Mystic River
Von Tonio Klein
Krimidrama // „Der Mann war der Junge, der den Wölfen entkommen war. (…) Ich muss lange schlafen, damit der Junge wieder im Wald verschwindet.“ Der gramgebeugte Dave Boyle (Tim Robbins zu Recht oscargekrönt) trägt dies seinem zehnjährigen Sohn vor, in einem Bild von beklemmender Intensität, in dem Clint Eastwoods Kameramann Tom Stern (zu Unrecht nicht mal oscarnominiert) meisterhaft die Schatten als Dämonen der Figur die Oberhand gewinnen lässt.
Kopfkino eines zerstörerischen Verbrechens
Drei Jungs wachsen in einem prekären Viertel in Boston auf, einer steigt einmal in das Auto zweier falscher Polizisten, in Wirklichkeit Kinderschänder. Es ist Dave (Cameron Bowen), später gespielt von Tim Robbins, dem wir in jeder Sekunde ansehen werden, wie er das verarbeitet hat – schlecht bis gar nicht. Dabei wird es um alle drei gehen. Schon die Sequenz mit den Kinderdarstellern lässt Dave als den Schüchternsten und Jimmy Markum (Jason Kelly) als den Forschesten erscheinen. Und die Sequenz zeigt an einem anderen Detail, wessen Leben bis zum Ende kaputt sein wird: Jimmy, Dave und der Dritte, Sean Devine (Connor Paolo) wollen mit einem Stöckchen ihre Namen in frisch gegossenem Zement verewigen. Dave zögert am längsten, und ihn hindern schließlich die vermeintlichen Polizisten daran, sein Werk zu vollenden. „Jimmy, Sean, Da“ – so wird es nun in Stein gemeißelt sein, für die Ewigkeit. Was für ein Anfang, zumal dem Regisseur Clint Eastwood das ungeheuer Beklemmende ganz ohne direkte Drastik der Bilder gelingt. Schnell wechseln Auf- und Abblenden im Sinne einer Montage. Schon wenn der kleine Dave in einem Verlies eingekerkert ist, sich die Tür öffnet und er „Nein – nicht schon wieder“ wimmert, möchte man weinen. Obwohl natürlich ein einmaliger Missbrauch bereits schlimm genug ist, braucht Eastwood nur diese sekundenkurze Szene und die letzten drei der vier Worte, damit sich jeder Zuschauer die ungeheure Pein des Jungen selbst ausmalen kann. Das wirkt!
Die Vergangenheit und die Gegenwart
Jahre später: Sean (nun Kevin Bacon) ist Polizist und lebt nicht mehr im Viertel, Jimmy (nun Sean Penn, zu Recht oscargekrönt) ist Ex-Knacki und Kioskbetreiber, der aber noch zu einem sehr impulsiven Wesen neigt und seine Ganovenkontakte pflegt, und Dave versucht als Ehemann und Vater seine Rolle zu erfüllen und „den Jungen im Wald verschwinden zu lassen“ (durch den dieser schließlich seinen Peinigern entkommen konnte, damals). Als Jimmys 19-jährige Tochter Katie (Emmy Rossum) ermordet wird, führt das die drei wieder zusammen, zumal Sean die Ermittlungen leitet. Dessen Partner Whitey Powers (Laurence Fishburne), der nicht aus der Gegend kommt und sozusagen den Blick von außen hat, sieht sofort, dass Dave sein Trauma nicht verarbeitet hat, dass er sich aber auch verdächtig wie nur was benimmt. Sogar Daves Frau Celeste (Marcia Gay Harden) beginnt an ihm zu zweifeln. Und gewisse Gründe gibt es tatsächlich. Jimmy will mit seinen zwielichtigen Kumpanen die Ermittlungen am liebsten selbst in die Hand nehmen. Dies alles zusammengenommen führt zu einer schicksalhaften Katastrophe.
Was getan werden muss … als Fluch statt Befreiung
Auch wenn es Eastwood-Filme mit mehr Kult-Potenzial gibt, ist dieser einer seiner besten. Ungeheuer düster, wuchtig, aber nie reißerisch (siehe die indirekte Erzählweise wie oben beschrieben). Da wird mit Symbolismen gearbeitet, ohne dass sie sich aufdrängen (zum Beispiel bildet der Lichteinfall durch die Tür zur Leichenhalle, in der Jimmys Tochter aufgebahrt liegt, ein christliches Kreuz). Da bietet die Lösung des Falles einen Abgrund schicksalhafter Verstrickungen über die Generationen hinweg, als sei es eine antike Tragödie – nicht nur der Mississippi ist mystisch! Da hat Eastwood unglaublich gute und passgenau eingesetzte Schauspieler. Neben Tim Robbins ist meines Erachtens Sean Penn hervorzuheben, der zudem dafür steht, dass dieser Film den Eastwood-Mythos zugleich bestätigt und gegen den Strich bürstet. Wir haben hier einen typischen „Mann, der tut, was er tun muss“. Eastwood selbst wäre für den Part deutlich zu alt gewesen. Indem er ihn nicht mit einer jüngeren Version seiner selbst besetzt, einem saucoolen oder auch grübelnden Stoneface, sondern mit einem Hitzkopf, lässt sich einmal zeigen, wozu das führen kann, wenn ein „Mann tut, was er tun muss“.
