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Sidney Lumet (XII) zum 100. Geburtstag: Die Göttliche – Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es!

Garbo Talks

Von Tonio Klein

Tragikomödie // „Du warst ja Kinderdarsteller – ich auch.“ Also sprach der Regisseur Sidney Lumet zu Ethan Hawke, Hauptdarsteller in seinem letztem Film „Tödliche Entscheidung“ (2007), wie das Bonusmaterial der Blu-ray zeigt. Bereits mit fünf Jahren stand Lumet auf der Bühne des Yiddish Art Theatre in New York City. Diese Stadt und seine jüdische Identität ziehen sich durch nahezu sein gesamtes filmisches Werk, wenngleich er nicht einmal in New York, sondern am 25. Juni 1924 in Philadelphia geboren wurde. Der Sohn polnischstämmiger Einwanderer wuchs aber in der Stadt, die nie schläft, auf, war augenscheinlich ebenfalls recht aufgeweckt und folgte seinen Eltern in das Theater, dem sie angehörten. Da er als Junge auch in einem Film mitspielte, kann man sich noch heute ein Bild machen. „…One Third of a Nation…“ (1939) ist ein weitgehend vergessenes, aber hervorragendes und für das Hollywood dieser Zeit ungewöhnliches Stück sozialkritischen Realismus über die prekäre Wohnsituation von Amerikanern aus dem Arbeitermilieu (vgl. „35 Millimeter“, Heft 52, Dezember 2023, hier bestellbar). Sozialkritik, (Recht und) Gerechtigkeit sowie das Theater sollten den in armen, aber künstlerisch aktiven Verhältnissen aufgewachsenen Lumet zeitlebens interessieren und sein Werk kennzeichnen.

Anfänge und Markenzeichen

Lumet landete nach dem Armeedienst beim Fernsehen, wo er ab 1950 eine schier unglaubliche Anzahl an Kurzfilmen inszenierte, die oft noch den Gesetzen dessen gehorchten, was man hierzulande gelegentlich „Fernsehspiel“ nennt: Die Aufzeichnung erfolgte live. „Wer beim Fernsehen ‚von der Pike auf gelernt‘ hat, hat meist nichts gelernt“, so zitiert Robert Zion („Rhonda Fleming“ – Erstausgabe 2020) Wolf-Eckart Bühler. Zumindest bei Lumet: Unsinn; wie viel hat der Mann gelernt! Die durch das Live-Format nötigen intensiven Proben bei anschließend nur einem Versuch haben ihn bis ins hohe Alter geprägt, sodass er auch im Kino lange proben ließ und anschließend mit nur wenigen Takes auskam. Zeitlebens wurde er als ausgesprochen präziser und ökonomischer Handwerker geschätzt. Das allein macht natürlich noch nicht einen großen Künstler aus, aber befähigte Lumet neben vielem anderen, gleich mit seinem Kinodebüt einen noch heute bekannten Klassiker zu landen: „Die 12 Geschworenen“ (1957) nach einem Theaterstück von Reginald Rose.

Er schrieb dann an nicht weniger als einem halben Jahrhundert US-amerikanischer Kinogeschichte mit, bei allen ästhetischen und inhaltlichen Veränderungen der dortigen Filmkultur. Angesichts von 43 Kinoregiearbeiten schuf er natürlich nicht nur Meisterwerke, diese aber in beachtlicher Zahl. Verließ er einmal sein geliebtes New York City und ging ins grelle L.A. wie im Thriller „Der Morgen danach“ (1986) oder ins ländliche Texas wie im Drama „Aus Liebe zu Molly“ (1974), entstanden nicht seine besten Filme. Wenngleich es Ausnahmen wie das britische Polizistendrama „Sein Leben in meiner Gewalt“ (1973) mit Sean Connery als wirklich kaputtem Ermittler gibt: Fast immer scheint Sidney Lumet sein New York zu brauchen wie von 1977 bis 2004 Woody Allen.

New York – wo sonst?

Er lässt sich aber nicht auf Themen und nicht einmal besonders gut auf Stile festlegen: Da ist ein gewisser Schwerpunkt bei Theateradaptionen einerseits und Polizei-/Justizdramen andererseits, aber es bleibt noch genug übrig, was durch dieses Raster fällt. Obwohl Lumet für einen genauen Blick und kompromisslose Aufrichtigkeit, gelegentlich auch Härte, steht, sei zur Würdigung ein Film herausgegriffen, den man wohl als Nebenwerk bezeichnen muss. Zwar ebenfalls mit dem Big Apple verwachsen, aber tragikomisch, warmherzig, nostalgisch. Ich liebe ihn und möchte meine Liebeserklärung so genau wie möglich mit guten Gründen versehen.

Und nun spricht die Garbo …

„Die Göttliche“ heißt im Original „Garbo Talks“ nach einem berühmten Werbespruch für „Anna Christie“ (1930), den ersten Tonfilm mit der damals schon legendären Dame. Ob sie wohl 1984 wieder oder noch sprechen wird? Eine andere Frau hat einen Traum: Estelle Rolfe (Anne Bancroft), Mittfünfzigerin, geschieden, bis heute nonkonformistisch und aus Sicht mancher etwas spinnert, erfährt, dass sich ein inoperabler Tumor in ihr breitgemacht hat. Mit der Aussicht auf ein baldiges Ableben lautet ihr letzter Wunsch, ihrem ewigen Idol zu begegnen – eben Greta Garbo. Wie sie sich ihre Chuzpe (ja, wir befinden uns, ohne dass es riesige Bedeutung hätte, wieder einmal unter Juden) nicht nehmen lässt, zeigt sich, wenn sie ihrem erwachsenen Sohn Gilbert (Ron Silver) und damit auch diesem Text widerspricht. „Letzter Wunsch? Ich habe noch so viele Wünsche, ich habe nur nicht mehr genug Zeit.“ Vor ihrer Krankenhaus-Einlieferung hatte sie sich bereits (Gilbert: „Schon wieder?“) wegen eines Ladendiebstahls aus absolut nachvollziehbaren Gerechtigkeitserwägungen verhaften lassen und sich auf ihre ganz eigene Art gegen sexuelle Belästigung eingesetzt: Als Bauarbeiter von oben einer jungen Frau hinterherpfiffen und einer sagte, die könne sich mal auf sein Gesicht setzen, nahm Estelle sogleich den Aufzug, ging mitten in die Gruppe und erklärte, dass sie in Vertretung der Gemeinten käme. Auf wem dürfe sie nun Platz nehmen?

Das Resolute scheint dem Sohnemann zu fehlen, einem grundsympathischen, mit einer Frau namens Lisa (Carrie Fisher) kinderlos verheirateten Buchhalter, der durch gleich vier unangenehme Situationen in Folge eingeführt wird: Erst tunkt er versehentlich seine Krawatte in den Kaffee, um dann den Bus zu verpassen, sich ein Taxi wegschnappen zu lassen und sodann zu erfahren, dass sein Büro nicht mehr das seine ist, sondern er in ein veritables Rattenloch umziehen muss. Es geht in dieser Tragikomödie nicht nur um einen scheinbar verrückten Fan, für den der Nachwuchs Bäume ausreißt, um die noch in New York extrem zurückgezogen lebende Garbo heranzukarren. Es geht auch um die Frage, ob man aktiv oder passiv sein sollte, und das heißt bei Lumet: ob man sein Leben selbst in die Hand nimmt oder sich herumschubsen lässt. Oder bei Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es!“

Und es geht um Vergänglichkeit, Alter, Tod. Auch um die Vergänglichkeit des Goldenen Zeitalters Hollywoods. Das alles lässt sich so sehr lieben, weil Lumet es eben mit Liebe zeigt, Hand in Hand gehend mit einem wachen Geist. Gilbert steht auch ehelich an einem Scheideweg; er hatte zwar immer ein gutes Verhältnis zur Mutter, aber hätte sich wahrscheinlich noch zig Jahre dreiviertelunglücklich treiben lassen, wenn nun nicht endlich eine Aufgabe auf ihn wartete. In dieser muss und will er sich gleichzeitig emanzipieren und so werden wie Estelle. In einem Fantasyfilm würde man das „Quest“ nennen, eine Mission, die zugleich eine Reise zu sich selbst, zum Entdecken und Nutzen verborgener Stärken ist. Also geht Gilbert auf die Suche …

