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Zum 60. Geburtstag von Quentin Tarantino: Pulp Fiction – Postdramatische Popsause

Pulp Fiction

Von Lars Johansen

Gangsterdrama // Ich denke, die allermeisten Menschen, die sich ein wenig für Film interessieren, werden „Pulp Fiction“ (1994) kennen. Von daher muss ich vielleicht nicht viel über den Inhalt der drei miteinander verwobenen und nichtchronologisch erzählten Episoden sagen. Und es ist auch schon so viel über das Werk geschrieben worden, dass ich mich beinahe dafür schäme, dem noch ein wenig hinzuzufügen. Aber zum einen wird das Gangsterdrama in diesem Jahr beinahe 30 Jahre alt und sein Schöpfer sogar schon 60. Und weil dieser das Filmen entweder nach insgesamt zehn Regiearbeiten oder nach diesem Geburtstag einstellen will, ist es an der Zeit, ein wenig zurückzuschauen. Denn das Ende ist nahe, die vielleicht letzte Arbeit schon in Vorbereitung und da macht man sich als Verehrer seines Werkes doch ein paar Gedanken.

Ja, ich verehre ihn tatsächlich. Nein, ich bin nicht mit jedem Ergebnis vollkommen zufrieden, aber ich finde immer wieder Gefallen an einzelnen Sequenzen, an der grundsätzlichen Herangehensweise und seiner Liebe zur Filmgeschichte. Denn hier arbeitet einer, der sich auskennt. Das kann man auch in seinem Buch „Cinema Speculation“ nachlesen, über das Professor Tonio Klein in diesem Blog eine äußerst lesenswerte Rezension geschrieben hat. Trotz seiner angeblichen Lese- und Rechtschreibschwäche handelt es sich bei Tarantino nämlich um einen exzellenten Autor. Denn er kennt sich natürlich auch in der Literatur aus und hat mehr als nur ein wenig Ahnung von der Geschichte der Popmusik.

Als intellektueller Filmemacher wird der am 27. März 1963 in Knoxville im US-Staat Tennessee geborene Quentin Tarantino sehr unterschätzt, weil er sich mit seiner kraftmeierischen Attitüde sehr gut zu tarnen weiß. Das hat er übrigens mit Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) gemeinsam, der mit seinem Auftreten ebenfalls zu täuschen vermochte und mit seinen Auftritten in seinen Filmen auch immer einen Kommentar zu seiner Arbeit abzugeben wusste. Das eint ihn ebenfalls mit Tarantino. Diesen möchte ich sogar als Vertreter eines postdramatischen Kinos bezeichnen. Auch wenn der Begriff des Postdramatischen häufig missverstanden und auch falsch gebraucht wird, passt er, so scheint es mir, sehr gut. Denn natürlich ist es falsch, postdramatischen Arbeiten die Psychologisierung ihrer Figuren abzusprechen. Das ist zu kurz gedacht. Es ist so, wie wenn man Bertolt Brechts Stücke auf den Verfremdungseffekt zu reduzieren versucht. Tarantino kennt seinen Brecht, aber auch seinen Shakespeare, Andy Sidaris, Sergio Corbucci, Raymond Chandler, Franz Kafka und die Bibel. Mindestens.

Mia san Mia

Und obwohl es oberflächlich scheint, als seien seine Figuren nur Abziehbilder, reine Zitate und bestenfalls Schatten der Realität, so falsch ist auch diese Einschätzung. Sie leben auf der Leinwand für die Leinwand, denn natürlich handelt es sich bei ihnen um Filmfiguren, die aus dem Arsenal des Film noir, des Gangsterfilms, des Melodrams und den Untiefen des Bahnhofskinos stammen, sich dessen aber bewusst sind und gerade dadurch lebendiger als die überkonstruierten Figuren eines verkopften Kunstkinos erscheinen. Sie spielen nur, aber mit einer Ernsthaftigkeit, die berührt.

