American Gangster
Gangsterdrama // Er war angeblich verantwortlich für die „Cadaver Connection“, mittels welcher der Legende nach Heroin in Särgen mit im Vietnamkrieg gefallenen US-Soldaten aus Südostasien in die USA geschmuggelt wurde: Frank Lucas (1930–2019) gehörte in den 60er- und 70er-Jahren zu den mächtigsten Drogengangstern von New York City. Zur Strecke brachte ihn unter anderem der Kriminalbeamte Richie Roberts (* 1937). In Ridley Scotts „American Gangster“ werden die beiden von zwei Hollywood-Schwergewichten verkörpert: Der zweifache Oscar-Preisträger Denzel Washington („Glory“, „Training Day“) ist als Gangsterboss zu sehen, Oscar-Preisträger Russell Crowe („Gladiator“) gibt den hartnäckigen Ermittler.
„American Gangster“ beginnt mit einem kaltblütigen Mord. Ein Mann wird in irgendeiner Gasse mit Benzin übergossen und angezündet. Anschließend jagt ihm Frank Lucas ein paar Kugeln in den Leib. 1968 ist er die rechte Hand von Ellsworth „Bumpy“ Johnson (Clarence Williams III). Als der Harlem-Mobster einem Herzinfarkt erliegt, beginnt Lucas’ große Zeit. Weil er hört, dass die GIs in Vietnam mehr und mehr zu Heroinsüchtigen werden, weil das Rauschgift dort billig und rein ist, reist er höchstpersönlich zum Einkaufen nach Südostasien. Sein „Blue Magic“ wird auf den Straßen von New York City und darüber hinaus zum Verkaufsschlager.
Wer nicht korrupt ist, wird geächtet
Der Cop Richie Roberts muss sich derweil mit anderen Sorgen herumplagen. Während er an der Abendschule Jura studiert, ermittelt er auf den Straßen von New Jersey gegen Drogenkriminelle. Als ihm fast eine Million Dollar Rauschgiftgeld in die Hände fallen, überredet er seinen Partner Javier J Rivera (John Ortiz), es offiziell abzugeben, statt es zu behalten. Das macht die beiden unter ihren einem dreckigen Nebenerwerb nicht abgeneigten Kollegen zu Parias. Rivera wendet sich daraufhin selbst den Drogen zu. Roberts hingegen sieht einem Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Frau Laurie (Carla Gugino) um den gemeinsamen Sohn Michael (Skyler Fortgang) entgegen (der echte Roberts hatte allerdings kein Kind). Gleichwohl lässt er sich von seinem Boss Captain Lou Toback (Ted Levine) verpflichten, den bundesweit mit neuer Energie aufgenommenen Kampf gegen die Drogen zu verstärken und die Essex County Narcotics Squad aufzubauen und zu leiten. Es dauert eine Weile bis Roberts auf den mittlerweile immens erfolgreichen, aber unauffällig agierenden Frank Lucas stößt.
Bis zu diesem Aufeinandertreffen inszeniert Ridley Scott sowohl den Aufstieg des Drogengangsters als auch die Ermittlungsarbeit des Cops in aller Seelenruhe mit viel Fokus auf starken Dialogen und narrativ in einer sehr homogenen Tonalität, die sich auch in zurückhaltender Farbgebung niederschlägt. Über dem Geschehen liegt ein konstanter Spannungsbogen, den nur gelegentlich kurze Actionspitzen unterbrechen. Alles wirkt sehr durchdacht, nichts dem Zufall überlassen. Dabei zeichnet der Regisseur den Gangster fast sympathischer als den Cop, auch wenn Frank Lucas einige üble Taten begeht. Das erweckt den Eindruck, es mit einem geschönten Biopic zu tun zu haben, zumal der echte Frank Lucas bei den Dreharbeiten permanent als Berater anwesend war (der echte Richie Roberts wohl auch gelegentlich). Das wertet „American Gangster“ aber keineswegs ab, der Film verströmt zu jedem Zeitpunkt die Atmosphäre großen Kinos, und so soll es auch sein. Doku-Dramen haben ihre Berechtigung, aber hier wollen wir tief in Gangstermythen eintauchen.
