RSS

Archiv für den Monat Juni 2024

Zum 80. Geburtstag von Tony Scott: Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben: Der Husarenritt des Bruce Willis

The Last Boy Scout

Von Volker Schönenberger

Actionthriller // Zeitlebens steht er etwas im Schatten seines sechs Jahre älteren Bruders Ridley (* 1937). Dabei hat Tony Scott in seiner Karriere als Regisseur zahlreiche Duftmarken im Actionfilm gesetzt.

Als Anthony David Leighton Scott wird er am 21. Juni 1944 im an der Nordsee gelegenen North Shields im hohen Nordosten Englands geboren. Nach der Schule studiert er acht Jahre lang Kunst, folgt Ende der 1960er-Jahre seinem Bruder in dessen Produktionsfirma Ridley Scott Associates, wo er ebenso wie Ridley Werbespots dreht – beide erhalten im Lauf der Zeit viele Auszeichnungen der Werbebranche. Erste fiktive Kurzfilme folgen, darunter die 57-minütige Kriegs-Reflexion „Loving Memory“ (1970). Erst 1982 dreht er seinen ersten abendfüllenden Spielfilm: die britische Produktion „Begierde“, ein Vampirdrama mit Catherine Deneuve, David Bowie und Susan Sarandon, das ab April 1983 weltweit in die Kinos kommt, seiner Zeit aber offenbar voraus ist und sich eher zum Kultfilm entwickelt. 1986 schlägt „Top Gun – sie fürchten weder Tod noch Teufel“ ein wie eine Bombe, der Kampfflieger-Actioner macht Tom Cruise zum Topstar und markiert den Beginn von Scotts Zusammenarbeit mit dem Produzenten Jerry Bruckheimer. Fortan stehen die Zeichen auf Action, etwa mit den beiden Bruckheimer-Produktionen „Beverly Hills Cop II“ (1987) und „Tage des Donners“ (1990). In dem etwas abfällig auch als „Top Gun auf Rädern“ bezeichneten NASCAR-Rennfahrerfilm setzt Scott erneut Tom Cruise als Hauptdarsteller in Szene.

„True Romance“!

Einen weiteren Kultfilm vollbringt er nach einem Drehbuch von Quentin Tarantino und Roger Avary: „True Romance“ (1993) zeigt Christian Slater und Patricia Arquette als junges Liebespaar, das an einen Koffer voll Kokain gelangt und von der Mafia gejagt wird. Mal keine Bruckheimer-Produktion, zu diesem kehrt Scott 1995 mit dem U-Boot-Atomkriegs-Szenario „Crimson Tide – In tiefster Gefahr“ zurück, mit Denzel Washington, Gene Hackman, Viggo Mortensen, James Gandolfini und Jason Robards prominent besetzt. Unter Produzent Jerry Bruckheimer wird Tony Scott noch den Überwachungsthriller „Der Staatsfeind Nr. 1“ (1998) mit Will Smith, Gene Hackman und Jon Voight sowie den SF-Actionthriller „Déjà Vu – Wettlauf gegen die Zeit“ (2006) mit Denzel Washington, Val Kilmer und Jim Caviezel drehen. Unter dem Dach der von von ihm und Bruder Ridley gegründeten Scott Free Productions produziert Tony seine eigenen Regiearbeiten teils auch selbst, etwa den Stalking-Thriller „The Fan“ (1996) mit Robert De Niro und Wesley Snipes um einen von einem Baseball-Star besessenen Fan, den Kidnapping-Thriller „Mann unter Feuer“ (2004) mit Denzel Washington, Christopher Walken und Dakota Fanning sowie den Actioner „Domino – Live Fast Die Young“ (2005) um eine Kopfgeldjägerin (Keira Knightley) und ihre Partner (Micky Rourke, Édgar Ramírez).

