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Clint Eastwood (XXXIX): Erbarmungslos – Wirklich ein Meisterwerk? Jedenfalls nah dran

Unforgiven

Von Tonio Klein

Der folgende Text enthält Spoiler.

Western // Nein, so ganz warm werde ich dem exzellenten Ruf zum Trotze nicht mit „Erbarmungslos“ (1992) – vielleicht weil ich ihn für gut, aber für nicht so brillant halte, wie er sei. Ein Anti-Western soll es sein, einer, in dem es fast nur ums Töten geht, aber der dem Töten jegliche Faszination genommen hat. Wie gar nicht einmal selten in Eastwood-Filmen, hat die Gewalttat, die die Handlung in Gang setzt, mit sexuellen Abwegen zu tun (so auch in „Der Mann, der niemals aufgibt“, 1977): Weil die Hure Delilah Fitzgerald (Anna Thomson) über das bescheidene Maß seines „besten Stücks“ lacht, zerschneidet der Cowboy Quick Mike (David Mucci) ihr das Gesicht. Sheriff Little Bill Dagget (Gene Hackman) betrachtet das als Eigentumsdelikt, begangen am Bordellchef, und verpflichtet den Täter zur Zahlung eines eher geringen Schadensersatzes. Das wollen die Prostituierten nicht auf sich sitzen lassen und setzen ein Kopfgeld auf den Täter und seine Spießgesellen aus.

Gescheiterte Existenzen allenthalben

Die Typen, die das in die Stadt lockt, sind alle schon ziemlich kaputt. Eastwood selbst spielt William „Bill“ Munny, den Ex-Killer, der den Killer in sich nicht los wird – und sein erster Auftritt zeigt im wahrsten Sinne des Wortes, dass er als Schweinezüchter gescheitert ist. Kann er wenigstens noch töten? Sein erstes Schießtraining auf seiner Farm bringt – anders als noch in „Der Texaner“ (1976) – erbärmliche Resultate hervor.

Bill – Mann mit Namen, aber ohne Zielwasser

Sein Kumpel Ned Logan (Morgan Freeman) kommt vom Killen ebenfalls nicht los, wird aber im entscheidenden Moment nicht abdrücken können (und perverserweise für die Tat, die er nicht begangen hat, gelyncht). Scheint übrigens keine große Sache zu sein, wenn man sich bei der vorherigen Folterung einmal die Zuschauer im Hintergrund ansieht, die weder angewidert noch sensationslüstern, sondern schlicht gleichgültig wirken.

Die Banalität des Bösen

Der junge Aufschneider Schofield Kid (Jaimz Woolvett) prahlt mit seinen Killerkünsten; das wird sich als Lug und Trug erweisen. Während diese drei gemeinsam in die Stadt reiten, gönnt der Film einem anderen Aufschneider, English Bob (Richard Harris), einen eigenen Handlungsstrang, in welchem er auf den Sheriff trifft, zusammengeschlagen und gleich wieder aus der Stadt gejagt wird.

Wer oder was ist die Ente des Todes?

Man muss leider sagen, dass dieser Handlungsstrang insgesamt besser als der Teil ist, in dem Eastwood mitspielt, witziger auch. In den Szenen zwischen Richard Harris und Gene Hackman gelingt dem Film eine faszinierende Mélange aus verschiedenen Stilen und Zitaten. English Bob tritt erstmals mit großspuriger Überlegenheit in einem Zug auf, wie weiland Lee Van Cleef in „Für ein paar Dollar mehr“ (1965). Doch Bobs Attitüde ist Schaumschlägerei. Er hat sogar seinen Biografen W. W. Beauchamp (Saul Rubinek) dabei, der Bobs „Heldentaten“ mit kreativer Freiheit heroisch aufpeppt. Dabei wird deutlich, dass Legenden nicht immer der Wirklichkeit entsprechen, inklusiver der, wie der Westen „zivilisiert“ und groß gemacht worden sei. Vielleicht spielt Eastwood hier auf das berühmte „print the legend“-Zitat und das Auseinanderfallen von Dichtung und Wahrheit in John Fords „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ (1962) an.

Der Legenden-Demontierer lauert im Hintergrund

Wenn Little Bill English Bob zusammengeschlagen hat und im Knast verhöhnt, bekommt der Film neben der Legendendemontage etwas vom sardonischen Humor, der schon Sergio Leones Werke auszeichnete. Obwohl Little Bill ein sadistisches Schwein ist, hat er die Lacher auf seiner Seite, wenn er höchst effektiv dem Biografen erzählt, wie sich angebliche Heldentaten wirklich zugetragen haben. Der Genuss, den Little Bill das bereitet, überträgt sich auf den Zuschauer, zumal Hackman das mit sichtlichem Vergnügen spielt.

Noch hat er gut lachen

Eine gemeine, vergnügliche Spitze in diesem Zusammenhang ist, dass Little Bill als Muffel alteuropäischer Bildung nicht weiß, was ein „Duke of Death“ sei und darauf beharrt, Bobs „Titel“ wie „Duck“ auszusprechen. „Duke“ war bekanntlich auch der ehrenvolle Spitzname John Waynes, zu dem Eastwood ein etwas gespaltenes Verhältnis hatte. Wayne stand viel stärker für ein ultrakonservatives Amerika als Eastwood (sieht man von manchen Eastwood-Aussagen jüngerer Jahre ab) und hatte immer bemängelt, Eastwoods schonungslosen Western fehle der Glaube an den guten alten Pioniergeist, der das Land groß gemacht habe. Gerade auf „Erbarmungslos“ trifft das in besonderem Maße zu – und erweist sich als Kompliment wider Willen.