Von Scott über Fuqua und Berg zurück zu Scott
„American Gangster“ sollte ursprünglich von Antoine Fuqua („Shooter“) inszeniert werden, für die Rolle des Cops hatte Benicio del Toro einen Vertrag unterschrieben. Doch Fuqua wurde Anfang Oktober 2001 wenige Wochen vor Drehbeginn aufgrund von „kreativer Differenzen“ gefeuert. Danach war Peter Berg („Deepwater Horizon“) für den Regiestuhl im Gespräch, doch die Produktionsfirma Universal legte das Projekt vorerst auf Eis, bis 2006 Ridley Scott („Gladiator“) übernahm. Der war schon zu Beginn der Projektplanung als Regisseur vorgesehen gewesen, war aber mit den Vorbereitungen für „Königreich der Himmel“ (2005) ausgelastet.
Gedreht wurde unter anderem an vielen Originalschauplätzen in allen fünf Stadtbezirken (Boroughs) von New York City, was sich in zahlreichen Anachronismen niederschlug. Autos, die zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht existierten, moderne Straßenschilder und Firmenlogos, Graffiti und Tätowierungen – ob solcher Fehler frohlockt das in Zeitkolorit geübte Auge mit diebischer Schadenfreude. Womöglich waren Ridley Scott diese Aspekte im Detail auch egal, denn es sind doch recht viele Anachronismen geworden.
Herausragend besetzt
„American Gangster“ ist bis in die Nebenrollen gespickt mit namhaften (oder später namhaften) Darstellern und Darstellerinnen. Oscar-Preisträger Cuba Gooding Jr. („Jerry Maguire“) ist als Gangster Leroy „Nicky“ Barnes zu sehen, Idris Elba („Mandela – Der lange Weg zur Freiheit“) spielt ebenfalls einen Gangster – einen Konkurrenten von Frank Lucas. Der Oscar-nominierte Chiwetel Ejiofor („12 Years a Slave“) spielt Lucas’ Bruder Huey, der ebenfalls Oscar-nominierte Josh Brolin („Milk“) einen korrupten Cop. Mit dem Rapper Common spielt sogar ein späterer Oscar-Preisträger Lucas’ Bruder Turner – den Academy Award erhielt er 2015 für den Song „Glory“ zum Film „Selma“. Armand Assante („Der Untergang der Cosa Nostra“) ist als italienischer Mobster zu sehen, Norman Reedus („The Walking Dead“) schließlich in einer kurzen Szene als Detective im Leichenschauhaus.
Nicht zu vergessen Ruby Dee! Die am 27. Oktober 1922 in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio Geborene wurde für ihre Rolle als Lucas’ Mutter sogar für den Oscar als beste Nebendarstellerin nominiert (auch das Szenenbild wurde für einen Academy Award nominiert). Die Trophäe ging an Tilda Swinton für „Michael Clayton“, und angesichts von Dees recht wenigen Szenen und der geringen Bedeutung der Rolle für die Handlung kam schon die Nominierung überraschend.
Ruby Dee und Ossie Davis
Ruby Dee sammelte vor ihrer Karriere beim Film Schauspielerfahrung am Theater. 1948 heiratete sie den Schauspieler Ossie Davis, den sie bei einer gemeinsamen Broadway-Produktion kennengelernt hatte. Die beiden bekamen drei Kinder und blieben bis zu Davis’ Tod im Jahr 2005 ein Ehepaar. Nach ersten Rollen im Film spielte sie 1959 – erneut am Broadway – eine Hauptrolle in „A Raisin in the Sun“ von Lorraine Hansberry, dem ersten Bühnenstück einer afroamerikanischen Autorin am Broadway. Dee übernahm ihren Part auch in der zwei Jahre später erfolgenden Verfilmung, in Deutschland unter dem Titel „Ein Fleck in der Sonne“ in den Kinos. Mit Jules Dassin schrieb sie das Drehbuch zu seinem Politdrama „Black Power“ (1968), in welchem sie ebenfalls eine Hauptrolle übernahm.