Mehr Schein als Sein? Mitnichten

„Style over Substance“, also mehr Schein als Sein – eine gegenüber Tony Scott gern geäußerte Kritik, nicht zuletzt aufgrund der Werbefilm- und MTV-Ästhetik, die manchen seiner Regiearbeiten innewohnt, inklusive Schnittgewittern und reduzierten Dialogen. Da mag teils sogar etwas dran sein, man denke nur an seine frühen Bruckheimer-Arbeiten „Top Gun“ und „Tage des Donners“. Aber der Vorwurf verkennt doch, dass es Scott generell weniger um das Erzählen großer Geschichten geht, weil die Story ihm lediglich als Aufhänger dient. Diesem Filmemacher geht es um Bilder, um filmische Sequenzen – er ist geradezu ein „Action-Auteur“, der seine „Actionszenen von allem narrativen Ballast befreit“ (so der ehemalige „Die Nacht der lebenden Texte“-Autor Simon Kyprianou in seiner Rezension von „Domino“). Action in Reinkultur und das so energetisch wie stilsicher. Dieser Stil hat eben allein für sich schon Substanz, weshalb „Style over Substance“ ins Leere führt. Tony Scotts Einfluss aufs Action- und Thrillergenre sollte nicht unterschätzt werden, auch wenn die großen Filmpreise allesamt an ihm vorbeigehen. Immerhin zwei Primetime Emmy Awards stehen zu Buche: 2002 für das Fernsehdrama „Churchill – The Gathering Storm“ und 2011 für die TV-Bürgerkriegsdoku „Gettysburg“, beide von ihm und Ridley Scott als Executive Producers mitverantwortet. 1995 gewinnen Tony und Ridley für ihren Beitrag zum britischen Kino bei der Verleihung der britischen Filmpreise BAFTA den Michael Balcon Award.

Auf den Gleisen

In seinen letzten beiden Regiearbeiten widmet sich Scott aus der Kontrolle geratenen Zügen: Das Remake „Die Entführung der U-Bahn Pelham 123“ (2009) fesselt mit einem feinen Psychoduell zwischen John Travolta als Lösegelderpresser und Denzel Washington als New Yorker U-Bahn-Fahrdienstleiter und Unterhändler. „Unstoppable – Außer Kontrolle“ (2010) markiert Scotts fünfte Zusammenarbeit mit Denzel Washington; die Kooperationen mit dem Topstar gehören zu Scotts besten Werken. Washington und Chris Pine spielen zwei Lokführer, die versuchen, einen führerlos dahinrasenden, mit giftigen Chemikalien beladenen Güterzug zu stoppen.

„Unstoppable“ wird Tony Scotts Vermächtnis. Am 19. August 2012 nimmt er sich in Los Angeles im Alter von 68 Jahren das Leben, hinterlässt seine dritte Frau und zwei im Jahr 2000 geborene Zwillingssöhne. Sein Leichnam wird eingeäschert, die Überreste werden fünf Tage nach seinem Tod auf dem „Hollywood Forever Cemetery“ am Santa Monica Boulevard beigesetzt, wo zahlreiche Hollywoodgrößen begraben sind. Viele Weggefährtinnen und -gefährten würdigen nach Scotts Tod dessen Schaffen. Jahre später gibt Ridley Scott bekannt, sein Bruder sei an Krebs erkrankt gewesen. Er widmet Tony sein Bibel-Epos „Exodus – Götter und Könige“ (2014), auch „Top Gun – Maverick“ (2022) von Joseph Kosinski ist ihm gewidmet – die „Top Gun“-Fortsetzung hätte er vermutlich inszeniert, sein Ableben verzögerte die Produktion des Sequels um Jahre. Am 21. Juni 2024 wäre Tony Scott 80 Jahre alt geworden. Er ruhe in Frieden.

Runningback läuft Amok – auf dem Feld!

„Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ (1991) beginnt mit einem verregneten American-Football-Match in Cleveland. Billy Cole (Billy Blanks), Runningback der gastierenden Los Angeles Stallions, erhält in der Halbzeitpause einen Anruf. Milo (Taylor Negron), beschwört ihn, es stehe viel Geld auf dem Spiel. Billy liefere besser ein paar Touchdowns, sonst sei er Geschichte. Als das Spiel weiterläuft und der Runningback den Ball erhält, läuft er in Richtung der gegnerischen Endzone, zieht eine Waffe und schießt sich den Weg frei. Anschließend richtet er sich selbst.

Bodyguard für eine Stripperin

In Los Angeles erwacht der verkrachte Privatdetektiv Joe Hallenbeck (Bruce Willis) verkatert in seinem Auto, in dem er die Nacht verbracht hat. Daheim erwischt er seine Frau Sarah (Chelsea Field) mit seinem Kumpel und Auftraggeber Mike (Bruce McGill) in flagranti. Kurz darauf ist Mike tot, jemand hatte sein Auto mit einer Bombe präpariert. Einen Auftrag konnte er Joe noch übertragen: Er soll die Stripperin Cory (frühe Rolle für Halle Berry) beschützen, die sich bedroht fühle.

Ein Pärchen wie Hans und Klärchen

Der Auftrag misslingt auf fatale Weise: Joe wird vor dem Stripclub niedergeschlagen, die Stripperin auf offener Straße von einem Killerkommando abgeknallt. Widerwillig tut sich der Privatdetektiv mit Corys Freund Jimmy Dix (Damon Wayans, „Colors – Farben der Gewalt“) zusammen. Der war mal ein vielversprechender Quarterback der Stallions, bis Glücksspiel und Rauschgift seine Karriere beendeten. Das ungleiche Duo stößt auf eine groß angelegte Verschwörung, bei der Sheldon Marcone (Noble Willingham) der Strippenzieher ist, seines Zeichens Besitzer der Los Angeles Stallions.

Drehbuchänderungen noch und nöcher

Schießereien mit heftigen Körpertreffern, Verfolgungsjagden mit reichlich Schrott, Explosionen – allein auf der Actionebene haut Tony Scott raus, was geht. Das ist sehr energetisches Actionkino, in sich ruhend, ohne im entferntesten ruhig zu sein. Und blutig ist’s! Erwähnte Körpertreffer gibt es etliche zu bestaunen, dazu weitere Gewalttaten, am Ende fällt sogar jemand in den Rotor eines Helikopters. Autsch! Das kann man zum Teil selbstzweckhaft finden, es führte 1993 auch dazu, dass die ungeschnittene Fassung von „Last Boy Scout“ hierzulande auf dem Index landete (nach 25 Jahren folgte 2018 turnusmäßig die Listenstreichung). Das Originaldrehbuch von Shane Black („Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis“, „Last Action Hero“, „Tödliche Weihnachten“) war sogar noch gewalthaltiger als der fertige Film. Black und Tony Scott waren dem Vernehmen nach mit dem Resultat alles andere als zufrieden – es führte zum Zerwürfnis zwischen dem Regisseur und seinem Produzenten Joel Silver, weil der und Hauptdarsteller Bruce Willis weitreichende Änderungen am Skript durchsetzten.

Showdown im Stadion

Richard Donners „Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis“ (1987) und John McTiernans „Stirb langsam“ (1988) hatten einige Jahre zuvor mächtige Action-Ausrufezeichen gesetzt (und zwei großartige Reihen begründet), aber der von März bis Juni 1991 „on location“ in Los Angeles gedrehte „Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ steht keinem der beiden Filme oder ihren Fortsetzungen in etwas nach. Das gilt für die Actionszenen ebenso wie für die mal zynischen, mal schwarzhumorigen Dialoge. Insbesondere Bruce Willis und der auch bei „Saturday Night Live“ reüssierende Komiker Damon Wayans spielen einander in bester Buddy-Movie-Manier die Bälle zu, dass es eine reine Freude ist. Nicht immer jugendfrei und schon gar nicht politisch korrekt. Wobei der Actionthriller nie ins Komödiantische abdriftet, dafür ist er zu zynisch, bleibt auch der Ernsthaftigkeit verhaftet. Trotz viel gleißenden Tageslichts wabert viel düstere Neo-Noir-Atmosphäre durch die Bilder.