… vorausgesetzt, sie ist auffindbar

Des Sohnes Odyssee bringt ihn zum heruntergekommenen und mit den Methoden seines vormaligen Berufs hadernden Ex-Paparazzo Angelo (Howard Da Silva), zu einer kaum minder abgewrackten viertklassigen Künstleragentin (Dorothy Loudon), die schlecht Klavier spielt, zu viel Tohuwabohu und eindeutig zu viele Katzen in der Wohnung hat, zu einer Weggefährtin Garbos (Hermione Gingold), die nie ein Star war und sich nun (anscheinend alkoholbedingt) bei Theaterproben kaum eine Zeile merken kann. Doch gerade sie gibt ihm den entscheidenden Tipp. Die Garbo wird übrigens tatsächlich auftauchen, gespielt von Betty Comden (ungenannt), von hinten mit Hut und von vorn nur mit beschattetem Gesicht zu sehen.

Ist das etwa wirklich …?

Ob es bei dieser Unnahbarkeit bleibt, sei nicht offenbart – jedenfalls ist die Dezenz eine optische, aber es gibt Gründe für ein Kopfkino jenseits des direkt Gezeigten. Bei aller Zurückhaltung existiert gleichwohl Raum für komische Kalamitäten, bevor Greta Garbo auftritt. So wird Gilbert beispielsweise als Kurier von Gourmetessen für sich abschottende Reiche und Berühmte hochkant und schon cartoonesk aus einem Apartmenthaus herausgeworfen.

Eine Berufung statt eines Jobs

Gerade dies illustriert über den Lacher hinaus, wie Gilbert sich entwickelt. So riskiert er durch die Übernahme seines Zweitjobs sowie andere extensive Arbeitszeitverkürzungen zu Recherchewecken den Verlust seines Erstjobs und übrigens auch seines Ehestatus. Unser vormaliger Duckmäuser ist aber mehr und mehr bereit, sich dem zu stellen, ins offene Messer zu laufen und zu sehen, dass dieses Messer ihn nicht so sehr verletzen wie seine Aufgabe nicht nur seine Mutter, sondern auch ihn glücklich machen kann. Sein finaler Monolog gegenüber dem Chef Plotkin (Richard B. Shull), der seine ausbeuterische Rücksichtslosigkeit hinter vorgespielter Freundlichkeit und Betroffenheit zu verstecken trachtet, ist vom Feinsten: Gilbert heuchelt im ironischen Sinne Verständnis und der Kotzbrocken merkt es nicht – bis der Kündigende sozusagen einen Stilbruch begeht und seine Rede mit einem „f*** yourself“ beschließt. So genial geschrieben wie entlarvend. Die Ehe übrigens zerbricht. Mit der etwas eigenwilligen und sympathischen Sekretärin Jane (zudem eine weitere erfolglose Künstlerin, dargestellt von Catherine Hicks) deutet sich eine Zukunft zumindest an, und das Ende ist für Jane ausgesprochen überraschend und für alle auf wie hinter der Leinwand sehr schön.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Den besonderen Charme von „Die Göttliche“ macht aus, dass er nostalgisch zurückblickt, aber nun selbst schon alt ist. Obwohl mir insoweit meine Kollegen von „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ wohl widersprächen. Der Film handelt von einer Zeit, die es nicht mehr gab, und er zeigt eine Zeit, die es nicht mehr gibt. Die doppelte Nostalgie hat ihn nicht nur gut altern, sondern geradezu wie einen edlen Tropfen Weines zur vollen Blüte reifen lassen. Dies ist gar nicht naiv-verklärend gemeint. Es kommt durchaus zur Sprache, dass das Kino in der Zeit der Weltwirtschaftskrise das Vergnügen und die Traumflucht der Armen war, zu denen auch Estelle und ihre Geschwister und Eltern gehörten. Das Jahr 1984 wird ebenfalls nicht verklärt; Sexismus und der mit der Reagan-Ära salonfähig gewordene Raubtierkapitalismus kommen vor. Aber bei wem Lumets Sympathie liegt, ist klar; hier gibt es drei Abstufungen. Plotkin verachtet er. Zwei Personen, die für Sicherheit, Solidität und Konformität stehen, achtet er (Lisa und Gilberts Vater Walter, gespielt von Steven Hill – es hatte schon Gründe, dass das mit der Wirbelwindgattin nicht ewig gutging).

Noch teilen sie das Bett, aber nicht das Lächeln

Wen aber liebt er? Das lässt sich mit Reinhard Mey sagen:

Selig die Abgebrochenen
Die Verwirrten, die in sich Verkrochenen
Die Ausgegrenzten, die Gebückten
Die an die Wand Gedrückten
Selig sind die Verrückten!

Wer zählt dazu? Gilbert, der etwas scheinbar Verrücktes versucht, weil er an Lisas und Walters Lebensmodell, das für diese durchaus in Ordnung ist, kaputtginge. Die genannten abgewrackten Alten aus der Künstlerbranche. Ein leutseliger, etwas exzentrischer Schwuler (was hier erwähnt sei, da es auch in der Handlung auf gar nicht homophobe Weise eine Rolle spielt) namens Bernie (Harvey Fierstein), der Gilbert ebenfalls zu helfen versucht.

Ja, Hollywood ist ein Haifischbecken, Garbo gab den Menschen ihre Träume auf höchstem Niveau, andere jedoch wurden von den Haien oder dem Zahn der Zeit angenagt. Dies spiegelt sich in Lumets Besetzungen wider: Howard Da Silva war nie ein großer Filmstar, aber zu früheren Zeiten in Hollywood und im Theater gut beschäftigt, markant zum Beispiel als Bartender in Billy Wilders Alkoholikerdrama „Das verlorene Wochenende“ (1945). Hermione Gingold, bereits 1897 geboren, trat nur sporadisch in Filmen auf und hatte vor allem in Theaterrevuen mehr Erfolg, ohne ein Topstar zu sein. Im Fach der „komischen Alten“ konnte man sie schon 1958 im Musical „Gigi“ wie zuvor in der Bühnenversion sehen. 1984 war sie dann wirklich alt und hatte in „Die Göttliche“ eine kleine, aber feine Rolle, die ihre letzte werden sollte – ein würdiger Abschied.

New York 1984 – ebenfalls eine verlorene Zeit

So sehr es die Dreißiger – Garbos Hauptschaffensjahrzehnt – in dem Film nicht mehr gibt, so sehr gibt es dessen New York City des Jahres 1984 nicht mehr. Obwohl nie „alles schön oder zumindest besser war“, wie ein reichlich platter Spruch sagt: Ein bisschen sehnen wir uns schon zurück. Nach dem New York, in dem es noch Antiquitätengeschäfte gab (wobei Lumet einen Inhaber negativ konnotiert und Estelle ihm erst mal erklären muss, aus welchem Film das angepriesene Garbo-Foto stammt). Und Buchläden, in denen die Kamera liebevoll über Schwarten gleitet, die im Deutschen zu den begehrten „Citadel“-Filmbüchern wurden. Für Kinoliebhaber ist nur noch „Strand“ übrig; der legendäre Buch-, Zeitschriften- und Memorabilienhändler Jerry Ohlinger ist leider 2018 verstorben. Stattdessen haben wir Ebay, das stets mobil verfügbare Internet und jede Menge DVDs und Blu-rays. Estelle kennt dennoch oder gerade wegen des scheinbaren Mangels jeden Garbo-Film auswendig. Sie hat sogar ihren Sohn nach John Gilbert benannt, mit dem die Verehrte auf und jenseits der Leinwand ein publikumswirksames Liebespaar bildete. Aber Estelle versinkt nie in einer Parallelwelt, wie das heutzutage virtuellerweise passieren kann.

