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Johnny Handsome – Der schöne Johnny: Keiner kann aus seiner (Gesichts-)Haut

Johnny Handsome

Von Tonio Klein

Thriller // Johnny (Mickey Rourke) wird zynisch „Johnny Handsome“ genannt, weil er seit seiner Geburt in Gesicht und Stimme entstellt ist. In seinen nicht zimperlichen Kreisen schätzt man aber immerhin seine Qualitäten als professioneller Räuber. Was bei einem Überfall auf einen Juwelier nichts daran ändert, dass Sunny (Ellen Barkin) und Rafe (Lance Henriksen) Johnny und dessen Freund übers Ohr hauen sowie Letztgenannten erschießen. Im Gefängnis schließt sich Johnny dem Programm eines Chirurgen (Forest Whitaker) und einer Ordensschwester an, die darauf hoffen, die Aufhebung der äußerlichen Stigmatisierung gehe auch mit einer Reinigung der Seele einher, sodass Johnny nach jeder Menge operativer Eingriffe tatsächlich seine Entstellung loswird, auf dass die Resozialisierung gelinge. Nachdem sein Tod fingiert wird und Johnny unter neuem Namen Bewährung und einen Job als Hafenarbeiter bekommt, scheint er sich tatsächlich zu fangen und verliebt sich sogar in Donna (Elizabeth McGovern), eine Kollegin aus der Lohnbuchhaltung. Doch obwohl sie diese Liebe erwidert, will Johnny sich und seinen Freund rächen, und da ist es praktisch, dass Sunny und Rafe ihn nicht erkennen können. Aber hart auf den Fersen ist ihm nach wie vor Lieutenant Drones (Morgan Freeman), der Johnny schon lange kennt und nicht an seine Wandlung glaubt …

Action, Western und Film noir

Dieser Film ist vieles in einem. Der als Action-Regisseur bekannte Walter Hill lässt am Anfang und am Ende den Actionthriller mit gewissen Anleihen an den Western aufblitzen: Ein Mann „tut, was er tun muss“. Der ewige Outlaw. Die harten Kerle mit blitzschnellem und superprofessionellem Finger am Abzug, die ohne zu zögern wuchtig ganze Magazine in was auch immer entleeren. Brutal und archaisch.

80er oder Noir? Rafe und Sunny

Gleichzeitig (wie ebenfalls in Hills „Last Man Standing“, 1996) die Verwundbarkeit, wenn der (Anti-)Held recht roh und ohne Aussparung der blutigen Details zusammengeschlagen wird. Darüber hinaus hat der Film auch in der Ruhe – wenngleich es deren im Mittelteil vielleicht etwas zu viel gibt – seine Kraft. Da ist er eine an den Film noir erinnernde Geschichte von der Schattenseite des Lebens, und so finden wir typische Noir-Orte abseits der Glitzerwelt. Mein Gott, das Ding spielt in New Orleans, was kann man da an Touristischem unterbringen. Hiervon fast nichts; nur (vermutlich bewusst und also geschickt gesetztes) Aufblitzen der Möglichkeiten, wenn etwa die typischen Pferdekutschen das Stadtbild verschönern. Und am Ende der berühmte Friedhof der Stadt – ausgerechnet in einem wahrhaft morbiden Finale. Dazwischen die hässlichen Seiten, der eigentlich ortlos aussehende Hafen, die nassen, kalten, dunklen Straßen, die schmuddelige Wohnung und der Knast als Orte Johnnys, eine kaum minder schmierige Table-Dance-Bar mit dem im Neo-noir-Genre typischen Neonlichter-Farbenrausch, der keine Behaglichkeit verheißt. Zudem inhaltlich wie stilistisch ein paar wunderbare nostalgische Reminiszenzen, und seien es Kleinigkeiten wie nahtlose Überblendungen von einer zur anderen Bildseite – dies war übrigens eher im Pre-Code-Film der 1930er-Jahre als im Film noir Usus. Ellen Barkin als optisch zwar sowas von 1980er, aber charakterlich archetypische Femme fatale. Fragt nicht nach ihrer Seele! Sie hat keine. Der anklagende Zynismus wird noch dadurch aktualisiert, dass – was in den 1940er-Jahren die Zensur verboten hätte – der Polizist ebenfalls in höchstem Maße zynisch ist und unethisch handelt, auch wenn wir uns zu Beginn nie ganz sicher sind. Übrigens eine große Rolle für den nicht mehr jungen, aber noch am Anfang seines großen Durchbruchs stehenden Morgan Freeman, dessen joviales Charisma immer auch etwas Rätselhaft-Bedrohliches hat.

