Possessor
Kinostart: 1. Juli 2021
SF-Horrorthriller // Eine Frau (Gabrielle Graham) sticht sich eine per Kabel an einem Apparatur befestigte dicke Nadel in den Kopf und setzt das Gerät in Gang. Es scheint etwas in ihr auszulösen, denn sie lächelt, beginnt aber kurz darauf zu schluchzen. Sie begibt sich zu einer Party in einem Hotel. Dort begeht sie unter den Augen der entsetzten Gäste eine monströse Bluttat.
Mord aus sicherer Entfernung
Szenenwechsel: Tasya Vos (Andrea Riseborough) schreckt hoch, ihr wird eine verkabelte Kopfbedeckung abgenommen. In der Folge stellt sich heraus, dass sie in der Lage ist, mit moderner Technik das Bewusstsein anderer Menschen zu übernehmen, denen zuvor als Empfänger ein Implantat eingepflanzt wurde. Auf diese Weise führt sie in sicherer Entfernung Mordaufträge aus. Tasyas Chefin Girder (Jennifer Jason Leigh) leitet offenbar ein Killerkommando, und Tasya ist ihr bestes Pferd im Stall. Diese führt von ihrem Ehemann Michael (Rossif Sutherland, Sohn von Donald) und Sohn Ira (Gage Graham-Arbuthnot) entfremdet ein Doppelleben, und auch die „Seelenwanderung“ geht nicht spurlos an ihr vorüber.
Trotz Tasyas angegriffenem Zustand lässt sie sich auf einen überaus lukrativen Auftrag ein: den Mord an dem reichen Unternehmer John Parse (Sean Bean). Dafür muss sie ins Bewusstsein von Colin Tate (Christopher Abbott) schlüpfen, der mit Parses Tochter Ava (Tuppence Middleton) verlobt ist. Die Mission läuft gehörig aus dem Ruder.
Von David Cronenbergs Sohn Brandon
Regisseur und Drehbuchautor Brandon Cronenberg zeigt in seinem zweiten Langfilm nach „Antiviral – Setz dir einen Schuss Berühmtheit“ (2012), dass er sich die Body-Horror-Bestandteile der Arbeiten seines Vaters David Cronenberg („Die Fliege“) sehr genau angeschaut hat. Ein Messer dringt in einen Hals ein, ein Schürhaken in einen Mund und ein Auge – die kurzen Gewaltspitzen sind drastisch und schmerzhaft anzuschauen. Dieses sehr körperliche Kino zeigt sich auch in expliziter Darstellung des Geschlechtsakts. Gewalt und Sex fügen sich aber gleichermaßen adäquat ins Geschehen ein. Beides wirkt nicht ausbeuterisch, sondern intensiv, und diese Intensität braucht es auch, weil das Science-Fiction-Element der Bewusstseins-Wanderung in einen anderen Körper eines Gefühls der Nähe bedarf.
Diese Gewalt dringt in eine überaus kultivierte Atmosphäre ein, von Cronenberg in entsprechendem Setdesign angemessen in Szene gesetzt, vom mörderischen Prolog bis zum durchaus schockierenden Finale. Die Brutalität verdeckt dabei keineswegs das psychologische Moment von „Possessor“; das Eindringen in den Kopf eines anderen Menschen bedeutet nicht zwangsläufig, dass dieser völlig ausgeschaltet ist. Mehr will ich dazu aber nicht verraten. Jedenfalls testet „Possessor“ mentale und physische Grenzen aus und hinterlässt bleibenden Eindruck.
Vom Sundance zum Sitges
Seine Weltpremiere feierte „Possessor“ im Januar 2020 beim Sundance Film Festival im US-Staat Utah. Anschließend war das Werk bei weiteren Festivals zu sehen, darunter im September beim Fantasy Filmfest, im Oktober beim Festival des fantastischen Films im katalanischen Sitges, wo es die Preise für den besten Film und die beste Regie gewann. Die flächendeckende Kinoauswertung stand im Schatten der Corona-Pandemie. In den USA ist „Possessor“ fürs Heimkino in zwei Schnittfassungen erschienen, über deren detaillierten Unterschiede der Schnittbericht Aufschluss gibt. Die mir vorliegende Unrated-Fassung gibt es nur in der UHD-Blu-ray- und Blu-ray-Edition zu genießen, immerhin auf beiden Discs, während die DVD mit der um 44 Sekunden kürzeren R-Rated-Fassung vorliebnehmen muss. Bei den Kürzungen handelt es sich um Gewaltspitzen und etwas deutlichere Sexualität.