Achtung, ich lebe in der Realität, meine Herren!

Gilbert muss noch Telefone benutzen (diese nutzt man – wie modern – für Sprachnachrichten mit der Möglichkeit direkter Interaktion, liebe junge Leserinnen und Leser). Und an Türen klopfen. Und Leute treffen. Und sich mal die Tür vor der Nase zuknallen lassen. Aber gelegentlich öffnet sich eben auch eine Tür. Manchmal scheinen die Möglichkeiten größer, wenn die Masse des Verfügbaren geringer ist. Nicht zu vergessen: Hollywoods Goldenes Zeitalter bleibt, aber seine Zeugen leben eben nicht mehr in derselben Stadt wie Estelle und Rolfe, weil sie überhaupt nicht mehr leben. 1984 war das Vergangene vergangen, aber noch greifbar. Vom Versuch, diesen Traum wirklich zu ergreifen, erzählt „Die Göttliche“. 2024 ist das nicht mehr möglich. Umso schöner, aber auch wehmütiger, den Film gerade jetzt zu sehen.

Stil, den man nicht sieht – oder doch?

Lumet hat das glänzende Buch „Filme machen“ („Making Movies“) verfasst (deutsche wie amerikanische Erstausgabe 1996), eine wahre Fundgrube und großartige Kombination von Anekdotischem und Analytischem, für den Laien verständlich, für den Fachmann nicht platt. Natürlich exemplifiziert an seinem eigenen Werk, aber auch mit stets respektvollem Blick auf anders arbeitende Kollegen, kommt er unter anderem zu der Essenz, dass guter Stil ein Stil sei, den man nicht sehe. In Abgrenzung von Alfred Hitchcock, bei dem fast jeder Film sofort als ein „Hitch“ erkennbar ist. Lumets Stil ist zwar nicht unsichtbar, aber er dient immer der Sache, und die kann stärker variieren. Man kann nun Leute wie Lumet, Michael Curtiz oder Robert Wise als verlässliche Handwerker ohne Handschrift abtun oder umgekehrt einem wie dem Master of Suspense mangelnde Vielseitigkeit vorwerfen. Beides ist zu einseitig. Meine Achtung gehört beiden Typen, aber mein Herz den Erstgenannten. Sie sind nicht nur Handwerker, sondern – Teamwork hin oder her – „Autoren“ ihrer Filme, die eben nicht nur von ihnen inszeniert, sondern auch geprägt sind. Selbst der für Lumet ungewöhnlich warmherzige „Die Göttliche“. Oder vielleicht: gerade dieser, weil es auf den ersten Blick nicht so auffällt, auf den zweiten aber schon. Ihn zur Laudatio auszuwählen, ist nicht nur Marotte und Liebeserklärung. Und damit zu stilistischen Elementen.

Musik, Bewegung/Stillstand und Farben

Lumet hat sich mit zwei seinerzeit häufig eingesetzten Mitarbeitern umgeben, Komponist Cy Coleman und Kameramann Andrzej Bartkowiak. Ersterer, auch Jazzpianist, wählt leichte, aber nicht seichte Unterhaltungsmusik mit im Wesentlichen klassischen Orchesterinstrumenten in eher kleiner Besetzung. Haupt- und Titelmotiv ist ein Walzer, der zunächst Wohlfühlatmosphäre verströmt, im betonten Innehalten auf der zweiten Zählzeit aber auch etwas Verhaltenes und gleichzeitig Aufstrebendes vermittelt, von dem man nicht so genau weiß, wohin es führen wird. Passend zur Handlung um einen bevorstehenden Tod und dadurch einen neuen Aufbruch mit ungewissem Ausgang, aber auch passend zum schwelgenden Glamour der Garbo als Konstante.

Vergänglichkeit und Konstanz zeigt zudem der Cartoon-Vorspann von Michael Sporn. Wenn Estelle in Sekunden ein Baby bekommt, welches sofort wächst und, kaum geboren, schon ein Mann ist, der seinen eigenen Weg geht und den die Hand der Mutter nicht mehr halten kann, möchte man ob dieser oft tatsächlich so empfundenen Geschwindigkeit weinen. Aber so schnell das alles geht, so sehr kann sich Estelle an einem immer festhalten: an den Posen der Garbo, die sie durchgängig – als Kind wie als gealterte Frau – immer wieder imitiert und wo die gezeichnete Version dieses Lebens dem Überschnellen den Kontrast des eingefrorenen Bildes entgegensetzt.

Andrzej Bartkowiak schafft interessante und vielsagende Kadrierungen, wobei Farbgebung, Fokus und Lichtsetzung deutlich weicher sind als bei Lumets oft tiefenscharfen Weitwinkelbildern, denen kein Detail entgeht. Als Estelle noch fit und ein wenig aufrührerisch ist, trägt sie rot.

Die rote Aktivistin will den Sohn aktivieren

Ansonsten ist mit Ausnahme unter anderem eines schreiend orangefarbenen Krankenhausflures (wer ist dort schon gern?) vieles in warm-dezenten Pastellfarben gehalten. Dies trifft auf den heute etwas gewöhnungsbedürftigen hellrosa Pullunder Gilberts zu, aber auch auf dezent-hellbraune Wände. Solches, gemischt mit zartem Sonnengelb, dominiert auch das Außen mit seinem Licht und den New Yorker Ziegelbauten und Bäumen des Central Park. Natürlich sieht ein Film immer ein bisschen nach seiner Entstehungszeit aus, aber insgesamt sind Farbpalette und gegenlichtwarme Ausleuchtung für Lumet und für Hollywood 1984 schon ungewöhnlich. Zudem prägt das den Film stark. Man darf vermuten, dass der Look kein Zufall ist, nicht zuletzt, weil er auch bei den „seligen Verrückten“ eingesetzt wird. Da ist nichts schrill, da sind Liebe und Empathie. Zwei Jahre später übrigens hat Lumet (wie er in „Filme machen“ verrät, sehr bewusst) in seiner kalifornischen Abirrung „Der Morgen danach“ (1986) mit kreischendem Neonbunt nur so um sich geworfen, um die Grelle von Los Angeles und des damaligen Lebensgefühls (es geht sogleich mit dem Fitnesskult los) herauszustellen. Muss man nicht mögen, aber konsequent im einen wie im anderen Fall.

Bedrückend wie berührend: Kamera und Bauten

Verklärend ist das alles wiederum nicht, insoweit ist die Architektur von hoher Bedeutung. Das Horror-Büro Gilberts ist nicht ganz so extrem unerträglich wie dasjenige Sam Lowrys (Jonathan Pryce) in Terry Gilliams „Brazil“ (1985), kommt dem aber nah und ist wegen des nur dort vorliegenden Realismus vielleicht noch schlimmer. Zudem sei auf alle Szenen im Eheheim der Rolfes geachtet. Hier verdeutlichen bereits eine überdimensionale Durchreiche und die Kameraposition, dass mit der Ehe etwas im Argen liegt. Die Durchreiche ist ein Rahmen im Rahmen, die Küche und den Essbereich eher abtrennend als verbindend. Man kann sich durch sie unterhalten, aber nicht zusammenkommen. Oft rückt beides in die linke Bildhälfte und trennt den Rest der Wohnung zusätzlich ab. Überflüssig zu sagen, dass die Kommunikation ebenfalls über diese Grenze stattfindet. Da ist nur akustisches Verständnis garantiert.