Paraderolle für Bruce Willis

In einer Auflistung von Bruce Willis’ besten Rollen gehört Joe Hallenbeck weit nach vorn. Einstmals Topmann beim Secret Service und als Präsidentenretter ein Held, hat eine ehrenhafte Tat gegenüber einem gewalttätigen und frauenfeindlichen Senator (Chelcie Ross) ihn die Karriere gekostet und aus der Bahn geworfen. Wirkt der verkrachte Privatschnüffler anfangs noch etwas klischeehaft und zu cool, um wahr zu sein, bekommt er spätestens dann eine menschliche Note, wenn er in einem Nebensatz seinem unverhofften Partner Jimmy Dix seine ganze Tragik offenbar: I wish that water wasn’t wet, I wish the sky wasn’t blue and I wish that I didn’t still love my wife. Ahh, life sucks! – Ich wünschte, Wasser wäre nicht nass, ich wünschte, der Himmel wäre nicht blau, und ich wünschte, ich würde meine Frau nicht mehr lieben. Ahh, das Leben stinkt! Auch seine unbeholfenen Versuche, gegenüber seiner halbwüchsigen Tochter Darian (klasse: Danielle Harris, „Daylight“) eine wie auch immer geartete Vaterrolle einzunehmen, lassen die Fassade bröckeln. Nach und nach kommen hinter der Coolness, dem Zynismus und dem Alkohol die menschlichen Züge Hallenbecks zum Vorschein, und wir erkennen, dass bei ihm Hopfen und Malz vielleicht doch noch nicht ganz verloren sind.

Wo bleibt eine deutsche Neuveröffentlichung?

„Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ ist im deutschen Handel vergriffen. Bei der Suche danach auf dem Gebraucht- und Sammlermarkt gilt es, darauf zu achten, nicht an die FSK-16-DVD zu geraten – die ist geschnitten (Unterschiede siehe Schnittbericht). Ob der Actionthriller Teil des Warner-Deals von Plaion Pictures ist? In dem Fall könnten wir beizeiten mit einer feinen Mediabook-Edition rechnen. Verdient hat der Film sie allemal. Ein Highlight aus jener Ära des Actionkinos, in der Hollywood stetig fulminante Genrebeiträge im A-Liga-Format hervorgebracht hat. Wer „Stirb langsam“, „Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis“ und dergleichen als Pflichtfilme in seiner Sammlung sieht, sollte sich auch „Last Boy Scout – Das Ziel ist Überleben“ ins Regal stellen.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Tony Scott haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Halle Berry und Danielle Harris unter Schauspielerinnen, Filme mit Billy Blanks, Kim Coates, Noble Willingham und Bruce Willis in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 5. November 2010 als Blu-ray, 26. April 2001 als DVD, 28. April 1999 als gekürzte DVD

Länge: 105 Min. (Blu-ray), 101 Min. (FSK-18-DVD), 96 Min. (gekürzte FSK-16-DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Spanisch
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte u. a.
Originaltitel: The Last Boy Scout
USA 1991
Regie: Tony Scott
Drehbuch: Shane Black
Besetzung: Bruce Willis, Damon Wayans, Chelsea Field, Noble Willingham, Taylor Negron, Danielle Harris, Halle Berry, Bruce McGill, Badja Djola, Kim Coates, Chelcie Ross, Joe Santos, Clarence Felder, Tony Longo, Frank Collision, Bill Medley, Lynn Swann, Michael Papajohn, Shane Dixon, Jeff Hochendoner, Billy Blanks
Zusatzmaterial: Originaltrailer
Label/Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2024 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & untere Packshots: © Warner Home Video