Ein Meister der Schauspielerführung

Dazu kommt, dass Tarantino nicht nur gut schreiben und konstruieren kann, sondern auch in der Schauspielerführung eine unauffällige Meisterschaft beweist. „Pulp Fiction“ rettete die Karriere von John Travolta vor der Bedeutungslosigkeit, denn als Gangster und Auftragsmörder kann er zeigen, wie gut er zu spielen vermag, wenn man ihm die Möglichkeit dazu bietet. Harvey Keitel macht aus seiner kleinen Rolle ein Meisterstück der Effizienz. Den Vorgänger, „Reservoir Dogs – Wilde Hunde“ (1992) kann man durchaus als Prolog zu „Pulp Fiction“ lesen, Michael Madsen als Vic Vega soll sogar der Bruder von Travoltas Vincent Vega sein. Keitels Charakter heißt zwar anders, aber sein Mr. White aus „Reservoir Dogs“ könnte durchaus auch sein Cleaner aus „Pulp Fiction“ sein, der schnell den Tatort und die Täter nicht nur symbolisch reinigt und die Leiche verschwinden lässt. So routiniert dahingetupft spielt Keitel nur selten, aber es zeigt, dass Tarantino ihn so inszenieren kann, dass es ein Vergnügen ist, ihm dabei zuzusehen. Nicht umsonst hat Christoph Waltz seine beiden Oscars für die Rollen in „Inglourious Basterds“ (2009) und „Django Unchained“ (2012) bekommen, beides Filme, die das italienischen Genrekino sehr gründlich zitieren und neu definieren. Hier sieht man die exzellente Kenntnis des Regisseurs, der gerade Enzo G. Castellari sehr zu schätzen scheint, denn seine „Basterds“ erinnern an den englischen Verleihtitel von Castellaris „Ein Haufen verwegener Hunde“ („Quel maledetto treno blondato“, 1978), der wiederum die amerikanischen Kriegsfilme der 60er-Jahre durchdekliniert.

Another saturday night

Das amerikanische Genrekino also durch die Brille eines Italieners, der auch eine kleine Rolle in Tarantinos Film hat, zu zeigen, das ist Verfremdung auf höchstem Niveau. Zuerst sollte überhaupt ein Western daraus werden, aber das änderte sich im Verlauf der Arbeit am Drehbuch. Viele Westernzitate durchziehen den Film trotzdem, was aber auch damit zu tun hatte, dass der Kriegs- und der Polizeifilm den Italowestern in den 70er-Jahren als vorherrschendes Genre abzulösen begannen. Auch das weiß natürlich ein Tarantino. So lange er diese Kenntnisse in den Dienst des Films stellt, macht es auch Spaß, ihm dabei zuzusehen. Aber in „Once Upon a Time in Hollywood“ (2019) beispielsweise wird die Kenntnis an einigen Stellen zu sehr in den Vordergrund gestellt und verweist nur auf sich selbst, was schade ist. In „Pulp Fiction“ dagegen liest man die Zitate am Rande mit und die mögliche Unkenntnis der Zuschauer ist gleichgültig. Als ich den Film damals im Kino sah, erkannte ich vieles nicht und habe erst im Lauf der Jahre verstanden, was da alles mit eingeflossen ist, ohne es je komplett dechiffrieren zu können. Aber bei „Once Upon a Time in Hollywood“ fühlte ich mich als Italowestern-Kenner ein wenig überfahren und unsicher, ob man ohne diese Kenntnisse alles verstehen kann. Diese Dynamik, welche mir schon bei „The Hateful Eight“ (2015) und auch bei „Django Unchained“ (2012) ein wenig unangenehm aufgefallen war, zerstört in den letzten Jahren ein wenig die Meisterschaft der Filme.

Oliver Stone und Tony Scott

Zurück zu „Pulp Fiction“, der die vergangenen dreißig Jahre gut überstanden hat. Wie gut, versteht man vielleicht ein wenig besser, wenn man ihn mit den Umsetzungen anderer Regisseure eines sehr langen Drehbuchs von Tarantino in jener Zeit vergleicht. Dieses Buch war so lang, dass er es letztlich auf zwei Filme verteilte. Es handelt sich dabei natürlich um „True Romance“ (1993) und „Natural Born Killers“ (1994). Den letztgenannten wollte Tarantino eigentlich selbst verfilmen, realisierte aber stattdessen „Reservoir Dogs“. Das Buch erwarb Oliver Stone, der es gründlich überarbeitete und zwar die Struktur Tarantinos erhielt, aber die Dialoge veränderte. Das führte zu einer starken Distanzierung des eigentlichen Urhebers. Und wenn man sich das Ergebnis ansieht, dann muss man konstatieren, dass zwar ein wichtiges Zitat aus einem von Tarantinos Lieblingsfilmen, Sergio Griecos „Der Tollwütige“ (1977), erhalten geblieben ist, Stone aber ansonsten Tarantinos Intention so gründlich wie komplett missverstanden hat.