Schöner Arbeiter ohne sicheren Hafen

Filmnostalgisch (und von Hill sicherlich bewusst so gestaltet) ist auch, dass das Drama aus sich heraus funktionieren muss, weil es eher allegorisch statt logisch ist. Klappt das wirklich mit so einer Operation? Handeln die Gangster nicht mitunter reichlich unmotiviert und/oder tölpelhaft? Ist der Racheplan Johnnys angesichts seiner Professionalität nicht auf unglaubwürdige Weise planlos? Ja, das alles kann man so sehen, aber dahinter steckt eine bestechende Reflexion, mit der Hill den Film noir noch weiter in Richtung Fatalismus führt. Niemand kann aus seiner Haut. Zudem ist das Operations-Motiv vielleicht eine Anspielung auf „Die schwarze Natter“ (1947) mit Humphrey Bogart, dem Hill auch als Co-Produzent mit „You, Murderer“ (1995) aus „Geschichten aus der Gruft“ Tribut zollt. Das neue Gesicht als neue Identität als neue Seele? Auch wenn ich es Bogey immer gegönnt habe, dass er am Ende mit Lauren Bacall glücklich vereint ist – hier wird das Dunkle mehr als nur eine „Passage“ auf einem guten Weg sein, so viel sei verraten.

Die reine Frau …

Fatalismus, Zynismus, kaputte Typen, ein Verlierer, Zwanghaftigkeit, die Unmöglichkeit oder zumindest große Schwierigkeit, autonome Entscheidungen zu fällen und sich so auch zum Guten wenden zu können. Das Gegenteil des amerikanischen Traumes, nach dem jeder seines Glückes Schmied sei. Alles klassische und hier noch radikalisierte sowie auf die Ebene der Ordnungshüter ausgedehnte Noir-Themen. Leider hat bei mir die Empathie an einer Stelle aber kläglich versagt, nämlich bei der Figur der Donna. Vielleicht ein bewusst gesetzter Name, Donna als „Frau als solche“, als Kurzform von Madonna, als das weibliche Gute, das Johnny erlösen könnte. Aber doch nicht so! Hier ist der Film mit seinem Versuch, zeitlos-archetypisch und gleichzeitig im Sinne seiner Entstehungszeit modern zu sein, gründlich misslungen. Gott, ist die Gute eine Anhäufung von potthässlichen Mode- und Stylingsünden der ausgehenden 1980er-Jahre! Die gelockte, nach hinten gesteckte, ansatzweise „Vokuhila“-Frisur, der breite Gürtel, der kreuzbrave Blick, die ebenfalls kreuzbrave Kleidung und Schminke und dann diese hässliche geränderte Brille, deren Gläser fast bis zur Nasenspitze runterreichen. Hill treibt das Klischee auf die Spitze, nach dem weibliche Gute allzu bieder aussehen (und selbstverständlich, anders als Barkin, nicht blond sind) und auch so wirken. Um der Gerechtigkeit und der Höflichkeit Willen ist eines klarzustellen: Elizabeth McGovern, die die Donna spielt, ist keinesfalls eine hässliche Frau. Aber ihre Figur ist hässlich gestaltet, und das ist schade, weil ihr Charakter tatsächlich Größe beweist, etwa, wenn Donna ganz genau spürt, dass Johnny Hilfe braucht und sie nicht aus Überzeugung abserviert, sondern weil er sie nicht in seine Probleme hineinziehen will. Kann eine Gute nicht auch einmal flippig, sexy oder beides sein? Muss man eine so starke Frau mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (mit Ausnahme eben des Drehbuchs) wie ein Supermauerblümchen gestalten?