Dekonstruktionen

Dass es sich weitgehend um einen Anti-Western und einen Anti-Gewaltfilm handelt, obwohl es doch um Gewalt geht, macht ihn beim ersten Sehen etwas zäh. Aber das geht weitgehend in Ordnung. Man reibt sich erst einmal die Augen, dass es so gar keine klassische Actionszene gibt (und wenn, dann nur kurz, nachdem Schofield einen Mann völlig unheroisch im wahrsten Sinne des Wortes mit heruntergelassenen Hosen erwischt und abgeknallt hat). Das ist aber im Grundsatz schon mehr als in Ordnung: So wie auf der Handlungsebene das Töten entmystifiziert und damit auch entheroisiert wird, unterläuft der Film auch in Stil und Tempo die Erwartungen der Zuschauer: Er geht alles etwas langsamer, hässlicher und bewusst ohne Genre-Unterhaltungs-Gewohnheiten wie eine anständige Ballerei an. Stattdessen ist er eben unanständig. Und zeigt das Töten als etwas Unanständiges. Ned bringt es nicht fertig, der Vertreter des Gesetzes lässt ihn aber zu Tode foltern. Schofield erschießt nur einen Mann auf der Toilette. Munny trifft so schlecht, dass er weiß, wie lange und qualvoll sein Opfer noch leiden wird. Zuvor haben indes die endlosen Dialoge über das Töten (wiewohl grundsätzlich notwendig, um sie später als falsch zu entlarven) Kürzungspotenzial und man fühlt sich in der Parallelhandlung um Little Bill, die Prostituierten und English Bob wohler.

Killer unter sich

Die Szene, nach der Schofield getötet hat, erweist sich als Meisterstück. Der Mann, fast noch ein Junge, muss zugeben, dass er das noch nie getan hat – weinend bricht er zusammen, nie wieder werde er töten. Dieser tragisch-perverse Initiationsritus erinnert ein bisschen an den jungen Anthony Perkins in William Wylers „Lockende Versuchung“ (1956), in dem er ebenfalls herausfinden musste, dass das Töten (im Sezessionskrieg) für ihn nicht das Richtige ist. Während damals Film-Vater Gary Cooper meinte: „Du hast getan, was du tun musstest“, kommentiert Eastwoods Munny die entsprechende Szene nur mit seinem unnachahmlichen Gesichtsausdruck, der genau das Gleiche sagt, und der sagt, dass Munny Schofield ganz genau versteht: Du musstest es selbst herausfinden, und das ist schmerzhaft und hässlich, wie Töten immer schmerzhaft und hässlich ist. Niemand kann das so vielsagend minimalistisch spielen wie Eastwood, der wirklich – obschon kein klassischer Method Actor – in diese Rolle hineingewachsen ist (auch altersmäßig; er hatte das Drehbuch lange liegen lassen).

Eastwood kann’s nicht lassen

Bedauerlich ist, dass Bill Munny am Ende eben doch wieder der Vollstrecker wird. Zwar sind in der Mitte die Szenen besonders berührend, in denen er fast totgeschlagen wurde und sich schon im Todesreich wähnt (in welchem auch die Engel in Gestalt der verletzten Hure Narben haben und Munny fantasiert, seine tote Frau lebe noch – in Wirklichkeit ist aber nicht sie noch fast bei ihm, sondern er schon fast bei ihr).

Auch die Engel haben Narben

Aber am Ende ist das alles vergessen. Zu Beginn musste wieder einmal ein Eastwood-Charakter mit der Herausforderung klarkommen, zum Vollstrecker eines weiblichen Willens zu werden, wie wir es schon in „Der Mann, der niemals aufgibt“ und selbst in dem kruden „Rookie – Der Anfänger“ (1990) erlebt haben, wenn er den Bösen mit der Patrone dessen Geliebter erschießt. Für das Finale hingegen gilt das Motto, das auch schon über „Rambo III“ (1988) stand: „Jetzt kämpft er für einen Freund.“ Sobald Ned totgefoltert wurde, wird es persönlich, Munny ist wieder der Alte und zieht zum Showdown los.

Abgerechnet wird zum Schluss

Auch wenn Freundschaft ein nachvollziehbares Motiv ist: Das hatten wir beileibe nicht zum ersten Mal. Man mag zwar darüber rätseln, ob Munny eher blindlings in den Kampf zieht, eventuell sogar sterben will und nur Glück hat. Ein Wortwechsel mit dem Biografen nach dem Showdown deutet dies genauso an wie das letzte Filmbild. Aber Eastwood inszeniert hier dermaßen martialisch, inklusive bedrohlicher Ansprache an alle Bewohner der Stadt beim Abzug, dass es wie ein Fremdkörper in dem ansonsten ziemlich guten Western wirkt. Macht es einen Unterschied, ob jemand knapp zwei Stunden vom Töten nichts mehr wissen will und in den letzten zehn Minuten loslegt, oder ob es (wie bei vielen drittklassigen Actionfilmen) gerade umgekehrt ist? Doch, macht es schon, „Erbarmungslos“ ist – die obigen Ausführungen haben es hoffentlich dargelegt – deutlich besser als Rambo und Konsorten. Am Ende verfällt Eastwood jedoch, dem Ton des Filmes unangemessen, in sein markiges Gehabe aus vergangenen Zeiten. Dies mag zwar auch eine Antwort auf die Frage sein, ob Munny letztlich doch nicht aus seiner Killerhaut kann. Er kann nicht, wie es so viele andere Eastwood-Charaktere nicht können. Doch wo beispielsweise der ansonsten deutlich schwächere „Im Auftrag des Drachen“ (1975) dieselbe Frage mit einem sehr beunruhigenden Schweigen als geniale Schlusseinstellung zu beantworten trachtet, spielt Eastwood nun im Finale das Ikonische seiner Leinwandpersona nur halbherzig gebrochen aus. In diesen Film passt es nicht so ganz.