 

Schlagwörter: , , , , , , , , , ,

1984 – Mediabook mit UHD Blu-ray und Blu-ray

Von Volker Schönenberger

SF-Drama // Richard Burton als Gedankenpolizist, John Hurt als Beamter im Ministerium der Wahrheit, der an seinem Tun und der allmächtigen Partei zweifelt – Michael Radfords 1984er-Verfilmung von George Orwells Roman „1984“ hat bis heute nichts von ihrer Aktualität und Intensität verloren. Nun hat capelight pictures die von Kameramann Roger Deakins überwachte 4K-Restaurierung des Films lizenziert und im Mediabook-Format mit UHD Blu-ray und Blu-ray veröffentlicht. Anlass genug, meine Rezension von 2015 zu überarbeiten und zu erweitern. Hier findet ihr sie:

 

Mad God – Mit Stop-Motion in die tiefsten Abgründe

Mad God

Von Volker Schönenberger

Puppentrick-Horror-Fantasy // Phil Tippett (* 1951) gilt im Bereich visueller Spezialeffekte als einer der Wegbereiter moderner Stop-Motion– und insbesondere der Go-Motion-Technik. Er stieß Mitte der 1970er-Jahre zu George Lucas’ Effektschmiede Industrial Light & Magic und war bei „Star Wars: Episode IV – Eine neue Hoffnung“ (1977) für eine holografische Schachspielszene zuständig, die er mittels Stop-Motion verwirklichte. Ein schönes kleines Detail des Films, wenn ihr euch erinnert.

Vom Schöpfer der AT-ATs

Go-Motion führt zu Bewegungsunschärfe und reduziert auf diese Weise die für reine Stop-Motion typische ruckartige Wirkung der Animationen. Tippett setzte sie erstmals für „Star Wars: Episode V – Das Imperium schlägt zurück“ (1980) ein – die imperialen Läufer (AT-AT) und Luke Skywalkers Reittier Tauntaun auf dem Eisplaneten Hoth entstanden auf diese Weise. Für „Der Drachentöter“ (1981) erhielt er 1982 seine erste Oscarnominierung für visuelle Effekte. Diese Oscar-Kategorie wurde 1984 nicht vergeben, weshalb Tippett für die visuellen Effekte von „Star Wars: Episode VI – Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ (1983) 1984 gemeinsam mit drei Kollegen mit einem „Special Achievement Award“ geehrt wurde. Ebenfalls mit drei Kollegen – darunter Stan Winston – gewann er 1994 den „regulären“ Oscar für die visuellen Effekte von Steven Spielbergs „Jurassic Park“.

Der Attentäter trifft ein

Bereits um 1990 herum hatte Tippett mit der Arbeit an „Mad God“ begonnen, doch während der Arbeit an „Jurassic Park“ legte er das Projekt auf Eis, wo es 20 Jahre lang vor sich hindämmerte (Quelle: „Bloody Disgusting“). Nachdem er es wieder hervorgeholt hatte, veröffentlichte er zwischen 2014 und 2018 drei Abschnitte daraus als Kurzfilme, zum Teil mittels Crowdfunding finanziert (Quelle: „Empire“). Nach Fertigstellung des Langfilms feierte „Mad God“ Anfang August 2021 beim Internationalen Filmfestival von Locarno (Schweiz) seine Weltpremiere, ging im Anschluss auf ausgiebige Festivaltour und landete im selben Monat unter anderem beim Internationalen Filmfestival von Oldenburg, beim Fantastic Fest im texanischen Austin und im Oktober beim Internationalen Festival des fantastischen Films im katalanischen Sitges.