Wo es passt, ist die Bildregie aber auch weniger unbarmherzig, unter Beibehaltung des Genauen. Dass in einem tragikomischen, zärtlichen Film allzu auffällige oder gar hektische Bewegungen und Schnitte fehlen, versteht sich von selbst. Stattdessen nutzt die Kamera in einer sehr intimen Schlüsselszene den extrem langsamen Zoom ohne Schuss-Gegenschuss-Wechsel, obwohl doch eine Person zu einer anderen spricht. Sie öffnet sich ganz. Ohne es zu merken, kommen wir ihr und kommt ihr Gegenüber ihr behutsam immer näher. Dieses Gegenüber müssen wir gar nicht sehen. Konzentration auf das Wesentliche und Vervollständigen per Fantasie; Lumet unterschätzt nicht sein Publikum. Dito im Finale. Personen entfernen sich und die Kamera folgt ihnen nicht. Wir können ihre Geschichte im Kopf weiterspinnen. Eine Person bleibt im Bild, wird aber – sicherlich auch symbolisch – unscharf, ein Schemen, von dem kaum zu glauben ist, dass er eben noch da war. The End. Ob Greta Garbo den Film jemals gesehen hat, lässt sich nicht zweifelsfrei klären.

Von Garbo zurück zu Lumet

Lumet hatte 1984 bereits eine große Erfolgsgeschichte hinter sich. Bereits für „Die 12 Geschworenen“ (1957) war er als Regisseur oscarnominiert, ebenso für das Geiseldrama „Hundstage“ (1975), die bitterböse, gnadenlose Mediensatire „Network“ (1976) und das Justizdrama „The Verdict – Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ (1982). Gewonnen hatte er die Trophäe nie, auch nicht im Zuge seiner Nominierung für „Prince of the City – Die Herren der Stadt“ (1981) in der Kategorie adaptiertes Drehbuch. Nachdem alles nach „The Verdict“ im Schnitt als mindestens ein bisschen schwächer gesehen wurde und Lumet phasenweise für längere Zeit nichts herausbrachte, bekam die Academy anscheinend ein schlechtes Gewissen: 2005 verlieh sie Lumet den Ehrenoscar, aber zum einen sind die meisten Filme der Zwischenzeit meines Erachtens zu Unrecht nicht in den Olymp aufgenommen, zum anderen meldete der Mann sich danach fulminant zurück. „Find Me Guilty – Der Mafiaprozess“ (2006) wurde ein guter, „Tödliche Entscheidung“ ein Jahr später ein großartiger Film. Bei Regisseuren, die bis ins hohe Alter arbeiten, ist ein solcher Letztling ausgesprochen selten. „Alterswerk“ wäre eine Beleidigung, selbst im wohlwollenden Sinne des Wortes! Lumet ist erzählerisch und technisch in der allerneuesten Zeit, ohne sich anzubiedern – stattdessen immer noch der Mann mit dem unbestechlichen, genauen Blick. Es sei dringend empfohlen, „Tödliche Entscheidung“ und „Die 12 Geschworenen“ im Doppelpack zu sehen. Naturgemäß bei fünfzig Jahren Abstand auf den ersten Blick ein immenser Unterschied. Aber beide 100 Prozent Lumet in einer stilistisch und erzählerisch kongenialen Kombination aus Seziermesserschärfe und Empathie. Das ging und geht in jeder Zeit. Wenn der Regisseur in „Die Göttliche“ das Seziermesser zwar nicht ablegt, aber die Wundversorgung gleich mit ganz viel Herz mitliefert, ist das ebenfalls ausgesprochen sehenswert und etwas ganz Besonderes.

Jane und Gilbert kommen sich näher

Ob Lumet noch einen weiteren Film geplant hatte, ist mir nicht bekannt. Er starb am 9. April 2011 im Alter von 86 Jahren in Manhattan an Lymphdrüsenkrebs, also einige Jahre nach Veröffentlichung von „Tödliche Entscheidung“. Zurück blieben seine vierte Ehefrau, die Journalistin Mary Gimbel, und drei Kinder. Laut der IMDb sind es zwar vier, aber Bailey Gimbel war ein Stiefsohn und heiratete bereits 1981, ein Jahr nach der Eheschließung von Lumet und Baileys Mutter – nachzulesen in einem zeitgenössischen Bericht der New York Times. Im Übrigen lässt sich in Erfahrung bringen, dass Tochter Jenny (*1967) dem Vater ins Filmgeschäft folgte und Drehbuchautorin wurde. Unter den vormaligen Gattinnen findet sich sogar eine Angehörige der Vanderbilt-Dynastie, Gloria Vanderbilt (mit Lumet von 1956 bis 1963 verheiratet).

Der filmische Aktivismus und die Aktivistin

Nicht zuletzt ein politisch kritischer Geist blieb Lumet bis ins hohe Alter; in diesem Zusammenhang sei der oft übersehene Fernsehfilm „Das Verhör“ (2004) wärmstens als Herz gelegt. In diesem kritisiert der Regisseur mit Parallelmontage die US-Folterungen im Zuge von George W. Bushs „Krieg gegen den Terror“. Ein Muslim bekommt die im Alter gern mit Fieslingsrollen besetzte Glenn Close an den Hals, während eine Amerikanerin (Maggie Gyllenhaal) im Nahen Osten „verhört“ wird. Die Dialoge gleichen sich und wechseln fließend bei scheinbarer Kontinuität, so wie schon in Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), wo sich Gangster und Polizisten gleichen. Nun eben die Ermittler der „Schurken“staaten und der USA.

Wo Protest dringend nötig war, setzte Lumet filmische Zeichen. Wo er, wie in „Die Göttliche“, scheinbar nicht ganz so wichtig war (aber man sehe die genannte Sexismus-Szene nur einmal mit moderner #metoo-Brille), machte er Estelle zur auch deswegen grundsympathischen kleinen Rebellin, und dieses Kleine ist so groß wie das vermeintlich Kleine des Films.

„Ihre Mutter ist in U-Haft.“ – „Schon wieder?“

Nur schade, dass sich dies nicht in angemessenen Veröffentlichungen niederschlägt. In den USA und im Vereinigten Königreich ist „Die Göttliche“ immerhin mal auf DVD erschienen, mit solider Bild- und Tonqualität, wenn auch ausstattungsarm. Eine deutsche Veröffentlichung auf Scheibe ist überfällig.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Sidney Lumet haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Anne Bancroft und Carrie Fisher unter Schauspielerinnen.

Veröffentlichung (GB): 23. Februar 2015 als DVD
Veröffentlichung (USA): 15. Januar 2011 als DVD

Länge: 100 Min.
Altersfreigabe: FSK unbekannt
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Garbo Talks
USA 1984
Regie: Sidney Lumet
Drehbuch: Larry Grusin
Besetzung: Anne Bancroft, Ron Silver, Carrie Fisher, Catherine Hicks, Stehen Hill, Howard Da Silva, Dorothy Loudon, Harvey Fierstein, Hermione Gingold, Richard B. Shull, Michael Lombard, Ed Crowley, Alice Spivak, Maurice Sterman, Antonia Rey, Betty Comden, Mary McDonnell
Zusatzmaterial: keins
Label/Vertrieb: Simply Media & Ilc (GB), MGM (USA)

Copyright 2024 by Tonio Klein

Plakat & Szenenfotos: © MGM

 

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Zum 75. Geburtstag von John Belushi: Blues Brothers – Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs

Blues Brothers

Von Lars Johansen

Musik-Actionkomödie // Es gibt Filme, die entziehen sich einer Einordnung, weil sie Kultfilme werden. Und dann kann man über sie nicht mehr ernsthaft diskutieren. Das ist einerseits schade, zeigt aber auf der anderen Seite, dass es jenseits aller Kalkulation etwas gibt, was sich bei der Planung von Filmen nicht berechnen lässt. Das Problem ist heute, dass es trotzdem versucht wird und sich das Wort Kultfilm natürlich abgenutzt hat.