Anerkennung hat viele Gesichter

Um der Chronistenpflicht zu genügen, seien von den zahlreichen Preisen die vier Oscars erwähnt, die „Erbarmungslos“ 1993 bei neun Nominierungen abräumte: Eastwood wurde als Regisseur und – da er auch produzierte – für den besten Film geehrt, Gene Hackman als Nebendarsteller, Joel Cox für den Schnitt. Golden Globes hatte es zuvor für Regisseur Eastwood und Nebendarsteller Hackman gegeben.

Wär er besser zurückgeblieben, statt zurückzublicken

Eine besondere Ehrung wurde dem Werk 2013 zuteil, als mit „The Unforgiven“ (Originaltitel „Yurusarezaru mono“) ein japanisches (!) Remake in die Kinos kam (bei uns 2014). Aus Eastwoods Ex-Revolverheld wird ein von Ken Watanabe („Godzilla“, 2014) verkörperter Ex-Samurai. Regisseur Sang-il Lee hält sich dabei recht eng an die Vorlage. Bemerkenswert.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von oder mit Clint Eastwood haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Morgan Freeman, Gene Hackman und Richard Harris unter Schauspieler.

Veröffentlichung: 28. Mai 2015 als Blu-ray im Steelbook, 12. September 2008 als 2-Disc Set Premium Edition, 21. Mai 2005 als DVD der SZ-Cinemathek, 21. November 2002 als 2-Disc Special Edition DVD, 25. September 1998 als DVD

Länge: 131 Min. (Blu-ray), 125 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: Unforgiven
USA 1992
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch: David Webb Peoples
Besetzung: Clint Eastwood, Gene Hackman, Morgan Freeman, Richard Harris, Jaimz Woolvett, Saul Rubinek, Frances Fisher, Anna Thomson, David Mucci, Rob Campbell, Anthony James, Tara Frederick, Beverley Elliott, Liisa Repo-Martell, Josie Smith, Shane Meier, Aline Levasseur, Cherrilene Cardinal
Zusatzmaterial (nicht in allen Editionen): Audiokommentar von Clint Eastwoods Biograf Richard Schickel, Dokumentation „All on Accounta Pullin’ a Trigger“, Dokumentation „Eastwood & Co. – Die Entstehung von ,Erbarmungslos‘, Dokumentation „Eastwood … Ein Star“, Dokumentation „Eastwood über Eastwood“, TV-Folge aus „Maverick – Duell bei Sonnenuntergang“, US-Kinotrailer
Label/Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2023 by Tonio Klein

Szenenfotos & gruppierte Packshots: © Warner Home Video

 

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Clint Eastwood (XXXVIII): Million Dollar Baby – Mein Fleisch und Blut? Zumindest mein Blut

Million Dollar Baby

Von Tonio Klein

Dieser Text enthält Spoiler.

Boxdrama // Ein schmuddelig wirkender Boxring in einem schimmeligen Grün (eine Färbung, die fast den ganzen Film durchziehen wird). Ein Boxer ist angeschlagen – sitzt die Wunde „zu tief am Knochen“ wie der Off-Erzähler jetzt schon mutmaßt? In einer für Clint-Eastwood-Filme eher untypischen schnellen Zoomfahrt schießt die Kamera (wohl vom Computer assistiert) auf die Poren an der Gesichtsverletzung zu. „Million Dollar Baby“ wird unter die Haut gehen, von Wunden und Narben handeln. Der Name Frank Dunn klingt lautmalerisch wie „done“, verbraucht, erledigt, ausgelaugt, fertig. Regisseur Eastwood spielt ihn selbst; Dunn ist nicht nur alt, sondern hat auch eine (im Film nie ganz geklärte) Vergangenheit. Seine Tochter lässt seine Briefe unbeantwortet, seinen Pfarrer (Brían F. O’Byrne) nervt er mit hergesuchten Fragen über den katholischen Glauben.

Geht das ins Auge?

Dunn hat zwar einen (ziemlich heruntergekommenen) Boxstall und dort einen Freund, den Ex-Boxer und Hausmeister Eddie Dupris (Morgan Freeman), genannt Scrap (wörtlich Abfall, Ausschuss). Aber er hätte gern eine Familie und ist auf der Suche nach einem Lebensinhalt, den ihm das Boxgeschäft nicht geben kann. Die Gespräche mit dem Pfarrer zeigen nur, dass er einfach mal mit jemand anderem als Scrap reden möchte. Offenbar hat er Schlimmes erlitten und überkompensiert das, indem er seine Boxer überbehütet. Sie – und damit er – sollen kein Risiko eingehen. Endlich hat er einen, Big Willie Little (Mike Colter), der es zum Champ bringen könnte, doch immer wieder verweigert er ihm den Titelkampf, weil sein Mann noch nicht so weit sei. Bis der Boxer zu einem anderen Trainer (Bruce MacVittie) wechselt und den Titel holt. Was – oder wer – kann Frank aus seiner Lethargie erlösen?

Ersatztochter für Familiensuchenden

Maggie Fitzgerald (Hilary Swank) kann es! Sie ist eine der stärksten Frauenfiguren im (an starken Frauen gar nicht mal armen) Werk Eastwoods. Sie will Frank als Trainer und mit aller Macht Weltmeisterin werden, er will sie erst loswerden, ist aber irgendwann von ihrer Mischung aus Zähigkeit und Charme (mit ein bisschen weiblicher Raffinesse) beeindruckt. Es entwickelt sich eine symbiotische Vater-Tochter-Beziehung, in diesem Sinne ist „Million Dollar Baby“ (2004) ganz klar ein Liebes- und kein Sportfilm. Wieder einmal zeigt Eastwood zwei Menschen, deren Wesen von teils auffälligen Parallelen, teils komplementären Gegensätzen geprägt ist und die einander ebenso brauchen wie ergänzen. Beide gehören zu den sogenannten einfachen Leuten, Maggie entstammt ganz besonders deutlich dem „White Trash“. Frank hat keinen Kontakt mehr zur Familie, Maggie hat eine ganz und gar furchtbare Familie (so wie später Eastwoods Walt Kowalski in „Gran Torino“, 2008). Frank möchte nie mehr im Leben etwas riskieren, möchte nie mehr etwas oder jemanden verlieren. Maggie will alles riskieren und ganz nach oben. Frank blickt dabei angstvoll auf seine Vergangenheit, Maggie kraftvoll auf ihre Zukunft. Und keiner kann ohne den anderen – Maggies rastlose Energie und entschlossene Schlagkraft braucht Franks Unterricht in behutsamer Taktik und kontrollierter Wendigkeit, um Titelchancen zu erlangen. Umgekehrt wäre Franks bestes Training nichts wert ohne einen talentierten und eisernen Schützling.