… und der gebrochene Mann

Von dieser – allerdings in Handlung und Psychologie wichtigen – Figur abgesehen (immerhin die einzige Hoffnung für Johnnys Lebenswandel, das ahnen wir sofort) klappt das mit der Empathie aber recht gut, und dazu trägt außer den bereits erwähnten erzählerischen und gestalterischen Mitteln wesentlich das Spiel Mickey Rourkes bei. Schon in der Anfangsphase, als ihm die tonnenschwere Maske nuancierte Mimik unmöglich macht, hat dieser Mann eine traurig-wuchtige Präsenz, wenn er beispielsweise in der ersten Szene als einsamer Wolf durch die Straßen stakst. Ein Koloss, aber auch erkennbar Außenseiter; ein Mann, dessen Äußeres wie Inneres unter dem brüchigen Schutzpanzer der Lederjacke immerfort bersten zu möchten scheint. Und schon da ein Nachdenklicher, der nicht, wie Rourke im Charles-Bukowski-Drama „Barfly – Szenen eines wüsten Lebens“ (1987), sein Method Acting im extrovertierten De-Niro-Stil einsetzt, sondern so, wie es die Rolle verlangt. Ein Gewinn ist, dass das Drehbuch ihm nicht nur das Gesicht, sondern auch die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen hat. Lange dauert es, bis Johnny erstmals spricht, und wir hören sofort, warum – diese nasale, unbeholfene, abgesehen von der Tiefe fast babyhafte Stimme verstärkt Mobbing und Stigmatisierung nur noch. Danach spüren wir in jeder Szene, wie sehr Johnny sich überlegt, ob er das Wort ergreifen sollte, und wie er sich scheut. Beispielsweise in der Szene, in der ein Teil der Operationen schon stattgefunden hat und der Arzt Johnny – mühsam, aber erfolgreich – mehr Details aus seinem Leben entlockt.

Kündet die Säule von Johnnys Schicksal?

Als tatsächlich schöner Johnny stellt er dann den Widerspruch zwischen dem Äußeren und dem immer noch bedächtigen, zaghaften, verhaltenen Auftreten als Schwierigkeit dar, dem geänderten Äußeren auch das geänderte Innere folgen zu lassen. Neben Schauspielkunst trägt dazu bei, dass Rourke zwar ein verwegen-cooles Gesicht hat, aber ein im makellosen Sinne schönes Gesicht nie hatte, auch nicht vor seinen Box-Verletzungen, die er sich ein paar Jahre nach diesem Film zuzog. Leichte Pockennarben sowie eine handlungsbedingte Ungepflegtheit sind jederzeit zu sehen. Und gerade daraus schöpft der Film eine Stärke, denn das ist immer noch weit mehr als das, was Johnny jemals erwarten konnte. „Ich fühle mich immer noch, als wenn ich eine Maske trüge“, bringt er es nach seinem ersten Blick in den Spiegel nach finaler Wiederherstellung des Gesichts auf den Punkt. Genau darum geht es – dito, wenn Rafe und Sunny Johnny am Ende mit Fäusten und einem Messer „wieder sein altes Gesicht verpassen wollen“: Was ist Johnnys „wahre Haut“, was ist seine „Maske“? Wir wissen es nicht. Aber wir ahnen es.

Johnnys Grinsen wird ihn nicht schützen

Ein weitgehend guter bis hervorragender Film, wenngleich mit gewissen Längen im Mittelteil und einer teils verunglückten Gestaltung einer zentralen Frauenfigur. Ansonsten herrlich abgründig und mit einem grandiosen Mickey Rourke. Die Blu-ray liefert wie gewohnt ein etwas schärferes Bild als die auch schon ordentliche DVD von Arthaus/Studiocanal; auf einer zweiten Scheibe finden sich verschiedene Extras. Warum aber ein ums andere Mal in Mediabooks noch eine DVD mit dem Hauptfilm enthalten ist? Wer braucht die? Nette Menschen können sie natürlich verschenken, aber 2021 sei eher ein Jahr des Aufbruchs als eines des Weges, den Johnny gehen muss.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Walter Hill haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Ellen Barkin unter Schauspielerinnen, Filme mit Morgan Freeman, Lance Henriksen, Mickey Rourke und Forest Whitaker in der Rubrik Schauspieler.