Wermutstropfen fürs deutsche Kinopublikum: Der hiesige Filmverleih Kinostar bringt lediglich die R-Rated-Fassung in unsere Lichtspielhäuser. Die FSK vergab dafür eine Freigabe ab 18 Jahren, immerhin ohne weitere Schnittauflagen. Welches Label sich die Heimkino-Auswertung sichern wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt unbekannt, somit ebenso, ob versucht werden wird, die Unrated-Fassung hierzulande zu veröffentlichen. Da die FSK fürs Heimkino strengere Kriterien anlegt, wird das schwer genug fallen.
Dem Vater müsste es gefallen
Mit „Possessor“ beweist Brandon Cronenberg großes Talent. Sein Papa David kann stolz auf ihn sein und ist es vermutlich auch. Bleibt zu hoffen, dass es nicht wieder acht Jahre bis zu einem Nachfolgefilm dauert wie nach Brandon Cronenbergs Langfilm-Debüt.
Nachtrag August 2023: Fürs Heimkino hat sich das feine Label Turbine des SF-Horrorthrillers angenommen und „Possessor“ unter anderem als Mediabook mit UHD Blu-ray und Blu-ray sowie als Mediabook mit Blu-ray und DVD veröffentlicht. Wer das Label kennt, weiß: Damit macht man nichts falsch. Angefangen bei den Tonformaten Dolby Atmos und DTS 2.0 für beide Sprachfassungen (auf der DVD sind es Dolby Digital 5.1 und Dolby Digital 2.0). Allein technisch ist an den Editionen schon mal überhaupt nichts auszusetzen. Im Bonusmaterial überzeugen die drei Featurettes mit einer Gesamtlänge von 36 Minuten. Herzstück des Zusatzmaterials ist allerdings ein physisches: das Booklet mit satten 68 Seiten. Autor Stefan Jung lässt sich in seinem Text „Der blutrote Schmetterling – Körper/horror, Spiegelungen und Metamorphosen in Brandon Cronenbergs POSSESSOR“ in aller Ausführlichkeit über diverse Elemente und Aspekte des Films aus. Das hat hohes Niveau, auch und gerade im analytischer Hinsicht, wie wir es von Jung kennen, und rechtfertigt allein schon den Aufpreis des Mediabooks.
Von den beiden Covervarianten des Mediabooks mit Blu-ray und DVD ist allerdings eine bereits nicht mehr lieferbar, was auch für das Mediabook mit UHD Blu-ray und Blu-ray und für ein parallel veröffentlichtes Steelbook mit UHD Blu-ray und Blu-ray gilt. Das Steelbook nur mit Blu-ray ist weiterhin lieferbar, ebenso die Blu-ray und die UHD Blu-ray mit Blu-ray im herkömmlichen Softcase.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Brandon Cronenberg haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Jennifer Jason Leigh und Andrea Riseborough unter Schauspielerinnen, Filme mit Sean Bean in der Rubrik Schauspieler.
Veröffentlichung: 4. August 2023 als Blu-ray, 3. Februar 2023 als UHD Blu-ray, 11. Februar 2022 als Limited 2-Disc Mediabook (UHD Blu-ray & Blu-ray), Limited 2-Disc Mediabook (Blu-ray & DVD, 2 Covermotive), UHD Blu-ray im Steelbook (inkl. Blu-ray) und Blu-ray im Steelbook
Länge: 104 Min. (Blu-ray), 100 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Possessor
KAN/GB 2020
Regie: Brandon Cronenberg
Drehbuch: Brandon Cronenberg
Besetzung: Andrea Riseborough, Christopher Abbott, Jennifer Jason Leigh, Tuppence Middleton, Gabrielle Graham, Hanneke Talbot, Matthew Garlick, Daniel Park, Hrant Alianak, Rachael Crawford, Rossif Sutherland, Gage Graham-Arbuthnot, Kathy Maloney, Megan Vincent, Danny Waugh
Zusatzmaterial: Featurettes mit den Filmemachern und Schauspielern: „Identitätskrise über die Charaktere und Psychologie“ (14:39 Min.), „Eine überhöhte Welt über den Look“ (10:27 Min.), „Die Freude am Praktischen über die Spezialeffekte“ (12:08 Min.), 3 entfernte Szenen (8 Min.), deutscher Trailer, internationaler Teaser, 2 US-Teaser, US-Trailer, nur Blu-ray: Wendecover, nur Mediabooks: 68-seitiges Booklet mit Text „Der blutrote Schmetterling“ von Stefan Jung
Trailer aus Deutschland und USA
Verleih: Kinostar
Label Vertrieb: Turbine Medien GmbH
Copyright 2021 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & Plakat: © 2021 Kinostar, gruppierte Packshots: © 2022/2023 Turbine Medien GmbH