Gottes Zorn kommt über uns

If you disobey me and remain hostile to me, I will act against you in wrathful hostility. I for my part, will discipline you sevenfold for your sins. You shall eat the flesh of your sons and the flesh of your daughters. I will destroy your cult places and cut down your incense stands. – Wenn ihr mir nicht gehorcht und mir gegenüber feindselig bleibt, werde ich mit zorniger Feindesligkeit gegen euch vorgehen.Ich für meinen Teil werde euch für eure Sünden siebenfach bestrafen. Ihr sollt das Fleisch eurer Söhne und das Fleisch eurer Töchter essen. Ich werde eure Kultstätten zerstören und eure Weihrauchstände abreißen.

And I will heap your carcasses upon your lifeless idols. I will spur you. I will lay your cities in ruin and make your sanctuaries desolate and I will not savor your pleasing odore. I will make the land desolate, so that your enemies who settle it shall be appalled by it. – Und ich werde eure Kadaver über euren leblosen Götzenbildern anhäufen. Ich werde euch verschmähen. Ich werde eure Städte in Trümmer legen und eure Heiligtümer verwüsten und ich werde eure angenehmen Düfte nicht genießen. Ich werde das Land verwüsten, sodass eure Feinde, die es besiedeln, darüber entsetzt sein werden.

And you will scatter among the nations and I will unsheath the sword against you. Your land shall become a desolation and your cities a ruin. – Und ihr werdet euch unter die Völker zerstreuen, und ich werde das Schwert gegen euch erheben. Euer Land soll zur Wüste werden und eure Städte zu Ruinen.

Mit der Einblendung dieses Bibelzitats (Levitikus, Kapitel 26, ab Vers 18) beginnt „Mad God“.

Anschließend senkt sich eine Art Taucherglocke in eine finstere Unterwelt hinab, beschossen von Flakgeschützen. Am Boden entsteigt ihr eine hochgewachsene Gestalt in Gummistiefeln mit Hut, Gasmaske und Handkoffer nebst Landkarte (die Figur wird namenlos bleiben, im Abspann wird sie als „Assassin“ geführt werden). Der Neuankömmling gerät in ein an Trostlosigkeit und Düsternis kaum zu überbietendes Territorium mit Fabrik- und Förderanlagen, das von grotesken Kreaturen bevölkert wird, die teils wie Mutanten wirken. Das Leben ist hier nicht viel wert.

In der Düsternis …

Irgendwann scheint der Assassine sein Ziel erreicht zu haben. Vor ihm tut sich ein Berg von Koffern auf, dem seinen ähnlich. Diesen öffnet er nun, zum Vorschein kommt eine Zeitbombe, die er in Gang setzt …

Dantes Inferno im Industriezeitalter

Drehbuchautor und Regisseur Phil Tippett hat eine Welt ersonnen, die wie Dantes Inferno im industrialisierten Zeitalter anmutet. Es ist ein Ort, an welchem man sich nur in das dunkelste Loch verkriechen möchte, um sich dort der Gnade der Vergessenheit anheimzugeben. Elend, Folter, Tod und Körperflüssigkeiten sind allgegenwärtig. Für uns Zuschauerinnen und Zuschauer bietet das „Mad God“-Universum einen mit liebevoll gestalteten Details überbordenden Ideenreichtum, der Tippetts Arbeit für wiederholte Sichtungen prädestiniert. Dann lassen sich vielleicht noch mehr Metaphern und Anspielungen/Zitate finden. Solche wie die dunklen Quader, die uns gegen Ende um die Ohren fliegen und mich ungemein an den schwarzen Monolithen in Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) erinnert haben. Was mag ich alles übersehen haben? Ein Hang zum Morbiden hilft jedenfalls ungemein, den Filmgenuss zu erhöhen. Der apokalyptische Bilderrausch ist angetan, Sogwirkung zu entfalten. Was würde wohl Stop-Motion-Pionier Ray Harryhausen (1920–2013) zu „Mad God“ sagen? Mein Tipp: Er wäre gleichzeitig begeistert und verstört.