Nach dem Sonnenaufgang …

Aber es gab eine Zeit in den 80er- und 90er-Jahren, da zeigte jedes Programmkino in Deutschland „Blues Brothers“ (1980) mindestens einmal im Jahr. Wenn es mau lief, dann wusste man, damit bekommt man das Kino immer wieder voll. Gern wurden Partys dazu geplant mit mehr oder meist weniger ähnlichen Doubles von Jake und Elwood Blues. Bands bildeten sich in so ziemlich jeder deutschen Großstadt, die die Blues Brothers imitierten. Und es funktionierte sogar. Das ist heute ein wenig anders und vielleicht ist es daher doch wieder möglich, einen unvoreingenommenen Blick auf das Werk zu werfen.

… beginnt die Fahrt und …

Meine erste Begegnung mit den Brüdern war 1987 in einem Gießener Kino. Um mich herum lauter Menschen, die den Film auswendig kannten, ihn mitsprachen und -sangen. Dazwischen ich, ein Neuling, der irgendwann um Ruhe bei seinem unmittelbaren Freundeskreis bat. Totenstille um mich herum und die ungläubige Frage, ob ich ihn denn nicht kennen würde. Und dann sahen sie mich gespannt an, achteten auf jede kleine Reaktion, wiesen vorsichtig auf kommende Pointen hin und freuten sich, wenn ich auch mal lachte. Ich lachte an diesem Tag nicht besonders viel, sondern war eher befremdet.

… in göttlichem Auftrag …

Es brauchte ein paar Videoabende mit den „Blues Brothers“, um diesen Zustand zu verändern. Dann sah ich den Film vor ein paar Jahren noch einmal im Rahmen der „Cinestrange“ in Braunschweig im Kino, in einer remasterten und mit neu synchronisierten Szenen angereicherten Version. John Landis selber gehörte zu den Zuschauern, ebenso wie Thomas Danneberg, der Elwood, sowie Rainer Basedow, der Jake gesprochen hatte. Die nachfolgende Blues-Brothers-Party mit den beiden unähnlichsten Doubles des Planeten begann mit „Atemlos durch die Nacht“ und viel mehr ist dazu nicht zu sagen.

… mit aller Gewalt …

Aber all das vermochte der Essenz nichts anzuhaben, die allem innewohnt, was wirklich originär ist. Regisseur John Landis hat nichts Gleichwertiges mehr geschaffen und wenn man aktuelle Filme von ihm sieht, dann scheint er nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein. Er hatte in den Jahren zuvor wie zur Vorbereitung „Kentucky Fried Movie“ (1977) und „Ich glaub’, mich tritt ein Pferd“ („ National Lampoon’s Animal House“, 1978) gedreht. In letzterem spielte bereits John Belushi als „Bluto“ mit. 1981 folgte „American Werewolf“ („An American Werewolf in London“) und natürlich das berühmte Video zu Michael Jacksons Song „Thriller“ (1983).

… aber erst nach der Erleuchtung …

Bei den Dreharbeiten zu „Unheimliche Schattenlichter“ („Twilight Zone – The Movie“, 1983) kam es zu einem folgenschweren Unfall, der zwei Kinder und den Schauspieler Vic Morrow das Leben kostete. Landis’ Karriere war danach zwar nicht sofort atomisiert, aber es dauerte nicht mehr lange. „Die Glücksritter“ („Trading Places“, 1983) und vielleicht noch „Kopfüber in die Nacht“ („Into the Night“, 1985) gelangen ihm noch. Der Rest bestand aus ein paar Auftragsarbeiten und spätestens seit den 90ern ist seine Karriere als Regisseur komplett versandet. Das ist traurig zu sehen, aber nicht unbedingt ungewöhnlich, denn Hollywood verzeiht es nicht, wenn ein Regisseur Todesfälle vielleicht nicht verursacht, aber nicht angemessen mit ihnen umgeht. Das hat Landis nicht getan. Aber wer kann das schon? Mit „Blues Brothers“ gelang ihm dafür ein Metafilm, der die Blaupause zu vielen ähnlich gelagerten Komödien sein sollte, die versuchten, Musik und Komik miteinander zu verbinden. Daran war bekanntermaßen schon der deutsche Schlagerfilm der 50er- und 60er-Jahre gescheitert.

… geht es richtig los …

Denn da gab es eben auch noch John Belushi, der den Unterschied ausmachte. Am 24. Januar 1949 in Chicago geboren, wuchs er als Kind albanischer Einwanderer auf und entpuppte sich schon früh als Multitalent. Er stand bereits in seiner Collegezeit auf der Bühne, aber er sang auch und komponierte. Seinen Durchbruch erlebte er in einem neuen Fernsehformat: „Saturday Night Live“, das 1975 aus der Taufe gehoben wurde, das Prinzip des Comedyclubs auf den Bildschirm brachte und zum Vorbild von „RTL Samstag Nacht“ wurde, das in den 1990er-Jahren in Deutschland erfolgreich war. Junge, unbekannte männliche und weibliche Comedians wurden bei „Saturday Night Live“ zu Stars. Das Format hatte seine Wurzeln im studentischen Humor der späten 60er-Jahre, der in Europa zum Beispiel Monty Python hervorbrachte und in den USA unter anderem die Zeitschrift „National Lampoon“, die ab 1969 erschien und Mitte der 70er-Jahre ihre größten Erfolge erlebte. Zwischen 1973 und 1974 gab es die Radioshow „The National Lampoon Radio Hour“, bei der man neben Bill Murray und Chevy Chase auch Belushi finden konnte. Alle drei waren dann ebenfalls bei „Saturday Night Live“ dabei.

… nachdem sie gegessen …

Mit „Ich glaub’, mich tritt ein Pferd“ wurde „National Lampoon“ auch ein Kinoerfolg. Und dieser war nicht zuletzt Belushi zu verdanken, der hier zum Star wurde. Sein so stoischer wie versoffener und einfallsreicher „Bluto“ ist in den USA eine viel zitierte Ikone der Popkultur. In Deutschland war der Film kein so großer Erfolg, weil er auf Erfahrungen aufbaut, die Studenten hierzulande nicht zu teilen vermochten. Für Belushi aber stellte er den Durchbruch dar. Schon 1979 jedoch drohte seine Karriere zu versanden, denn er spielte eine größere Rolle in Steven Spielbergs erstem Flop bei der Kritik: „1941 – Wo bitte geht’s nach Hollywood“ („1941“). Wenn man diese durchgeknallte Komödie heute wieder sieht, dann spürt man schon den Witz und die Anarchie von „Blues Brothers“, in dem auch Spielberg auftauchen sollte, der den Finanzbeamten am Schluss des Films spielt. Vielleicht beschreibt das Belushi am besten, er war ein Anarchist, einer, der sich wenig um Regeln scherte und zum Beispiel beim Dreh für „Blues Brothers“ mitten in der Nacht einfach vom Set verschwand und dann im Haus eines Anwohners gefunden wurde, wo er wie selbstverständlich gegessen und sich danach mit dem Einverständnis des Besitzers schlafen gelegt hatte. Niemand konnte ihm böse sein, denn er er besaß genug Charme, um die Menschen um ihn herum positiv zu beeindrucken.

… und einen Koch besorgt haben …

Zwei Filme waren ihm 1981 noch vergönnt, die beide solide geworden sind, ohne wirkliche Meisterschaft zu entfalten. „Zwei wie Katz und Maus“ („Continental Divide“) ist eine nette romantische Komödie um ein ungleiches Liebespaar, die an den Kinokassen nicht viel erreichte. „Die verrückten Nachbarn“ („Neighbours“) sollte Belushis letzter Film werden. Er führte ihn noch einmal mit Dan Aykroyd zusammen und sein Spießbürger Earl, der sich in einen typischen Belushi-Anarchisten zu verwandeln beginnt, macht ausgesprochen Spaß. Am 5. März 1982 starb er in West Hollywood an einer Überdosis Drogen, einer Mischung aus Kokain und Heroin, die ihm von einer Freundin gespritzt worden war. Er hatte schon während der Dreharbeiten zu den „Blues Brothers“ in seiner Heimatstadt Chicago zu viel getrunken und zu viel Kokain geschnupft. Das ging so weit, dass Landis Carrie Fisher gebeten hatte, auf ihn aufzupassen. Nun war er wirklich zu weit gegangen. „I may be gone, but Rock and Roll lives on“ steht auf seinem Grabstein. John Belushi wurde nur 33 Jahre alt. Am 24. Januar 2024 wäre er 75 Jahre alt geworden.