Eine Figur mit Licht und Schatten

Veröffentlichung: 8. Oktober 2020 als Mediabook (2 Blu-rays & DVD), 11. September 2001 als DVD

Länge: 93 Min. (Blu-ray), 89 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Johnny Handsome
USA 1989
Regie: Walter Hill
Drehbuch: Ken Friedman, nach einem Roman von John Godey
Besetzung: Mickey Rourke, Ellen Barkin, Elizabeth McGovern, Morgan Freeman, Forest Whitaker, Lance Henriksen
Zusatzmaterial: Trailer, Exklusives Interview mit Walter Hill, Featurettes, Bildergalerie, Booklet
Label/Vertrieb Mediabook: Koch Films
Label/Vertrieb DVD: Kinowelt (Studiocanal)

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & Packshots: © 2020 Koch Films

 
 

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Bullet Point – Eine Sippschaft zum Ermorden: Star-Bowle mit (Socken-)Schuss

Mad Dog Time

Von Tonio Klein

Krimikomödie // Es scheint einen gewissen Charme zu haben, diese Geschichte per anfänglicher Off-Stimme als eine auszugeben, die in einem Paralleluniversum spiele. Letztlich ist der „Kniff“ aber vor allem eines: entlarvend. Denn das reichhaltige Personal hat uns in der realen Welt nichts zu sagen und zelebriert sich selbst. In einem Jux, bei dem es nichts zu lachen gibt. Und in einem Gewaltfilm, der gern so verspielt wie Tarantino wäre, aber der sich im Brutalen dann doch deutlich gesitteter gibt und dem vielleicht nur wegen seines Nihilismus die Jugendfreigabe versagt wurde. Vor einem Totalverriss schrecke ich gleichwohl zurück, unter anderem, weil es den von der US-Kritik schon gab. Und dessen Tendenz zur kollektiven Häme, wenn man erstmal ein Opfer gefunden hat, finde ich unfair und geschmacklos. Der tonangebende Roger Ebert führt den Film sogar auf einer Liste der hassenswertesten Filme. Hass ist ein viel zu großes Wort für einen weitgehend vergurkten, aber nicht ärgerlichen Film. Das hebe ich mir für Schlimmeres auf. „Bullet Point …“ ist nur ein Film, zu harmlos, um ihn zu hassen.

Schaulaufen der Stars

Gut ist er darum aber noch lange nicht. Gut war aber, dass ich ihn ohne Kenntnis seines hinterher recherchierten miesen Rufes sah, in der Hoffnung, bei dem All-Star-Cast könne schon nichts schiefgehen. Die Tatsache, dass ich, 1996 schon lange aktiver Kinogänger, von ihm noch nie gehört hatte, hätte mich aber stutzig machen können. Videopremiere in Deutschland, das gab’s bei einem A-Film nur, wenn er wenig taugte. Ich hatte aber nicht vor, den nicht zu mögen. Ist trotzdem passiert. Obwohl man als Freund des etwas plakativ-nostalgischen Stils inklusive jeder Menge „Rat Pack“-Songs, Nachtclub-Eleganz und parodistischer Gangster-Attitüde genau richtig zu liegen scheint, und es geht gar nicht mal schlecht los. Gangsterboss Vic (Richard Dreyfuss) „kommt raus“, und es werden die oft tödlich endenden Ränke ausgetragen. Gabriel Byrne als Ben gibt mit herrlich ausladenden Handbewegungen eine Paten-Parodie, und wer erschossen wird, rappelt sich noch mindestens einmal auf, um absurd spät seinem Schöpfer entgegenzutreten. Killer Mick (Jeff Goldblum) ist der aalglatte, grinsende Strippenzieher, scheint Vics Gespielin Grace (Diane Lane) versteckt zu haben, fängt aber auch mit ihrer Schwester Rita (Ellen Barkin) etwas an. Und ist geschickt mit der Knarre. An edlen, in einer Tiefgarage aufgebauten, einander gegenüberstehenden Schreibtischen werden Duelle ausgefochten. Roger Eberts Überdosis Häme ist in der Sache nicht ganz ohne Berechtigung. Der Kritikerguru der Chicago Sun Times führt aus (Eigenübersetzung): „Zwei oder drei Personen … sprechen einen trockenen, hartgesottenen Dialog, und dann werden einer oder zwei erschossen. Das passiert wieder und wieder.“ Das stimmt, und es nutzt sich schnell ab.

My Way? No Way!