… tummeln sich …

Zwischendurch verlässt das Werk die reine Puppentrick-Animation und wartet mit ein paar Live-Action-Sequenzen auf, etwa mit einem Chirurgen (Satish Ratakonda) und einer Krankenschwester (Niketa Roman). Das führt zu einem gewissen Bruch, der auch nicht angetan ist, Klarheit ins Geschehen zu bringen, aber auf eine verquere Weise passt auch das ins Gesamtbild. Die Deutung gestaltet sich insofern schwierig, als „Mad God“ komplett auf Dialoge verzichtet. Mit Ausnahme der oben von mir zitierten Texteinblendung aus der Bibel enthält das Werk keine verständliche Sprache, die uns bei der Entschlüsselung der Story helfen könnte. Halten wir uns also daran und an den Titel: Ist’s ein wahnsinniger Gott, der seinen gerechten (na ja) Zorn über die Welt ausschüttet, obwohl er doch diese Welt erschaffen hat?

Wertige Special Edition von Plaion Pictures

Plaion Pictures hat „Mad God“ in einem Special Edition Digipack im Schuber veröffentlicht. Das Endprodukt liegt mir leider nicht vor, dürfte aber dem üblichen hohen Standard des Labels entsprechen. Der Film ist auf Blu-ray und DVD enthalten, auf beiden Scheiben finden sich bereits wertige Boni, etwa drei Kurzfilme, darunter Phil Tippetts knapp zehnminütiger Erstling „Prehistoric Beast“ von 1985 um eine Begegnung in der Ära der Dinosaurier und ein paar historisch anmutende Aufnahmen – immerhin mehr als 17 Minuten – mit frühen Animationsversuchen des Effektmeisters. Sehr interessant sind auch die sechseinhalb Minuten, in denen Tippett über seine Inspirationen spricht. Auf der mir nicht vorliegenden Bonus-Blu-ray finden sich zudem zwei spielfilmlange Dokumentationen plus elfeinhalb Minuten mit entfernten Szenen. Ein 60-seitiges Buch, ein 40-seitiges Booklet und ein Poster runden die Veröffentlichung ab.

Ungemein beeindruckend, wie konsequent und unbeirrt Phil Tippett seiner gestalterischen Vision folgt, ohne sich um narrative Konventionen zu scheren. Manch eine/n Filmgucker/in wird das verschrecken, vielleicht gar bis zum vorzeitigen Ausstieg des unter der Anderthalbstundenmarke bleibenden Films. Lasst euch gesagt sein: Tut es nicht, ihr verpasst etwas! „Mad God“ sucht seinesgleichen.

… fremdartige Kreaturen

Veröffentlichung: 23. Mai 2024 als 3-Disc Special Edition Digipack im Schuber (2 Blu-rays & DVD)

Länge: 84 Min. (Blu-ray), 80 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Englisch (Texteinblendung zu Beginn)
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Mad God
USA 2021
Regie: Phil Tippett
Drehbuch: Phil Tippett
Besetzung: Alex Cox, Satish Ratakonda, Niketa Roman
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Phil Tippett und Guillermo Del Toro, Audiokommentar von Cast & Crew, „Maya Tippett’s The Making of Mad God“ (10:20 Min.), Inspirationen (6:30 Min.), Interview mit Phil Tippett (4:39 Min.), Featurette „Academy of Art University & Mad God“ (5:15 Min.), „Maya Tippett’s Worse Than the Demon“ (12:34 Min.), Kurzfilme „Early Animation Tests“ (17:38 Min.), „Prehistoric Beast“ (9:50 Min.) und „Mutant Land“ (3:20 Min.), Doku „Phil Tippett – Meister der fantastischen Kreaturen“ (80:36 Min.), Making-of (99:58 Min.), entfernte Szenen (11:37 Min.), Fotogalerie (9:20 Min.), 60-seitiges Buch, 40-seitiges Booklet, 3 Poster
Label/Vertrieb: Plaion Pictures

Copyright 2024 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshots: © 2024 Plaion Pictures

 

Schlagwörter: , , , , , , , , ,