Der Abwehrende und die Angreiferin

Frank und Maggie werden nicht nur den boxerischen Weg gemeinsam gehen. Die Kämpfe, die Atmosphäre, die tragischen bis komischen Nebenfiguren wie Danger (Jay Baruchel), ein notorisch unfähiger Boxschüler (den der Regisseur Eastwood mit großem Respekt behandelt) – das alles ist letztlich pure Allegorie über Menschen, die verloren scheinen, die eine Rettung in einander sehen, die außer dem anderen niemanden haben, die wie Maggie für die Zukunft kämpfen und sich wie Frank ihren Dämonen der Vergangenheit stellen müssen. Selbst die zu Anfang ungewöhnlich detailreichen Off-Erklärungen über das Boxen unterstreichen dies bei näherem Hinsehen: Für die „Wunde, die zu tief am Knochen sitzt und nicht geheilt werden kann“ gilt das genauso wie für die mehrmals wiederholte Behauptung, dass beim Boxen alles rückwärts (eher: gegen das Erwartete) ablaufe. Man weiche nicht vor dem Schmerz aus, sondern gehe in ihn hinein (Frank wird nicht mehr ausweichen können), man bewege den rechten Fuß, wenn man nach links will, und Frank stellt sich halt der Vergangenheit, wenn er mit Maggie in die Zukunft blickt.

Der Weg nach oben

Während der boxerische Weg Maggies gezeichnet wird, schleichen sich ein paar Stereotype in den Film ein – als Sportfilm ist er allenfalls konventionell, was er mit Eastwoods „Invictus – Unbezwungen“ (2009) gemein hat. Es gibt ein paar sehr leichte Siege Maggies, dann ein paar nur scheinbar schwere, und dann den Titelkampf gegen die Ex-Prostituierte Billie „The Blue Bear“ Osterman (Lucia Rijker), die bereits lange zuvor als fiese Sau und unsportliche Brutalo-Kämpferin eingeführt wurde. Wie Billy zu dräuend anschwellender Musik in die Arena einmarschiert, zunächst das Gesicht unter der Kapuze im bedrohlichen Schatten lassend, ist ein wenig dick aufgetragen. Leicht unangenehm zudem, dass sie nicht nur als Deutsche, sondern ausdrücklich als Ostdeutsche bezeichnet wird; ist das nach dem Mauerfall eine weitere Anspielung auf den Kampfmaschinen-Ostblockler à la Ivan Drago aus „Rocky IV – Der Kampf des Jahrhunderts“ (1985)?

Maggie gegen die Ossi-Kampfsau

Gut ist Eastwood hingegen im kleinen Detail. Dass Maggie die Anordnung „inhalieren“ nicht versteht, um ein Nasenbluten mit einem bestimmten Mittel zu stoppen, und dass Frank erst „einatmen“ sagen muss, illustriert unaufgeregter als bei Rockys penetrantem „simple talk“, aus welcher Schicht Maggie kommt. Dies gilt ebenfalls für die Tatsache, dass sie weder Fernseher noch Videorecorder hat, um sich eine künftige Gegnerin anzuschauen – dabei hatte Frank ihr mit dem Video eine besondere Überraschung und Freude bereitet, da Maggie befürchtet hatte, er würde sie als Zauderer, der er meist ist, noch nicht gegen die Betreffende antreten lassen.

Was denn, ein Buch? Er lernt Gälisch

Das Größte ist überhaupt das Rätselraten um Maggies Kampfnamen: Mo Cuishle. Der Begriff stammt aus dem Gälischen, das Frank in seiner Freizeit lernt, er steht auf ihrem ersten Kampfmantel in irischem Grün und mit irischer Harfe. Im Jahre 2004 wäre es recht einfach, die Übersetzung herauszubekommen. Aber wir glauben sofort, dass Maggie es wirklich nicht herausfindet, weil sie niemanden kennt, den sie das fragen könnte, weil sie noch nie in einer Universitätsbibliothek war und noch nicht einmal in einem Internetcafé, vom eigenen Computer ganz zu schweigen. Nein, so eine wie sie, die kommt einfach nicht darauf, so vorzugehen, und wir empfinden sie keinen Moment als dumm. Wohlgemerkt, es wird nicht etwa darüber geredet, dass Maggie all diese Recherchemethoden nicht anwendet. Vielmehr streut Regisseur Eastwood ein winziges Detail („Ich weiß nicht, was das heißt – ich könnte jemanden fragen“), und die Leerstellen, die so ein Satz belässt, darf der Zuschauer selbst füllen. Der Regisseur erweist sich in solchen Winzigkeiten, die nicht alles Denken dem Zuschauer abnehmen und gerade darum vielsagend sind, als gleichermaßen kluger, beiläufig-feiner und warmherziger Figurenzeichner.