Von Wölfen, Vampiren und Tim Robbins
„Ich guck’ einen Vampirfilm. Einer ist gerade gepfählt worden.“ Was Dave scheinbar flapsig zu seiner Frau sagt, weist doch nur auf den Blick nach innen hin, auf die Unmöglichkeit, seinen Dämonen zu entkommen. Diese werden nicht nur mit Vampiren, sondern auch mit Wölfen (Werwölfen?) assoziiert, siehe oben und den Romanvorlagentitel „Spur der Wölfe“. Und Daves Blick ist garantiert nicht so locker-leicht, wie seine Worte suggerieren sollen, vor allem ihm selbst. Der Mann, der nie lachte. Wenngleich Eastwood den Film wie üblich recht schnell abgedreht hat und anfangs neben den falschen auch echte Ordnungshüter, die den Drehort bewachen, aus Versehen im Bild sind, überlässt er nichts dem Zufall, wo es wichtig ist. Gerade bei Tim Robbins nicht. Seine Karriere verfolge ich nicht planmäßig, aber es gibt neben „Mystic River“ und dem grandios bösen „Arlington Road“ (1999) diesen einen Moment, der sich mir unweigerlich ins Gedächtnis eingebrannt hat. Eine kleine Rolle nur, aber in dieser spielt er so famos und ebenfalls abgründig auf, dass er Steven Spielbergs „Krieg der Welten“ (2005) eine Tiefe und Düsternis verleiht, die herausragt. Geboren am 16. Oktober 1958 in Kalifornien, begann er seine Filmkarriere 1984 mit „Toy Soldiers“, einem typischen Brat-Pack-Action-Vehikel der Reagan-Ära, in dem Studenten lernen müssen, ihre Waffen einzusetzen (gemäß dem Pin-up-Poster nicht nur Handfeuerwaffen), weil die Offiziellen den Hintern nicht hochkriegen. Ja nun. Auch ein George Clooney hat mit „Die Rückkehr der Killertomaten“ (1988) begonnen, und wenn man sich erst den Cast des berüchtigten „Die rote Flut“ (1984) ansieht … Doch schon in Terry Jones’ montypythoneskem „Erik der Wikinger“ (1989) setzte Robbins Akzente, war er der Titelantiheld, der nicht nur bei der Vergewaltigung rein technisch scheitert, sondern auch grübelnd hinterfragt, ob es nicht noch mehr als das ewige Rauben und Schänden geben müsse. Auch sein bewegender Part als unbeugsamer Häftling in Frank Darabonts Gefängnisdrama „Die Verurteilten“ (1994) nach Stephen King darf nicht unerwähnt bleiben. Mit „Dead Man Walking“ (1995) als Regisseur oscarnominiert, setzte er nicht den einzigen Markstein als Vertreter eines linksliberalen Hollywood, dem dies – wie auch seiner damaligen Partnerin und Hauptdarstellerin Susan Sarandon – offensichtlich wirkliches Anliegen statt nur Pose ist. Am 16. Oktober 2023 wird er 65 Jahre alt und möge uns noch lange grüblerisch zum Grübeln bringen.
Vielfach prämiertes Meisterwerk
Für „Mystic River“ gewann er den Oscar als Nebendarsteller, während Sean Penn seinen Academy Award als Hauptdarsteller einstrich. Beide gewannen in dieser Konstellation auch den Golden Globe, „Mystic River“ strich zudem etliche weitere Auszeichnungen und Nominierungen ein. Von daher liegt ein Werk vor, das erstens Fortschreibung von Eastwoods Filmografie ist, zweitens kongeniale Umsetzung eines genialen Stoffes und drittens ein Fest der Schauspiel-, Erzähl- und Kamerakunst. Der 2003 sowieso schon sehr angesehene Eastwood konnte seinen Ruf noch einmal kräftig steigern und beweisen, dass er nicht nur die Kritik, sondern auch das Publikum begeistern konnte, selbst wenn er einmal nicht als Schauspieler seiner Filme dabei war. Als Nur-Regisseur sein erster auch kommerzieller Erfolg. Hochverdient. Ein großer Film. Aber nichts Leichtes zwischendurch, wahrlich nicht.
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Clint Eastwood haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Marcia Gay Harden und Laura Linney unter Schauspielerinnen, Filme mit Kevin Bacon, Laurence Fishburne, Sean Penn, Tim Robbins und Eli Wallach in der Rubrik Schauspieler.
Veröffentlichung: 28. Mai 2015 als Blu-ray im Steelbook, 12. Februar 2010 als Blu-ray, 17. März 2006 als DVD
Länge: 138 Min. (Blu-ray), 132 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch, Englisch
Originaltitel: Mystic River
USA/AUS 2003
Regie: Clint Eastwood
Drehbuch: Brian Helgeland, nach dem Roman „Spur der Wölfe“ von Dennis Lehane
Besetzung: Sean Penn, Tim Robbins, Kevin Bacon, Emmy Rossum, Laurence Fishburne, Marcia Gay Harden, Laura Linney, Kevin Chapman, Tom Guiry, Spencer Treat Clark, Andrew Mackin, Adam Nelson, Robert Wahlberg, Jenny O’Hara, Cameron Bowen, Jason Kelly, Connor Paolo, Will Lyman, Eli Wallach
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Tim Robbins und Kevin Bacon, Featurette: „Mystic River – Unter der Oberfläche“, Bravo-TV-Special: „Mystic River – Vom Buch zum Film“; „The Charlie Rose Show“ – Interviews mit Clint Eastwood, Tim Robbins und Kevin Bacon, US-Kinotrailer
Label/Vertrieb: Warner Home Video
Copyright 2023 by Tonio Klein
Gruppierter Packshot: © Warner Home Video