Das Konzept von Stars auch in kleinsten Rollen wirkt wie Angeberei, ähnlich dem heillos überladenen Ulk-„Casino Royale“ (1967). Spätestens, als Rockstar Billy Idol genau eine Schreibtischszene mit beziehungsweise gegen Jeff Goldblum geschenkt bekommt, nur um sein Knurren mit einer Kugel im Leib zu bezahlen, wird dies klar. Alles zu künstlich, zu selbstverliebt, zu prätentiös, zu sehr sich wiederholend, um einen Hauch von Empathie zu erwecken. Und auch als Satire kaum genießbar, die doch vielleicht irgendeine Berührung mit der Wirklichkeit haben sollte, um sich an dieser reiben zu können.

Nun liegt 1996 der Verdacht nahe, dass der durch „Pulp Fiction“ (1994) hervorgerufene Hype um den Gestus Quentin Tarantinos in die Produktion waberte und man in dem Garten ein bisschen wildern wollte. Viele Filme haben das seinerzeit gemacht, und es ging beileibe nicht immer schief. Zumal die Kritik, nichts über das wahre Leben zu sagen, kein Totschlagargument sein darf. Auch Tarantino erzählt meist mehr über das Kino als über das Leben. Aber dessen Trockenheit geht „Bullet Point …“ völlig ab, wobei man merkt, dass der Film sie ganz gern hätte. Das wird beispielsweise beim Exitus Bens deutlich, der vorher noch „My Way“ schmettert, wofür man zusätzlich den Liedtexter Paul Anka höchstselbst auf die Bühne holte. Das Lied war schon zuvor erklungen und nun haben wir auch wirklich alle gemerkt, dass das ein Lied des Abtritts ist, „I must face the final curtain“ und so. Wenn Vic (Dreyfuss wahrt mit seinem Understatement den Anstand in dieser haltlosen Produktion) Ben nicht einfach nur erschießt und den langsamen Vorgang sarkastisch kommentiert, hat das tatsächlich einen Hauch von Tarantino, aber ist ersichtlich auch von der „Schwarzer Ritter“-Szene aus Monty Pythons „Die Ritter der Kokosnuss“ (1975) geklaut – und eben allzu überdeutlich eingeleitet.

And so he’ll face the final curtain

Tarantino macht’s beiläufig, „Bullet Point – Eine Sippschaft zum Ermorden“ des als Regisseur kaum in Erscheinung getretenen Larry Bishop trägt dick auf, immer. Seine filmische Sprache ist die eines schlechten Entertainers, der seine Witze erklärt und uns ausdrücklich sagt, wie witzig er sei. Dabei ist das nun wirklich kein Trash. Die Leute wissen, wie man eine Kamera hält, Kostüme und Bauten designt, Szenen ausleuchtet und sie später montiert. Zudem können die Darsteller spielen. Aber es nicht retten. Byrnes Chargieren hat mich am Anfang wirklich begeistert und schmunzeln lassen, aber das wiederholt sich zu oft, so wie Goldblums sarkastisches Grinsen. Die inflationären Großaufnahmen sind zudem gegenüber den Schauspielern gemein, sagen sie doch, dass sie deren Talent nicht trauen und extra noch einmal auf das Offensichtliche hinweisen.

Dieser Film biedert sich permanent an, wanzt sich an die Zuschauer aufdringlich ran, schreit heraus, dass er doch so gern in dem Club Mitglied wäre, in dem er höchstens kellnern darf. Plump und aufdringlich ist der „Witz“, wenn etwa Dialoge mit den Protagonistennamen Nick, Vic und Mick kalauern. Und was tut die hochgeschätzte Ellen Barkin? Nachdem ein paar leichtbekleidete Bunnys zum Lied „C’est si bon“ über den Laufsteg eines Nachtclubs gewackelt sind, darf sie in einem schwarzen, hochgeschlitzten und zudem durchsichtigen Kleid auch dort schaulaufen. Supersexy, wirklich. Aber ohne jegliche Bedeutung. Sie läuft hin und her, manchem fallen bald die Augen aus dem Kopf, und dann war’s das. So ist der ganze Film, in dem übrigens Angie Everhart zur reinen Dekoration verkommt, während Ellen Barkin und Diane Lane immerhin noch ein bisschen spielen dürfen.

Chicks with guns – das kann Tarantino besser!