Fiesheit kommt vor dem Fall

Beim alles entscheidenden Kampf gestaltet Eastwood die Gegnerin wie gesagt etwas plakativ. Aber immerhin sind die Szenen sehr authentisch, unter anderem deshalb, weil die Rolle an eine echte Boxerin vergeben wurde und Swank selbst hart trainiert hat. Und als es drauf ankommt, stimmt der Erzählfluss dann doch wieder, steigert er sich sogar zu der ultimativen Einbeziehung des Zuschauers. Maggie wird durch einen verbotenen Schlag in die Querschnittslähmung geboxt werden. Doch unmittelbar zuvor hatte ihr Frank geraten, selbst ein bisschen unfair zu sein. Wir sehen, wie sie das in die Tat umsetzt, und wir lachen. Nicht das nette, sondern das schadenfrohe Lachen. Wir sind mit Maggie. Wir sind Maggie. Und weil aus diesem identifikatorischen Lachen urplötzlich größte Tragik erwächst, sind wir es auch, die mit der gleichen Brachialgewalt von den Socken gehauen werden wie Maggie. Derart mit ihr zu Boden gegangen, erleben wir das letzte Drittel des Filmes als besonders zärtlich, tragisch, aber auch von anrührender Schönheit (so dehnbar ist der Begriff Schönheit).

Die Distanz durch die Ringbegrenzung wird nicht bleiben

Zunächst einmal wird klar, warum Maggie eine der besten Frauenfiguren in Eastwoods Werk ist, sie ist nämlich gleichberechtigt. Gelegentlich war es ja so, dass Eastwood-Charaktere zwar etwas von gewissen Frauen lernen konnten, aber dennoch selbst zur Tat schritten, um diese Frauen (und sich selbst) zu retten. Selbst bei einem Mann war das einmal so („Ein wahres Verbrechen“, 1999). Hier nun gibt die Frau nicht nur Denkanstöße, sondern rettet sich auch einmal selbst – sie ist zwar mit Frank symbiotisch verbunden, aber um mit ihrer Familie fertigzuwerden, da braucht sie Frank nicht, da weist sie ihn ausdrücklich aus dem Krankenzimmer. Anschließend schreitet sie verbal zur Tat und knockt noch bewegungsunfähig die ganze Verwandtschaft in der ersten Runde aus, so wie sie es oft mit ihren Gegnerinnen und auch einmal im übertragenen Sinne mit einem Manager gemacht hatte, der sie von Frank abwerben wollte. Frank kommentiert danach passend: „Ich glaube, hier sollte jemand bis zehn zählen.“ Das ist einer der herrlichsten und stärksten Frauenmonologe in einem Eastwood-Film! Vergleichbar ist das nur mit Sondra Locke in dem unterschätzten „Der Mann, der niemals aufgibt“ (1977), in dem sie dem Eastwood-Charakter ebenfalls auf Augenhöhe begegnet und einmal einen schmierigen Polizisten verbal dermaßen außer Fassung bringt, dass es eine Freude ist.

Scrap redet, aber der Hintergrund leuchtet – Maggie kündigt sich an

Maggie weiß bis zum Schluss, was sie will – nicht unter der Apparatemedizin leben. Und so bittet sie Frank um einen letzten Gefallen, nämlich ihrem Leben ein Ende zu setzen. Niemals ist einem Eastwood-Charakter eine „Rettung“ so schwergefallen, niemals musste er so schonungslos offenlegen, wie tief seine Narben wirklich sind. Niemals war er so hilflos und nackt. Wenn der Pfarrer (gerade, wo es zum ersten Mal auf ihn ankäme) ihm etwas stereotyp die Schwere der Sünde verdeutlicht und äußert, dass er dann rettungslos verloren wäre, kann Eastwood nur entgegnen, das sei er jetzt schon. Hier weint Frank, meines Wissens das einzige Mal, dass der Schauspieler Eastwood dies tut. John Wayne, der einiges an Eastwoods Werken auszusetzen hatte, darf sich noch einmal eine Extrarunde im Grabe umdrehen. Doch die Szene ist nicht zu kritisieren und zeigt eindringlich, wie schmerzlich Vergangenheit und Gegenwart für Frank sind.

Echte Partnerschaft – und was für eine Partnerin!

Schon zuvor kommt es zu einer bizarr-schmerzlichen Allianz der Hilfsbedürftigen: Selten bitten Eastwood und der zweite Hauptdarsteller einander um etwas, aber hier bittet erst der noch sichtlich hilflose Frank, die Bürde nicht aufnehmen zu müssen. „Ich kann es nicht“ hat auch der spätere Eastwood in dermaßen intensiver Verzweiflung noch nie sagen müssen. Dann bittet Maggie, die Starke, Frank sehr bewusst um etwas, das sie halt nicht mehr allein tun kann. Da haben wir sie wieder, die Symbiose, das gegenseitige Bitten, bei dem aber doch erahnbar ist, dass sich auch diesmal Maggie durchsetzen wird. Frank wird aus Liebe seine gerade gefundene Tochter wieder loslassen müssen und ihr den letzten Wunsch erfüllen, ruhig, zärtlich, aber schnörkellos, und doch von tiefen Gefühlen durchdrungen. Vorher verrät er ihr, was Mo Cuishle heißt: mein Schatz, aber auch: mein Blut. Fast wie „mein Fleisch und Blut“. Frank wird nicht nur seinen Schatz verlieren, sondern – so deutet das Schlussbild an – im Verborgenen leben müssen (wir vermuten: weil er von der Polizei gesucht wird, denn aktive Sterbehilfe ist eine juristisch heikle Angelegenheit). Doch vielleicht wird Franks wirkliche Tochter erfahren, wie ihr Vater ist, denn der Off-Erzähler entpuppt sich als Scrap, der die Geschichte für Franks Tochter aufgeschrieben hat. Hoffnung, immerhin.