… um mit den Instrumenten von Ray …

Belushi und Aykroyd waren eines dieser Komikerpaare, die über ihre Gegensätzlichkeit funktionierten. Und sie waren ein Paar, fuhren oft zusammen im Auto über das Land und vieles von den gemeinsamen Gesprächen floss in Aykroyds erstes Drehbuch ein, welches 300 Seiten dick war und die Grundlage für „Blues Brothers“ bilden sollte. Er ließ es so einbinden, dass es wie die „Gelben Seiten“ der Stadt Chicago aussah. Auch das war sein Humor. Wie Laurel und Hardy oder Pat und Patachon in der Stummfilmzeit spielten er und Belushi miteinander. In der Szene im Restaurant, wo sie Essen bestellen, damit herumsauen und die Gäste belästigen, erinnern sie natürlich auch an Terence Hill und Bud Spencer, sie spielen fast genau so. In der deutschen Fassung weist die Stimme von Thomas Danneberg, der Hill und Aykroyd sprach, noch deutlicher darauf hin. Die wenigen Filme mit beiden zusammen sind allesamt sehr ansehbar. Und ihre Auftritte als „Blues Brothers“ bei „Saturday Night Live“ vermögen bis heute zu beeindrucken. Hier war ein Traumpaar unterwegs, das viel zu früh getrennt wurde.

… Tänzerinnen und Tänzern …

Aykroyds Drehbuch wurde von Landis überarbeitet, und obwohl niemand so recht an einen Erfolg glauben mochte, bekam „Blues Brothers“ grünes Licht für eine Produktion. Zwar wollte ihn eine der größten Kinoketten des Landes nicht zeigen, weil der Besitzer sich nicht vorstellen konnte, dass sein überwiegend weißes Publikum für ältere schwarze Stars ins Kino gehen würde, aber trotzdem wurde gedreht. Der Etat, der mit 17 Millionen Dollar einigermaßen moderat geplant worden war, würde am Ende auf fast 28 Millionen steigen und den Film inflationsbereinigt zu einer der teuersten Komödien aller Zeiten machen. All das schien einem Erfolg entgegen zu stehen, aber es sollte anders kommen.

… und nach einer Probe bei Ray …

Jake (Belushi) wird aus dem Gefängnis entlassen und wird von seinem Bruder Elwood (Aykroyd) abgeholt. Nach einem Besuch in dem alten, von der resoluten Sister Mary Stigmata (Kathleen Freeman) geleiteten christlichen Heim, in welchem die beiden Waisen aufgewachsen sind, erfahren sie von Curtis (Cab Calloway), dass 5.000 Dollar Steuerschuld getilgt werden müssen, damit es nicht schließt. Sie beschließen, ihre alte Band wieder zusammenzuführen und das Geld mit Auftritten zu verdienen. Daran versuchen sie Nazis, Polizisten und Jakes namenlose Verlobte (Carrie Fisher), die er vor dem Traualtar verlassen hatte, zu hindern. Das ist die ganze Geschichte, die damit noch nicht beschreibt, was passiert. Denn vieles geschieht zwischen den Bildern oder mit prominenten Musikern in Kurzauftritten.

… einen Auftritt absolvieren …

Die Verfolgungsjagden durch das Einkaufszentrum relativ am Anfang und auch am Ende auf dem Weg zum Finanzamt halten den Film zusammen und sind trotz des enormen Materialaufwandes fast beiläufig inszeniert. Dazu kommt Musik, die Elemente des Rhythm and Blues aufnimmt und eben nicht nur reine Bluesmusik darstellt. In Nebenrollen sind sehr viele schwarze Musikstars zu sehen, die oft Gelegenheiten bekommen, einen ganzen Song vorzutragen. Ray Charles („Shake a Tail Feather“), Aretha Franklin („Think“), John Lee Hooker („Boom Boom“), James Brown („The Old Landmark“) und Cab Calloway („Minnie the Moocher“) mögen hier beispielgebend für viele andere stehen. Hinzu kommen die Songs, die die Blues Brothers Band nach ihrer Wiedervereinigung zum Besten gibt, etwa „Theme from Rawhide“ und „Everybody Needs Somebody to Love“. Ein Soundtrack für die Ewigkeit.

… mit Widrigkeiten kämpfen …

Es gibt eine 133 Minuten lange Fassung des Films und einen Director’s Cut, der 142 Minuten umfasst. Auch eine 148 Minuten lange Fassung ist unterwegs. Alle drei Fassungen sind auf dem Papier zu lang, aber für die Zuschauer abwechslungsreich genug, um über die gesamte Dauer zu unterhalten. Es ist ein Meisterwerk geworden, welches nur in dieser Konstellation und Zeit so entstehen konnte. Es zeigt alle Beteiligten auf dem Höhepunkt und ist Vorbild für vieles geworden, welches diese Qualitäten nicht erreichen konnte. Selbst heute vermag das Werk aufgrund des Ideenreichtums und der inspirierenden Fülle immer noch zu überzeugen. Diese anarchische Orgie der Dekonstruktion hat einen festen Platz in der Filmgeschichte. Und das gilt auch für ihre Akteure. Nur der Vatikan irrt, denn der Film ist nicht, wie „L’Osservatore Romano“ 2010 schrieb, „ein katholischer Klassiker“. Und sollte er sich nicht irren, dann möchte ich gern katholisch sein.

… auf noch mehr Widrigkeiten treffen …

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von John Landis haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Carrie Fisher unter Schauspielerinnen.

… und es bis zum großen Gig schaffen

Veröffentlichung: 22. September 2022 als Extended Version UHD Blu-ray, Extended Version Blu-ray und Extended Version DVD, 5. September 2019 als Limited 2-Disc VHS Edition (2 Blu-rays, Extended Version & Kinofassung), 15. November 2018 als 2-Disc Edition Mediabook (2 Blu-rays, Extended Version & Kinofassung), 1. Dezember 2016 als 3-Disc Edition Mediabook (2 Blu-rays, Extended Version & Kinofassung, Bonus-DVD „The Best of the Blues Brothers), 8. September 2016 als Extended Deluxe Edition Digipack im Schuber (Extended Version & Kinofassung, dazu „Blues Brothers 2000“ & „Best of the Blues Brothers“), 15. November 2012 als Jahr100Film Blu-ray, 26. Juli 2012 als Golden Disc Edition Blu-ray, 31. Januar 2012 als 100th Anniversary Edition Blu-ray im Steelbook, 25. August 2011 als Blu-ray, 21. Mai 2009 als Limited Metalfanbox Doppel DVD (mit „Blues Brothers 2000“), 8. November 2007 als „Bulletproof Collection“ Doppel-DVD (mit „Blues Brothers 2000“), 4. Oktober 2007, 14. August 2004 und 5. April 2001 als DVD