Und wer da sonst noch alles verheizt wird! Burt Reynolds trägt viel Bräunungscreme und grinst sehr breit. Richard Pryor hat eigentlich nur einen ganz kurzen Cameo, wird aber pompös mit Bild und Namen in den Schluss-Credits gezeigt. Sobald sich ein Taxifahrer in einer völlig überflüssigen Szene umdreht und die Chauffierten mit seiner Philosophie des Lachens ansteckt, ahnen wir, dass das kein Unbekannter ist (es ist Regisseur Rob Reiner, Sohn des kürzlich verstorbenen Carl Reiner). Angeberei ohne Sinn und Verstand.

Eleganz um ihrer selbst willen

Ach ja, und worum geht’s? Da der Film sich nur mit sich selbst beschäftigt, statt etwas zu erzählen, ist irgendwie konsequent, dass die Gangster nicht gangstern, sondern sich ebenfalls nur mit sich selbst beschäftigen. Bis man kaum noch durchsteigt und sich der Kreis arg dezimiert. Dummerweise hatte ich den Spruch „Am Ende sind viele tot, aber dem Zuschauer geht es auch kaum besser“ gerade bei meiner vorherigen Rezension (zu „Der Teufel kam aus Akasava“) verbraten. Passt auch hier. Wobei das Finale dann tatsächlich durch das Zusammentreffen mehrerer Protagonisten, die nicht nur Zaungäste sind, Spannung aufkommen lässt. Das kann den Film aber auch nicht mehr retten. Schade!

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Ellen Barkin haben wir in unserer Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Gabriel Byrne, Richard Dreyfuss, Jeff Goldblum, Burt Reynolds und Henry Silva unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 25. November 2020,12. Oktober 2007 und 14. Juli 2005 als DVD

Länge: 89 Min.
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Mad Dog Time
USA 1996
Regie: Larry Bishop
Drehbuch: Larry Bishop
Besetzung: Michael J. Pollard, Henry Silva, Gabriel Byrne, Jeff Goldblum, Ellen Barkin, Richard Dreyfuss, Burt Reynolds, Gregory Hines, Angie Everhart, Kyle MacLachlan, Billy Idol, Billy Drago, Paul Anka, Rob Reiner, Diane Lane, Larry Bishop, Richard Pryor, Juan Fernández
Zusatzmaterial: Originaltrailer, Wendecover
Label 2021: Pidax Film
Vertrieb 2021: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2007: Cine Plus
Label/Vertrieb 2005: Warner Home Video

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Pidax Film

 

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Der Zigeuner – Unlustig ist das Zigeunerleben

Le gitan

Von Tonio Klein

Thriller // Einmal wird Hugo (Alain Delon) angeschossen. Er, den alle nur „Zigeuner“ nennen, schleppt sich zu einem Tierarzt, der ihm die Kugeln unter großen Schmerzen herauspult und ihm am Ende sogar noch die Pistole wiedergibt. Nach einer berührenden Erklärung, warum der Arzt dem Verbrecher geholfen habe, obwohl er ihn erkannt habe, bietet Hugo ihm Geld aus einem Beutezug an. Der Doc erbittet stattdessen aber den Handschlag des Mannes, der nicht nur als „Zigeuner“ ein Außenseiter ist. Jetzt kommt etwas Wunderbares in einem Film, der mit ausdrucksstarken Großaufnahmen nicht geizt. Die beiden Männer sind weiterhin in Großaufnahme zu sehen, die Blicke sagen alles. Und man sieht an minimalen Körperbewegungen, dass Hugo die Bitte erfüllt, obwohl der Handschlag weit außerhalb des Bildkaders liegt. Ein schwächerer Regisseur hätte auf die Halbtotale gewechselt und/oder die Hände als Insert präsentiert. Nicht so Regisseur José Giovanni, der den Menschen ganz genau zuschaut und die Empathie dadurch noch erhöht. Delon ist in diesem Stück sowieso ein Selbstläufer, dessen nuancierte Gesichtsregungen nicht einmal der exorbitante Schnurrbart kaputtmachen kann. Dabei hat Giovanni nicht einfach einen seiner Lieblingsdarsteller besetzt, sondern nutzt dessen Markenzeichen konsequent für das Porträt eines in mehrfacher Hinsicht Ausgestoßenen. Über die wie immer stahlblauen Augen des Mimen heißt es einmal in einem typisch rassistischen Klischee, ausgesprochen durch einen Polizisten, man möge sich die stechenden, bösen Augen des Gesuchten gut einprägen.