Scrap hat ein Auge auf Maggies Schicksal

Dass das alles eine heftige Sterbehilfe-Diskussion ausgelöst hat, erscheint mir ein bisschen überdimensioniert. Eastwood ist hier wie auch in anderen Filmen viel zu sehr am Individuum interessiert, als dass er sich zu allgemeinen politischen Statements hinreißen ließe. „Ein wahres Verbrechen“ dreht sich eher um zwei Einzelschicksale als um die Todesstrafe, obwohl dort ein Mann in der Todeszelle sitzt. Und bereits „Honkytonk Man“ (1982) und „Space Cowboys“ (2000) handelten von individuellen Entscheidungen, selbstbestimmt in den Tod zu gehen, wie später „Gran Torino“ und vielleicht auch „Erbarmungslos“ (1992), bei dem man das Überleben des Protagonisten als Zwang zum Weiterleben interpretieren kann. „Million Dollar Baby“ unterscheidet sich nur dadurch, dass Maggie ihren Willen nicht mehr ohne Hilfe bekommen kann. Und so fordert sie von Frank den schönsten und schmerzlichsten Liebesbeweis.

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Ein paar Worte zum Ästhetischen: „Million Dollar Baby“ ist von sehr bewusster Farb- und Lichtsetzung. Vieles in diesem Film von Menschen auf der Schattenseite des Lebens befindet sich im Schatten, viele Bilder sind dunkel und weisen den schon erwähnten moderigen Grünstich auf, was die Hinterhoftrostlosigkeit des Ambientes deutlich unterstreicht. Hiermit kontrastiert der hell erleuchtete Einmarsch Maggies beim Titelkampf, gehüllt in den ebenfalls grünen, aber leuchtenden und prachtvollen Umhang. Sie ist da, wo sie immer sein wollte. Nun ja, wenn sie den Kampf gewinnt …

Leuchtend und doch wachsam: Frank und Maggie

Doch die ansonsten kaum prägende kalte Farbe Blau marschiert schon in die andere Ecke: die Gegnerin „Billie The Blue Bear“. An solchen Feinheiten sieht man, dass Fotografie und Farbgestaltung (Kamera: Tom Stern) zwar markant, aber nicht manieriert, sondern immer funktional ausfallen. Alles in allem ein herausragender Film, der höchstens als Boxerfilm (kleine) Schwächen hat. Aber er ist kein Boxerfilm, sondern ein Liebesfilm. Einer der traurigsten und schönsten. Zu Recht vielfach prämiert, 2005 unter anderem mit vier der wichtigsten Oscars: als bester Film, für Regisseur Clint Eastwood, Hauptdarstellerin Hilary Swank und Nebendarsteller Morgan Freeman. Eastwood und Swank hatten zuvor in diesen Kategorien auch die Golden Globes abgeräumt. Der als Hauptdarsteller oscarnominierte Eastwood musste sich Jamie Foxx’ Verkörperung von Ray Charles in „Ray“ (2004) geschlagen geben – er wird es verschmerzt haben. Auch für Paul Haggis’ adaptiertes Drehbuch und den Schnitt blieb es bei Nominierungen. Es ändert nichts an der Klasse von „Million Dollar Baby“.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Clint Eastwood haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Hilary Swank unter Schauspielerinnen, Filme mit Morgan Freeman, Anthony Mackie und Michael Peña in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: 19. Februar 2015 als Blu-ray in der „Award Winning Collection“, 18. April 2013 als Blu-ray im Steelbook, 17. August 2007 als Blu-ray, 4. Oktober 2005 als DVD

Länge: 132 Min. (Blu-ray), 127 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Million Dollar Baby
USA 2004
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch: Paul Haggis, nach einer Kurzgeschichte von F. X. Toole
Besetzung: Hilary Swank, Clint Eastwood, Morgan Freeman, Jay Baruchel, Mike Colter, Anthony Mackie, Michael Peña, Lucia Rijker, Brían F. O’Byrne, Margo Martindale, Riki Lindhome, Benito Martinez, Bruce MacVittie
Zusatzmaterial: „Zum Kämpfen geboren“ „Die Produzenten – Runde 15“, Gesprächsrunde mit James Lipton sowie Hilary Swank, Clint Eastwood und Morgan Freeman, Dokumentation „Clint Eastwood – Der Mann, der niemals aufgibt“, B-Roll, TV-Spots, Trailer, Wendecover
Label/Vertrieb: Studiocanal Home Entertainment

Copyright 2023 by Tonio Klein

Szenenfotos & gruppierte Packshots: © Studiocanal Home Entertainment

 

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Johnny Handsome – Der schöne Johnny: Keiner kann aus seiner (Gesichts-)Haut

Johnny Handsome

Von Tonio Klein

Thriller // Johnny (Mickey Rourke) wird zynisch „Johnny Handsome“ genannt, weil er seit seiner Geburt in Gesicht und Stimme entstellt ist. In seinen nicht zimperlichen Kreisen schätzt man aber immerhin seine Qualitäten als professioneller Räuber. Was bei einem Überfall auf einen Juwelier nichts daran ändert, dass Sunny (Ellen Barkin) und Rafe (Lance Henriksen) Johnny und dessen Freund übers Ohr hauen sowie Letztgenannten erschießen. Im Gefängnis schließt sich Johnny dem Programm eines Chirurgen (Forest Whitaker) und einer Ordensschwester an, die darauf hoffen, die Aufhebung der äußerlichen Stigmatisierung gehe auch mit einer Reinigung der Seele einher, sodass Johnny nach jeder Menge operativer Eingriffe tatsächlich seine Entstellung loswird, auf dass die Resozialisierung gelinge. Nachdem sein Tod fingiert wird und Johnny unter neuem Namen Bewährung und einen Job als Hafenarbeiter bekommt, scheint er sich tatsächlich zu fangen und verliebt sich sogar in Donna (Elizabeth McGovern), eine Kollegin aus der Lohnbuchhaltung. Doch obwohl sie diese Liebe erwidert, will Johnny sich und seinen Freund rächen, und da ist es praktisch, dass Sunny und Rafe ihn nicht erkennen können. Aber hart auf den Fersen ist ihm nach wie vor Lieutenant Drones (Morgan Freeman), der Johnny schon lange kennt und nicht an seine Wandlung glaubt …

Action, Western und Film noir

Dieser Film ist vieles in einem. Der als Action-Regisseur bekannte Walter Hill lässt am Anfang und am Ende den Actionthriller mit gewissen Anleihen an den Western aufblitzen: Ein Mann „tut, was er tun muss“. Der ewige Outlaw. Die harten Kerle mit blitzschnellem und superprofessionellem Finger am Abzug, die ohne zu zögern wuchtig ganze Magazine in was auch immer entleeren. Brutal und archaisch.