Als bedeutsamer als ihre Schauspiellaufbahn empfand Ruby Dee stets ihren Einsatz für die Bürgerrechte. So waren sie und ihr Ehemann am 28. August 1963 am Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit dabei, moderierten die Ansprachen bei der Kundgebung. Sie stand in Kontakt zu Martin Luther King und war mit Malcolm X befreundet. 2001 verlieh die US-Schauspielergewerkschaft ihr und Ossie Davis für das gemeinsame Lebenswerk den Screen Actors Guild Life Achievement Award. Ruby Dee starb am 11. April 2014 im Alter von 91 in New Rochelle im US-Staat New York. Am 27. Oktober 2022 wäre sie 100 Jahre alt geworden.
20 Minuten längere Langfassung
Schon die Kinofassung hat mit zweieinhalb Stunden eine stattliche Länge, doch für den Heimkinomarkt entstand sogar ein fast 20 Minuten längerer Extended Cut, der das Geschehen gut ergänzt – Ridley Scott fällt hinterher ja gern noch etwas ein, das er an den Kinofassungen seiner Filme verändern möchte. Wer sich im Detail für die Unterschiede beider Fassungen interessiert, kann den Schnittbericht zurate ziehen. „American Gangster“ erreicht nicht ganz die Intensität der Larger-than-Life-Gangster-Epen wie Martin Scorseses „GoodFellas – Drei Jahrzehnte in der Mafia“ (1990) und Francis Ford Coppolas „Der Pate“-Trilogie (1972/1974/1990), hat sich seinen Platz als Klassiker in der Riege der großen Gangsterfilme aber redlich verdient.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Ridley Scott haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Ruby Dee und Carla Gugino unter Schauspielerinnen, Filme mit Armand Assante, Josh Brolin, Russell Crowe, Chiwetel Ejiofor, Idris Elba, Cuba Gooding Jr., Ted Levine, Norman Reedus und Denzel Washington in der Rubrik Schauspieler.
Veröffentlichung: 24. Oktober 2019 als UHD Blu-ray (inkl. Blu-ray), 23. Oktober 2008 als Extended Edition Blu-ray, 27. März 2008 als 2-Disc Extended Collector’s Edition Steelbook (2 DVDs) und Extended Edition DVD (alle Editionen mit Langfassung und Kinofassung)
Länge: 176 Min. (Blu-ray, Langfassung), 157 Min. (Blu-ray, Kinofassung), 150 Min. (DVD, Kinofassung), 169 Min. (DVD, Langfassung)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a. (Langfassung nur Originalton)
Untertitel: Deutsch, Englisch, Türkisch u. a.
Originaltitel: American Gangster
USA/GB 2007
Regie: Ridley Scott
Drehbuch: Steven Zaillian, nach dem Artikel „The Return of Superfly“ von Mark Jacobson
Besetzung: Denzel Washington, Russell Crowe, Chiwetel Ejiofor, Josh Brolin, Lymari Nadal, Ted Levine, Ruby Dee, Carla Gugino, Roger Guenveur Smith, John Hawkes, RZA, Yul Vazquez, Malcolm Goodwin, Armand Assante, Cuba Gooding Jr., Ruben Santiago-Hudson, Skyler Fortgang, John Ortiz, Idris Elba, Common, Norman Reedus, Clarence Williams III
Zusatzmaterial (variiert je nach Edition): Audiokommentar von Regisseur Ridley Scott und Drehbuchautor Steven Zaillian, unveröffentlichte Szenen (9 Min.), alternativer Anfang, Prozessakten (25 Min.), „Gefallenes Imperium – Das Making-of von American Gangster“ (78 Min.), „Enthüllung der Vergangenheit – Der echte Frank Lucas und Richie Roberts“ (5 Min.), „Dateline NBC – Erste Aufnahme von American Gangster“ (22 Min.), „Hip Hop Infusion Featuring Common und T.I.“ (5 Min.), Musikvideos „Do You Feel Me“ (Remix) von Anthony Hamilton feat. Ghostface Killah (3 Min.) und „Blue Magic“ von Jay-Z (4 Min.), Kinotrailer
Label/Vertrieb: Universal Pictures Germany GmbH
Copyright 2022 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & gruppierte Packshots: © 2008 Universal Pictures Germany GmbH