Rassismus und seine Folgen

Um Rassismus geht es, und das von Anfang an. Während die Kamera manchmal zum Persönlichen, Intimen neigt, ist sie nicht minder meisterhaft beim (Über-)Blick auf gesellschaftliche Strukturen. Der Film beginnt mit einer minutenlangen Einstellung aus der Luft, die mit Badegästen an einem Strand beginnt, das Meer, ein Priel, Dünen, es könnte die Nordsee sein (ist es auch, da es sich als Belgien erweisen wird). Anders als beispielsweise auf den Ostfriesischen Inseln verliert die Gegend ihre malerische Fassade: eine hässliche Fabrik, hässliche Prekariats-Wohnblocks, noch hässlichere Müllhalden – und darin die Wohnwagen und Angehörigen des fahrenden Volkes. Die Kamera nähert sich dem, verlässt die Vogelperspektive ein wenig, kriecht in die behelfsmäßigen Straßen der Gruppe, lässt die Polizei auflaufen. Zu alldem die großartige Musik des „Zigeuners“ Django Reinhardt. Und die Polizei in Belgien, später in Frankreich, eröffnet die „Jagd auf Zigeuner“, wie sie das selbst mal nennt. Viele Passagen des Filmes, obwohl wie damals üblich noch von „Zigeunern“ und „Rasse“ die Rede ist, prangern in Wort und Bild den diskriminierenden Umgang der Staatsmacht mit dieser Ethnie an. Und zeigen, was es heißt, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Auf die Frage, ob Hugo nicht besser ins Ausland ginge, erwidert er, für einen wie ihn sei überall Ausland.

Dieser Blick

Nach diesen Worten ist indes ganz klar zu sagen, dass dieser sozialkritische Film alles andere als ein einseitiger Thesenfilm ist. Giovanni, der seinen eigenen Roman adaptiert hat, lässt nämlich keinen Zweifel daran, was Hugo ist: ein Verbrecher. „Kein Mörder“, sagt er zwar von sich, aber definitiv ein Räuber sowie ein Richter und Henker, wenn es um Verrat geht. Wir können es uns nicht so einfach mit einem „endlich sind sie mal die Guten“ machen. Was, by the way, für mich „Der mit dem Wolf tanzt“ (1990) zu einem damals zu sehr gehypten Film macht. „Der Zigeuner“ ist aber nicht nur politisch doppelbödig, sondern verbindet die „Zigeunergeschichte“ zudem mit einem virtuosen Thriller. Giovannis Roman wurde in der „série noire“ veröffentlicht, und ein bisschen Film noir (sowie Gangsterfilm) steckt in dem Ganzen tatsächlich drin. Nicht vom Stil her, aber noir ist weder nur Stil noch nur Genre, sondern vor allem eine Haltung. Dort ist der (Anti-)Held oftmals der Außenseiter, dessen Ideale enttäuscht werden und der nur als Harter in einer harten Welt durchkommt. Zudem gibt es häufig aberwitzig-absurde Verwicklungen, die zu einem munteren Jeder-jagt-jeden führen, bis klar ist, dass nicht nur ein paar Einzelne verkommen sind, sondern ein ganzes Gesellschaftssystem verkommen ist.

Verkettungen führen bis tief in den Sumpf

Genau dies passiert in „Der Zigeuner“. Der ältere Verbrecher Yan Kuq (Pierre Meurisse) kommt von einem Raubzug nach Hause und überrascht seine junge Frau beim Telefonat mit dem Geliebten, der sich als Bulle erweisen wird. Er schlägt sie, und dann kommt sie sehr indirekt durch ihn zu Tode. Jetzt können die Ordnungshüter nicht ihre Karten ausspielen, ohne ein Dienstvergehen aufzudecken, und Yan kann den Tod seiner Frau nicht erklären, da er angeblich zu Hause gewesen ist … Also greifen die Ursache-Wirkung-Ketten hübsch ineinander, bis alle Jagd auf Hugo machen, zu dessen entferntem Umfeld Yan gehört. Dabei geht nicht nur Hugo kompromisslos vor. Auch die Polizei arbeitet schön unsauber – allein schon, dass ein junger Beamter mit der Gattin des zu beschattenden Yan etwas angefangen hat, und am dreistesten ist die „Ausdehnung“ der Frist, die man einen Mann ohne Gerichtsbeschluss festhalten darf. Muss man gesehen haben! Am Ende ist man wirklich in einem raumgreifenden Sumpf, der einem Raymond Chandler oder einem ganz aktuellen Neo-Noir wie „The Poison Rose – Dunkle Vergangenheit“ (2019) alle Ehre gemacht hätte.