80er oder Noir? Rafe und Sunny

Gleichzeitig (wie ebenfalls in Hills „Last Man Standing“, 1996) die Verwundbarkeit, wenn der (Anti-)Held recht roh und ohne Aussparung der blutigen Details zusammengeschlagen wird. Darüber hinaus hat der Film auch in der Ruhe – wenngleich es deren im Mittelteil vielleicht etwas zu viel gibt – seine Kraft. Da ist er eine an den Film noir erinnernde Geschichte von der Schattenseite des Lebens, und so finden wir typische Noir-Orte abseits der Glitzerwelt. Mein Gott, das Ding spielt in New Orleans, was kann man da an Touristischem unterbringen. Hiervon fast nichts; nur (vermutlich bewusst und also geschickt gesetztes) Aufblitzen der Möglichkeiten, wenn etwa die typischen Pferdekutschen das Stadtbild verschönern. Und am Ende der berühmte Friedhof der Stadt – ausgerechnet in einem wahrhaft morbiden Finale. Dazwischen die hässlichen Seiten, der eigentlich ortlos aussehende Hafen, die nassen, kalten, dunklen Straßen, die schmuddelige Wohnung und der Knast als Orte Johnnys, eine kaum minder schmierige Table-Dance-Bar mit dem im Neo-noir-Genre typischen Neonlichter-Farbenrausch, der keine Behaglichkeit verheißt. Zudem inhaltlich wie stilistisch ein paar wunderbare nostalgische Reminiszenzen, und seien es Kleinigkeiten wie nahtlose Überblendungen von einer zur anderen Bildseite – dies war übrigens eher im Pre-Code-Film der 1930er-Jahre als im Film noir Usus. Ellen Barkin als optisch zwar sowas von 1980er, aber charakterlich archetypische Femme fatale. Fragt nicht nach ihrer Seele! Sie hat keine. Der anklagende Zynismus wird noch dadurch aktualisiert, dass – was in den 1940er-Jahren die Zensur verboten hätte – der Polizist ebenfalls in höchstem Maße zynisch ist und unethisch handelt, auch wenn wir uns zu Beginn nie ganz sicher sind. Übrigens eine große Rolle für den nicht mehr jungen, aber noch am Anfang seines großen Durchbruchs stehenden Morgan Freeman, dessen joviales Charisma immer auch etwas Rätselhaft-Bedrohliches hat.

Schöner Arbeiter ohne sicheren Hafen

Filmnostalgisch (und von Hill sicherlich bewusst so gestaltet) ist auch, dass das Drama aus sich heraus funktionieren muss, weil es eher allegorisch statt logisch ist. Klappt das wirklich mit so einer Operation? Handeln die Gangster nicht mitunter reichlich unmotiviert und/oder tölpelhaft? Ist der Racheplan Johnnys angesichts seiner Professionalität nicht auf unglaubwürdige Weise planlos? Ja, das alles kann man so sehen, aber dahinter steckt eine bestechende Reflexion, mit der Hill den Film noir noch weiter in Richtung Fatalismus führt. Niemand kann aus seiner Haut. Zudem ist das Operations-Motiv vielleicht eine Anspielung auf „Die schwarze Natter“ (1947) mit Humphrey Bogart, dem Hill auch als Co-Produzent mit „You, Murderer“ (1995) aus „Geschichten aus der Gruft“ Tribut zollt. Das neue Gesicht als neue Identität als neue Seele? Auch wenn ich es Bogey immer gegönnt habe, dass er am Ende mit Lauren Bacall glücklich vereint ist – hier wird das Dunkle mehr als nur eine „Passage“ auf einem guten Weg sein, so viel sei verraten.

Die reine Frau …

Fatalismus, Zynismus, kaputte Typen, ein Verlierer, Zwanghaftigkeit, die Unmöglichkeit oder zumindest große Schwierigkeit, autonome Entscheidungen zu fällen und sich so auch zum Guten wenden zu können. Das Gegenteil des amerikanischen Traumes, nach dem jeder seines Glückes Schmied sei. Alles klassische und hier noch radikalisierte sowie auf die Ebene der Ordnungshüter ausgedehnte Noir-Themen. Leider hat bei mir die Empathie an einer Stelle aber kläglich versagt, nämlich bei der Figur der Donna. Vielleicht ein bewusst gesetzter Name, Donna als „Frau als solche“, als Kurzform von Madonna, als das weibliche Gute, das Johnny erlösen könnte. Aber doch nicht so! Hier ist der Film mit seinem Versuch, zeitlos-archetypisch und gleichzeitig im Sinne seiner Entstehungszeit modern zu sein, gründlich misslungen. Gott, ist die Gute eine Anhäufung von potthässlichen Mode- und Stylingsünden der ausgehenden 1980er-Jahre! Die gelockte, nach hinten gesteckte, ansatzweise „Vokuhila“-Frisur, der breite Gürtel, der kreuzbrave Blick, die ebenfalls kreuzbrave Kleidung und Schminke und dann diese hässliche geränderte Brille, deren Gläser fast bis zur Nasenspitze runterreichen. Hill treibt das Klischee auf die Spitze, nach dem weibliche Gute allzu bieder aussehen (und selbstverständlich, anders als Barkin, nicht blond sind) und auch so wirken. Um der Gerechtigkeit und der Höflichkeit Willen ist eines klarzustellen: Elizabeth McGovern, die die Donna spielt, ist keinesfalls eine hässliche Frau. Aber ihre Figur ist hässlich gestaltet, und das ist schade, weil ihr Charakter tatsächlich Größe beweist, etwa, wenn Donna ganz genau spürt, dass Johnny Hilfe braucht und sie nicht aus Überzeugung abserviert, sondern weil er sie nicht in seine Probleme hineinziehen will. Kann eine Gute nicht auch einmal flippig, sexy oder beides sein? Muss man eine so starke Frau mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (mit Ausnahme eben des Drehbuchs) wie ein Supermauerblümchen gestalten?