Länge: 148 Min. (Blu-ray, Langfassung), 133 Min. (Blu-ray, Kinofassung), 142 Min. (DVD, Langfassung)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: The Blues Brothers
USA 1980
Regie: John Landis
Drehbuch: Dan Aykroyd, John Landis
Besetzung: John Belushi, Dan Aykroyd, Kathleen Freeman, Donald Dunn, Steve Cropper, Matt Murphy, Donald Dunn, Lou Marini, Tom Malone, Alan Rubin, Carrie Fisher, Willie Hall, Willie „Big Eyes“ Smith, Luther „Guitar Jr.“ Johnson, Calvin „Fuzz“ Jones, Ray Charles, James Brown, Aretha Franklin, John Lee Hooker, Cab Calloway, Chaka Khan, John Candy, John Landis, Stephen Bishop, Armand Cerami, Steven Williams, Frank Oz, Twiggy, Steven Spielberg, Joe Walsh
Zusatzmaterial (variiert je nach Veröffentlichung): Grußwort von John Landis, „The Stories Behind – The Making of The Blues Brothers“ (56 Min.), Das Transponieren der Musik (15 Min.), Erinnerungen an John (10 Min.), US-Kinotrailer, deutscher Kinotrailer, Produktionsnotizen (10 Textseiten), Filmografien Stab & Besetzung (65 Textseiten), nur Extended Deluxe Edition: Bluesmobil-Blechnummernschild, Mugshot-Karte mit individueller Limitierungsnummer, 48-seitiges farbiges Booklet zur Geschichte des Films, 7 Postkarten, Wendeposter, zwei Aufkleber (106 Meilen bis Chicago, Im Auftrag des Herrn), zwei Visitenkarten (Murph and the Magictones, Burton Mercer), Elwoods Führerschein, nur Mediabook: 40-seitiges Booklet
Label/Vertrieb: Columbia TriStar, Universal Pictures Germany GmbH, Turbine Medien (Extended Deluxe Edition & Mediabooks)

Copyright 2024 by Lars Johansen

Szenenfotos & Packshots: © Universal Pictures Germany GmbH

 
 

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Harry und Sally – Mehr Liebeskomödie geht nicht

When Harry Met Sally

Von Christoph Leo

Liebeskomödie // Nach dem College-Abschluss lernen Harry (Billy Crystal) und Sally (Meg Ryan) einander bei einer Fahrgemeinschaft von Chicago nach New York kennen. Harry ist pragmatisch und pessimistisch veranlagt und scheint auf jedes Problem eine vorgefertigte Antwort parat zu haben, sieht das Leben aber gelassen. Sally ist strukturiert und glaubt an das Gute im Menschen, in manchen Dingen ist sie sehr kompliziert. Beide treffen im Laufe der Jahre immer wieder aufeinander und es entwickelt sich entgegen Harrys Aussage eine Freundschaft. Trotzdem stellt sich die Frage: Können die beiden Freunde sein oder stehen dem am Ende Gefühle im Weg?

Harry und Sally reden viel

Es gibt sie also noch (oder gab es sie?), die rundum gelungenen Romantikkomödien. Das letzte Mal hatte ich „Harry und Sally“ (1989) vor knapp 20 Jahren bei einer Fernsehausstrahlung gesehen – damals fand ich Rob Reiners Regiearbeit eher durchschnittlich. Ich war jung, fand die Dialoge langweilig und das gesamte Thema hat mich wenig interessiert. Das hat sich mit der schönen Veröffentlichung von capelight pictures im UHD-Mediabook geändert und ich habe das Werk nun neu kennengelernt.

Sie reden über alles

Die Geschichte über zwei gegensätzliche Menschen, die einander kennenlernen, scheinbar nicht wirklich mögen, dann Freunde und schließlich ein Paar werden, klingt dabei wenig innovativ. Wie der Film dies erzählt, erweist sich dann aber als das genaue Gegenteil. Rob Reiner zeigt diverse Aufeinandertreffen von Harry und Sally über mehrere Jahre, die beschreiben, wie sich die Beziehung und Freundschaft der beiden entwickelt. Dabei wird die Haupthandlung stets von einem wechselnden Paar unterbrochen, das die Geschichte seines Kennenlernens erzählt. Diese Geschichten sind allesamt völlig unterschiedlich, mal sehr liebenswürdig, mal sehr lustig oder nachdenklich stimmend, und immer interessant. „Harry und Sally“ wirkt durch seine Erzählung über mehrere Jahre hinweg episodenhaft, was dem Ganzen aber eine größere Tragweite gibt; wir verstehen auf diese Weise die Entwicklung der Beziehung von Harry und Sally sehr gut. Bei ihrer ersten Begegnung vertritt Harry die Ansicht, dass Männer und Frauen nie befreundet sein könnten, da am Ende immer der Sex zwischen beiden stehen wird. Sally lehnt diese Ansicht ab. Es kommt zu etlichen Gesprächen über die Themen Beziehung, Ehe und Freundschaft, wobei diese niemals aufgesetzt oder belanglos wirken. Die Dialoge helfen dem Publikum, die Figuren tatsächlich besser zu verstehen und ein Bild über Harrys und Sallys Charakter zu bekommen.

Mit „Star Wars“-Star Carrie Fisher

„Harry & Sally“ ist dabei nie durchgängig super lustig, was ich sehr angenehm im Vergleich zu aktuellen, ähnlich gelagerten Komödien finde (wobei ich bei einigen Szenen schon sehr lachen musste). Hier steht die Geschichte mehr im Vordergrund und keine vulgären Witze oder nervige Nebencharaktere, was ein weiterer Pluspunkt des Films ist. Die wichtigen Nebenfiguren sind die jeweils besten Freunde von Harry und Sally. Beide werden glaubhaft durch Bruno Kirby („Donnie Brasco“) als Harrys bester Freund Jess und Carrie „Leia Organa“ Fischer als Sallys beste Freundin Marie dargestellt, sorgen aber auch immer wieder für lustige Momente. Jede Figur wirkt glaubhaft, wenn sie aus ihrem Leben erzählt oder mit einer anderen Person interagiert. Die Nebendarsteller und -darstellerinnen sind gut besetzt und schaffen, es die Charaktere zu mehr als nur Stichwortgebern für Harry und Sally werden zu lassen.

Sally (r.) und Marie werden beobachtet

Zu kritisieren gibt es an „Harry und Sally“ meiner Meinung nach eigentlich nichts. Ich könnte nun anbringen, dass es in dem Film nur um privilegierte weiße Hetero-Menschen geht und das ist aus heutiger Sicht auch ein berechtigter Kritikpunkt, aber es war damals eine andere Zeit und hier kann auch so argumentiert werden, dass der Film genau diese Welt und diese Personen zeigen will. Die Komödie ist in puncto Inszenierung, Erzählung und Besetzung so vorzüglich, dass eine Kritik diesbezüglich aufgesetzt und falsch wirken würde, weil „Harry und Sally“ einfach aus der beschriebenen Welt erzählt und nicht politisch oder gesellschaftskritisch wird. Es ist weiterhin fraglich, ob ein Mann und eine Frau fast überwiegend nur über Beziehungen reden würden, aber auch hier zieht das Argument, dass der Film dem Publikum stets nur diesen Zeitpunkt des Aufeinandertreffens zeigt und es hierbei nun mal um das Thema Beziehungen geht – genau das ist das übergeordnete Thema.

Die Orgasmus-Szene

Jenny Jecke, Autorin des sehr lesenswerten Booklets des Mediabooks, beschreibt die Figuren ebenfalls als reich, weiß und privilegiert. Nie sehen wir Armut oder andere soziale Probleme. Beide Figuren leben ein wohlhabendes Leben und sind in diesem auch gleichgestellt, was den beruflichen Erfolg angeht. Hier ist der Film in seiner Darstellung von gleichwertigen Geschlechterrollen seiner Zeit wiederum voraus. „Harry und Sally“ bearbeitet sein Thema Beziehung auf eine clevere Art und Weise, da die beiden Hauptfiguren lange Zeit wirklich nur Freunde sind und wir die beiden bei diversen Aktivitäten beobachten, wie einen Weihnachtsbaum kaufen, miteinander telefonieren, Essen gehen, Filme schauen. Der Film zeigt diese Interaktionen mal als Montage, nur mit Musik unterlegt, mal per Splitscreen oder ganz herkömmlich beim normalen Dialog. Die berühmt gewordene Orgasmus-Szene im Restaurant von Sally gegenüber am Tisch von Harry wirkt dabei fast wie ein Werbevideoeinschub, ist aber auch gerade im Gegenschnitt auf Harry und andere Restaurantgäste überaus amüsant.