Wer Gewalt erfuhr …

Neben solidem Thriller-Handwerk und überzeugenden Schauspielerinnen (Annie Girardots Rolle ist trotz früher Nennung leider nicht besonders groß) und Schauspielern besticht „Der Zigeuner“ dadurch, dass alle Figuren ambivalent sind. Auch bei den Bullen (wie sie hier in freier Übersetzung von „flics“ stets heißen) findet sich kein genuines Schwein. Und wenn Yan vor allem gegen Ende Sympathie oder zumindest Mitleid erregt, müssen wir einen Moment innehalten und uns sagen: Moment, der Yan, von dem wir zu Beginn gesehen haben, wie er seine Frau vermöbelt? Und das ist eine wirklich harte Szene, viel mehr als nur ein Hand-Ausrutschen. Er verdrischt sie mit seinem offenbar schweren Hosengürtel, schlägt hart und immer, immer wieder zu. Nein, das ist kein Gentleman-Räuber. Solche Widersprüche in den Charakterisierungen müssen wir aushalten, bei allen, auch bei Hugo. Es trägt sehr zum Gewinn des Filmes bei.

José Giovanni: Nicht nur ein Ex-Verbrecher

Ein Wort zu José Giovanni, von dem ich vorher nur „Endstation Schafott“ (1973) kannte und auf dem Pidax-Cover las, dass er ein zum Tode verurteilter und nach Haftumwandlung und langem „Sitzen“ begnadigter Raubmörder war. Bücher über ihn kenne ich nicht und musste mich mit dem Internet behelfen. Auch wenn man dort nicht alles glauben kann, ist der Mann offenbar nicht nur ein geläuterter Verbrecher, sondern war ein Kollaborateur des Vichy-Regimes. Gut, jedem seine zweite Chance, aber er hat zum einen auch seine Verbrechen teils politisch motiviert begangen und zum anderen sich nie dazu bekannt, sondern sich eine Résistance-Vergangenheit zurechtgelogen. Ein interessanter Fall für die hypothetische Frage, ob er ebenfalls boykottiert würde oder seine Filme mit Warnhinweisen versehen würden, wären diese so bekannt wie „Vom Winde verweht“ (1939). Es wäre schade, denn seine Filme lassen seine politische Haltung insoweit nicht erkennen, dafür aber am eigenen Leib Erlebtes über Polizei (und in anderen Filmen auch Justiz) und Gefangen- bzw. Ausgeschlossensein (hier nur allegorisch). Das bereichert sie ungemein. Auch wenn „Le gitan“ (wie „Der Zigeuner“ im Original heißt) wahrscheinlich als „Le juif“ nicht funktionieren würde …

Finstere Großaufnahme vor lichtem Hintergrund – passt!

Pidax präsentiert den Film in ordentlicher, aber nicht überragender Bildqualität und mit eher spärlichen Extras sowie leider ohne Untertitel. Wählt man den deutschen Ton statt des französischen Originals, kann man aus Delons Mund das markante Brummen des Synchronsprechers Klaus Kindler genießen, der vor allem als Clint-Eastwood-Stimme bis zu Kindlers Tod im Jahre 2001 Kultstatus genoss.

Den „Bullen“ immer eine Waffenlänge voraus

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Alain Delon haben wir in unserer Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung: 21. August 2020 als DVD

Länge: 98 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Französisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Le gitan
F/IT 1975
Regie: José Giovanni
Drehbuch: José Giovanni, nach seinem Roman „Histoire de fou“
Besetzung: Alain Delon, Annie Girardot, Paul Meurisse, Marcel Bozzuffi, Bernard Giraudeau, Renato Salvatori, Maurice Barrier, Maurice Biraud, Michel Fortin, Jacques Rispal, Florence Giorgetti, Nicolas Vogel
Zusatzmaterial: Trailershow, Wendecover
Label: Pidax Film
Vertrieb: Al!ve AG

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot © 2020 Pidax Film

 

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