… und der gebrochene Mann

Von dieser – allerdings in Handlung und Psychologie wichtigen – Figur abgesehen (immerhin die einzige Hoffnung für Johnnys Lebenswandel, das ahnen wir sofort) klappt das mit der Empathie aber recht gut, und dazu trägt außer den bereits erwähnten erzählerischen und gestalterischen Mitteln wesentlich das Spiel Mickey Rourkes bei. Schon in der Anfangsphase, als ihm die tonnenschwere Maske nuancierte Mimik unmöglich macht, hat dieser Mann eine traurig-wuchtige Präsenz, wenn er beispielsweise in der ersten Szene als einsamer Wolf durch die Straßen stakst. Ein Koloss, aber auch erkennbar Außenseiter; ein Mann, dessen Äußeres wie Inneres unter dem brüchigen Schutzpanzer der Lederjacke immerfort bersten zu möchten scheint. Und schon da ein Nachdenklicher, der nicht, wie Rourke im Charles-Bukowski-Drama „Barfly – Szenen eines wüsten Lebens“ (1987), sein Method Acting im extrovertierten De-Niro-Stil einsetzt, sondern so, wie es die Rolle verlangt. Ein Gewinn ist, dass das Drehbuch ihm nicht nur das Gesicht, sondern auch die Stimmbänder in Mitleidenschaft gezogen hat. Lange dauert es, bis Johnny erstmals spricht, und wir hören sofort, warum – diese nasale, unbeholfene, abgesehen von der Tiefe fast babyhafte Stimme verstärkt Mobbing und Stigmatisierung nur noch. Danach spüren wir in jeder Szene, wie sehr Johnny sich überlegt, ob er das Wort ergreifen sollte, und wie er sich scheut. Beispielsweise in der Szene, in der ein Teil der Operationen schon stattgefunden hat und der Arzt Johnny – mühsam, aber erfolgreich – mehr Details aus seinem Leben entlockt.

Kündet die Säule von Johnnys Schicksal?

Als tatsächlich schöner Johnny stellt er dann den Widerspruch zwischen dem Äußeren und dem immer noch bedächtigen, zaghaften, verhaltenen Auftreten als Schwierigkeit dar, dem geänderten Äußeren auch das geänderte Innere folgen zu lassen. Neben Schauspielkunst trägt dazu bei, dass Rourke zwar ein verwegen-cooles Gesicht hat, aber ein im makellosen Sinne schönes Gesicht nie hatte, auch nicht vor seinen Box-Verletzungen, die er sich ein paar Jahre nach diesem Film zuzog. Leichte Pockennarben sowie eine handlungsbedingte Ungepflegtheit sind jederzeit zu sehen. Und gerade daraus schöpft der Film eine Stärke, denn das ist immer noch weit mehr als das, was Johnny jemals erwarten konnte. „Ich fühle mich immer noch, als wenn ich eine Maske trüge“, bringt er es nach seinem ersten Blick in den Spiegel nach finaler Wiederherstellung des Gesichts auf den Punkt. Genau darum geht es – dito, wenn Rafe und Sunny Johnny am Ende mit Fäusten und einem Messer „wieder sein altes Gesicht verpassen wollen“: Was ist Johnnys „wahre Haut“, was ist seine „Maske“? Wir wissen es nicht. Aber wir ahnen es.

Johnnys Grinsen wird ihn nicht schützen

Ein weitgehend guter bis hervorragender Film, wenngleich mit gewissen Längen im Mittelteil und einer teils verunglückten Gestaltung einer zentralen Frauenfigur. Ansonsten herrlich abgründig und mit einem grandiosen Mickey Rourke. Die Blu-ray liefert wie gewohnt ein etwas schärferes Bild als die auch schon ordentliche DVD von Arthaus/Studiocanal; auf einer zweiten Scheibe finden sich verschiedene Extras. Warum aber ein ums andere Mal in Mediabooks noch eine DVD mit dem Hauptfilm enthalten ist? Wer braucht die? Nette Menschen können sie natürlich verschenken, aber 2021 sei eher ein Jahr des Aufbruchs als eines des Weges, den Johnny gehen muss.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Walter Hill haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Ellen Barkin unter Schauspielerinnen, Filme mit Morgan Freeman, Lance Henriksen, Mickey Rourke und Forest Whitaker in der Rubrik Schauspieler.

Eine Figur mit Licht und Schatten

Veröffentlichung: 8. Oktober 2020 als Mediabook (2 Blu-rays & DVD), 11. September 2001 als DVD

Länge: 93 Min. (Blu-ray), 89 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Johnny Handsome
USA 1989
Regie: Walter Hill
Drehbuch: Ken Friedman, nach einem Roman von John Godey
Besetzung: Mickey Rourke, Ellen Barkin, Elizabeth McGovern, Morgan Freeman, Forest Whitaker, Lance Henriksen
Zusatzmaterial: Trailer, Exklusives Interview mit Walter Hill, Featurettes, Bildergalerie, Booklet
Label/Vertrieb Mediabook: Koch Films
Label/Vertrieb DVD: Kinowelt (Studiocanal)

Copyright 2020 by Tonio Klein

Szenenfotos & Packshots: © 2020 Koch Films

 
 

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