Der Beobachter ist Harry, der Sally nach Jahren wiedererkennt

Regisseur Rob Reiner, der besonders durch seine hervorragenden Stephen King Verfilmungen „Stand by Me“ (1986) und „Misery“ (1990) auffiel, inszenierte „Harry und Sally“ im ähnlichen Stil wie diese beiden Filme. Das heißt, dass der Film schön inszeniert ist und nicht durch optische Spielereien wie beispielsweise auffällige Kamerafahrten von der Geschichte ablenkt. Die Bilder werden angenehm ruhig eingefangen und nicht durch ständige Schnitte unterbrochen. Die bereits mehrfach erwähnte episodenhafte Erzählweise lässt sich den Film von ähnlich gelagerten Filmen abheben und zu etwas besonderem werden. Durch die Verwendung mehrerer Splitscreens bekommt der Film doch noch einen inszenatorisch interessanten Aspekt, mit dem der Film auch eine der besten Filmszenen zeigt, in der Harry seinen Freund Jess anruft, um mit diesem über Sally zu sprechen und Sally ihre Freundin Marie anruft um über Harry zu sprechen. Dabei befinden sich unwissend von Harry und Sally die beiden Freunde im gleichen Raum und im Hintergrund hören Harry und Sally jeweils den Freund und die Freundin des anderen den gegensätzlichen Gesprächspart mit.

Hommage an Screwball

Im bereits erwähnten informativen und gut geschriebenen Booklettext von Jenny Jecke geht diese näher auf die Drehbuchautorin Nora Ephron ein, die später unter anderem die Skripts zu „Schlaflos in Seattle“ (1993) und „e-m@il für Dich“ (1998) verfasste. Die Idee für viele der Dialoge im Film kam ihr bei ihrem ersten Treffen mit Rob Reiner und dem Produzenten Andrew Scheinman, die so unverblümt frei und ungehemmt redeten, dass Ephron dies als Inspiration für die Gestaltung der Dialoge im Film nahm. Weiterhin geht die Autorin im Booklet auf die Vorbilder von „Harry und Sally“ ein, unter anderem die Screwball-Komödien, die ihre Hochzeit Mitte der 1930er- bis Anfang der 1940er-Jahre hatten. In diesen meist dialoglastigen Filmen ging es ebenfalls um Gegensätze wie zum Beispiel Mann und Frau und wie man lernte, damit zu leben. Die Screwballkomödien wie „Leoparden küsst man nicht“ (1938) zeichneten sich durch schnell gesprochene Dialoge und reichlich Wortwitz aus, meist stammten die Figuren aus gut situierten Verhältnissen, sodass sie sich keine Gedanken um Finanzielle Probleme machen mussten. „Harry und Sally“ greift diese Attribute auf und verlagert die Inhalte in die damalige Gegenwart. Ebenfalls wird im Film viel über Sex geredet, aber er wird nie gezeigt. Dies wäre 1989 auch in den USA problemlos möglich gewesen, es gab genug Filme, die sehr viel zeigten. „Harry und Sally“ konnte sich zu der Zeit wiederum davon abheben und ließ seine interessanten Figuren durch Dialog und Wortwitz aufleben. Das Booklet beinhaltet wesentlich mehr interessante Anekdoten und Fakten zum Film und lohnt sich aufgrund des gut geschriebenen Textes nicht nur für Fans des Films, sondern auch für allgemein am Film Interessierte. Es gilt aber wie so oft, wenn man den Film nicht bereits kennt, das Booklet besser erst nach der Sichtung lesen.

Ein Doppeltelefonat, da sich gewaschen hat

Das Mediabook ist wie von capelight pictures gewohnt wertig gestaltet. Das Motiv ist sauber auf die matte Oberfläche gedruckt. Auf der Rückseite befindet sich ein weiteres ansprechendes Motiv von Harry und Sally. Alle technischen Informationen befinden sich auf einem Papierumleger. Da ich kein Experte in Bezug auf Bild und Ton bin, halte ich mich hier weitgehend zurück. Das Bild der UHD wirkte auf mich stimmig, die Farben ausgewogen, Filmkorn ist ebenfalls vorhanden. Beim Ton waren die Dialoge klar verständlich, sodass ich nichts an Bild und Ton auszusetzten habe. Das Bonusmaterial ist reichlich vorhanden und bis auf die zwei sehr informativen Audiokommentare weitgehend deutsch untertitelt.

New York im Wandel der Jahreszeiten

Insgesamt bekommen Harry und Sally gleichwertige Leinwandzeit und Dialoge zugesprochen, sodass niemand wichtiger als der andere erscheint. Aufgrund der besprochenen Themen ist der Film für Kinder weniger geeignet, wird aber nie niveaulos oder peinlich. Aus heutiger Sicht wirkt „Harry und Sally“ noch immer fast zeitlos. Die Dialoge werden interessant und wortgewandt vorgetragen, die Charaktere sind gut geschrieben und die episodenhafte Erzählung lässt den Film eigenständig wirken. Ein weiterer schöner Aspekt ist, dass man durch die episodenhafte Erzählweise New York City zu unterschiedlichen Jahreszeiten zu sehen bekommt. Es gibt Passagen im Sommer und Herbst, aber auch im Winter zu Weihnachten, was „Harry und Sally“ immer wieder eine angenehme Gemütlichkeit ausstrahlen lässt. Für mich nach langer Zeit eine sehr schöne Neuentdeckung und bestimmt auch eine der besten Komödien aller Zeiten, die ich mir noch häufiger anschauen werde.

Alle als „Limited Collector’s Edition” von capelight pictures veröffentlichten Filme haben wir in unserer Rubrik Filmreihen aufgelistet. Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Carrie Fisher haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet.

Veröffentlichung: 20. Oktober 2023 als 2-Disc Limited Collector’s Edition Mediabook (UHD Blu-ray & Blu-ray) und DVD, 14. Juni 2013 als Blu-ray und DVD, 12. August 2011 als Blu-ray „CineProject“, 20. November 2009 als DVD „CineProject“, 5. September 2008, 14. Juli 2003, 15. März 2001 und 13. Oktober 1998 als DVD

Länge: 96 Min. (Blu-ray), 92 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: When Harry Met Sally
USA 1989
Regie: Rob Reiner
Drehbuch: Nora Ephron
Besetzung: Billy Crystal, Meg Ryan, Carrie Fisher, Bruno Kirby, Steven Ford, Lisa Jane Persky, Michelle Nicastro, Gretchen Palmer, Robert Alan Beuth, David Burdick, Joe Viviani, Harley Jane Kozak, Joseph Hunt, Kevin Rooney, Franc Luz, Tracy Reiner, Estelle Reiner,
Zusatzmaterial 2023: deutscher Kinotrailer, US-Kinotrailer, nur Mediabook: 24-seitiges Booklet mit einem Text von Jenny Jecke, nur DVD: Wendecover
Zusatzmaterial früher (variiert je nach Veröffentlichung): Audiokommentar von Regisseur Rob Reiner, Audiokommentar von Rob Reiner, Drehbuchautorin Nora Ephron und Hauptdarsteller Billy Crystal, Dokumentation „Wie Harry & Sally sich trafen“ (35:21 Min.), Featurettes „So fing alles an“ (19:47 Min.), „Liebesgeschichten“ (5:10 Min.), „Rob & Billy (3:55 Min.), „Wer ist Harry?“ (5:47 Min.), „Ich liebe New York“ (8:29 Min.), „Die Auswirkungen von ,Harry & Sally‘“ (12:25 Min.) und „Können Männer & Frauen wirklich Freunde sein?“ (7:54 Min.), 7 entfallene Szenen (7:24 Min.), Musikvideo „It Had to Be You“ von Harry Connick Jr. (2:49 Min.), Deutscher Kinotrailer, US-Kinotrailer, Trailershow
Label 2023: capelight pictures
Vertrieb 2023: Al!ve AG
Label/Vertrieb früher: Twentieth Century Fox Home Entertainment / MGM

Copyright 2023 by Christoph Leo

Szenenfotos & gruppierter Packshot: © 2023 capelight pictures

 
 

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