Horror Infernal“ („Inferno“). Die rausch- und albtraumhaften Geschehnisse um das Internatsgebäude scheren sich nicht um Fragen der Glaubwürdigkeit, es ist völlig gleichgültig, ob und wie der Täter auf realistische Weise Gelegenheit gefunden hätte, seine Morde zu verüben, die Opfer zu köpfen und ihre Leichen abzutransportieren. Das verleiht der Story eine unwirkliche Qualität, die ihr eher guttut als zu schaden. Auch Argentos Spiel mit Farben kommt gut zur Geltung.

Für die Filmmusik entschied sich Argento für ein interessantes Gemisch aus Stücken seiner Haus- und Hof-Formation Goblin, des Soundtrack-Debütanten Simon Boswell und des Rolling-Stones-Bassisten Bill Wyman. Zusätzlich bekommen wir „Flash of the Blade“ von Iron Maiden und „Locomotive“ von Motörhead auf die Ohren. In dem Kontext ist das unfreiwillig komische Fazit im „Lexikon des internationalen Films“ als Kuriosum lesenswert: Langatmiges, primitiv inszeniertes Horror-Spektakel, das mit blutrünstigen Schockeffekten und penetrant eingesetzter Heavy-Metal-Musik Spannung zu erzeugen versucht. Na ja, die katholisch geprägte Publikation hat bei Horrorfilmen oft genug mit skurrilen Beurteilungen danebengelegen. „Phenomena“ nimmt sich Zeit, Atmosphäre aufzubauen, wer das für langatmig hält, soll bei MTV-Musikvideos der 80er und 90er bleiben. Und natürlich kann man grauslich inszenierte Morde für primitiv halten, wenn man ein Weichei ist, das beim Herannahen eines Mörders die Hände vor die Augen hält. Ich nenne das kunstvoll, was Argento da abgeliefert hat. Aber was soll man auch von einem Rezensenten halten, der ganze zwei Metal-Songs für „penetrant“ hält? Die beiden Motörhead- und Maiden-Stücke erklingen jedenfalls nicht permanent, sie bilden im Gegenteil einen reizvollen Kontrast zu den Synthie-Klängen von Goblin.

Larven, Maden und anderes Kleingetier

Larven, Maden und Fliegen schrauben den Ekelfaktor in einigen Sequenzen hoch, ein paar Mal musste ich das Gesicht verziehen. Aber es passt zur Story und wirkt nicht selbstzweckhaft. Die Inspiration für die Insektenstory zog Argento aus kriminalistischen Berichten über Autopsien, bei denen die Pathologen anhand des Kleingetiers auf Leichen Rückschlüsse über den Todeszeitpunkt ziehen können. Sein Ko-Drehbuchautor Franco Ferrini („Es war einmal in Amerika“) hat gegenüber Alan Jones erwähnt (siehe oben genannter Booklet-Text), Argento wollte unbedingt eine Hauptfigur mit einer besonderen Fähigkeit haben, weil das Motiv seinerzeit in Filmen wie den beiden Stephen-King-Adaptionen „Dead Zone“ (1983) und „Der Feuerteufel“ (1984) auftauchte.

Ursprünglich sollte die junge Insekten-Flüsterin Martha heißen, was Jennifer Connelly aber überhaupt nicht gefiel. Den Wechsel zu Jennifer erleichterte der Umstand, dass es der Schimpansendame leichter fallen würde, mit Connelly zu interagieren, wenn sie in gemeinsamen Szenen mit Donald Pleasence nicht anders angesprochen würde als in den Drehpausen und beim Training mit der Menschenäffin.

Filmcrew züchtet Fliegen

Zum Finale legt der Regisseur dann eine Horror-Schippe drauf, für eine Szene daraus züchtete die Crew sogar Fliegen aus zwei Millionen Eiern, Kleidung und Maske des betroffenen Darstellers erhielten reichlich Glukosesirup als Lockmittel. Respekt an den Schauspieler David Marotta, dies ausgehalten zu haben. Die blutigen Make-up-Effekte von Sergio Stivaletti sind aller Ehren wert. Er wirkte bei einigen Argento-Filmen mit, darunter „Opera“ (1987), „Das Stendhal-Syndrom“ (1996) und „Sleepless“ (2001) sowie auch den eher missratenen Argento-Spätwerken „The Mother of Tears“ (2007), „Giallo“ (2009) und „Dario Argentos Dracula“ (2012).

Noch keine FSK-Freigabe für Uncut-Fassung

Vormals indiziert, hat die ungeschnittene Fassung von „Phenomena“ seit der Listenstreichung keine Neuprüfung durch die FSK erhalten. Im Handel finden sich nach wie vor geschnittene Versionen, für eine Auflistung zensierter und unzensierter Fassungen empfiehlt sich der Blick auf Schnittberichte. Wer bereit ist, bei der Bild- und Tonqualität gegenüber neuen HD-Veröffentlichungen ein paar Abstriche zu machen, wird mit der limitierten Digipack-DVD im Schuber mit Booklet von Dragon Entertainment gut bedient (siehe die beiden unteren Fotos), zumal sie auf dem Sammlermarkt mit etwas Glück sehr preiswert zu finden ist. Gelungene Editionen hat einmal mehr das englische Label Arrow Video auf den Markt geworfen, zuletzt auch eine neue 4K-Abtastung. Mir reicht aber mein etwas älteres Arrow-Steelbook, das seinerzeit exklusiv über einen britischen Online-Händler vertrieben wurde. Löblich: Arrow packte gleich zwei englische Untertitelfassungen auf die Disc – einmal für die englische Sprachfassung, einmal für die italienische. Ich nutze englische Untertitel zur Verifizierung des Gehörten, da wäre es suboptimal, wenn ich eine englische Übersetzung der italienischen Synchronisation zu lesen bekomme. Argento drehte im Übrigen trotz einer mehrheitlich italienischen Besetzung in englischer Sprache, die italienische Fassung entstand per Nachsynchronisation.

Von der zeitgenössischen Filmkritik zwiespältig aufgenommen, hat „Phenomena“ im Lauf der Jahre den Status einer der interessantesten Regiearbeiten Argentos eingenommen. Für Fans des Italieners stellt „Phenomena“ sowieso Pflichtprogramm dar, und wer mystischem Horror im Allgemeinen und dabei den 80ern im Besonderen etwas abgewinnen kann, kommt an dem Film nicht vorbei. Ach, was rede ich: „Phenomena“ gehört zu den Sahnestücken des Horrors überhaupt.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Dario Argento sind in unserer Rubrik Regisseure aufgeführt, Filme mit Jennifer Connelly unter Schauspielerinnen, Filme mit Donald Pleasence in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: diverse als Blu-ray und DVD

Länge unzensiert: 115 Min. (Blu-ray), 111 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK ungeprüft (zensiert auch FSK 18)
Sprachfassungen: Deutsch, Italienisch
Untertitel: keine Angabe
Originaltitel: Phenomena
IT/CH 1985
Regie: Dario Argento
Drehbuch: Dario Argento, Franco Ferrini
Besetzung: Jennifer Connelly, Donald Pleasence, Daria Nicolodi, Fiore Argento, Federica Mastroianni, Fiorenza Tessari, Dalila Di Lazzaro, Patrick Bauchau, Alberto Cracco, Kaspar Capparoni, Mario Donatone, Michele Soavi
Label/Vertrieb: diverse

Copyright 2019 by Volker Schönenberger

 

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