Die Auferstehung des Fleisches

Stones Filme sind immer politisch und gern auch verschwörungstheoretisch, scheinbar auf der Höhe der Zeit, vor allem aber eher einfach gestrickt. Das mag nicht fair gegenüber einem verdienten Regisseur sein, aber wenn man sich seine Filme wieder einmal ansieht, dann bemerkt man, dass sie nicht gut gealtert sind, weil sie außer dem Zeitgeist jener Tage nicht viel transportieren. Der Regisseur von „True Romance“ dagegen, der notorisch unterschätzte Tony Scott, vertraute auf die Sprache Tarantinos. Er erzählte aber nicht die ebenfalls verschachtelte Geschichte, sondern drehte eine gradlinige Umsetzung, welche trotzdem bis heute zu bestehen vermag. Auch hier hat Christopher Walken einen grandiosen Auftritt in einem unvergesslichen Dialog mit Dennis Hopper, der so auch von Tarantino gefilmt sein könnte. Wie gut er schreiben kann, bemerkte ich, als ich neulich „Bullet Train“ (2022) ansah, wo versucht wurde, „Pulp Fiction“ in einem fahrenden Hochgeschwindigkeitszug nachzustellen. Ich weiß, dass es eigentlich eine Romanverfilmung sein soll, aber es erinnert zu sehr an eine hier gänzlich unerreichte Vorlage. Aus den beinahe beiläufigen Gesprächen über Burger oder Fußmassagen werden hier bedeutungsschwere Dialoge über die Kinderserie „Thomas, die kleine Lokomotive & seine Freunde“ (1984–2021), weil die Handlung ja in einem Zug spielt. Und während Tarantino etwas zu erzählen hat, entwickelte sich hier bei mir nur der Wunsch nach einer Handlung mit Hintergrund.

A shot in the dark

Doch soll es nicht mein Ziel sein, andere anzugreifen. Stattdessen mag ich noch ein wenig bei der Meisterschaft Tarantinos verweilen. Denn wie sehr er Schauspieler auch aufgrund ihrer Filmgeschichte einzusetzen vermag, das kann man sehr gut bei „Jackie Brown“ (1997) sehen, welcher nicht umsonst so heißt, obwohl er eine Verfilmung des Romans „Rum Punch“ von Elmore Leonard ist, der diese übrigens für die beste eines seiner Romane hält. Denn „Foxy Brown“ (1974) war natürlich einer der Blaxploitation-Filme, die Tarantino als Kind im Kino gesehen hatte und der weibliche Star Pam Grier spielte nun, über 20 Jahre später, wieder eine Titelrolle, die einerseits das Genre reflektierte und zugleich doch eine eigenständige Figur war. Man hat Tarantino manchmal vorgeworfen, nur starke Männerrollen in seinen Filmen zu haben, was auch nicht ganz falsch ist, aber hier sehen wir eine starke Frau, die nicht mehr ganz jung ist, aber auch deshalb sehr genau weiß, was sie will und es sich auch offensiv nimmt.

Halbherzige Distanzierung von Harvey Weinstein

Natürlich muss klar sein, dass der Produzent der meisten Filme Tarantinos Harvey Weinstein ist, dessen Handlungen nicht beschönigt werden dürfen und dessen Verhältnis zum Regisseur natürlich ein Problem darstellt, das einen Schatten auf das gesamte Werk wirft. Die halbherzige und späte Distanzierung war da eher kontraproduktiv, die männerbündische Verbindung bleibt fragwürdig. Aber spätestens mit „Jackie Brown“ haben wir keinen Männerfilm, sondern ein beinahe feministisches Statement. Doch auch hier gelten natürlich die Regeln des Postdramatischen. Die Dinge sind nicht, was sie scheinen, und Blaxploitation wurde von Junius Griffin 1972 aus den englischen Worten für Schwarz und für Ausbeutung zu einem neuen Begriff verschmolzen, der vor allem die Arbeitsbedingungen von Schwarzen in der amerikanischen Filmindustrie scharf kritisierte. Auch das ist hier mitzudenken.

Zed is dead

Bei „Pulp Fiction“ gab es auch einiges mitzudenken,, vor allem die Verankerung im klassischen Gangsterfilm. Wenn der Boxer Butch Coolidge (Bruce Willis) seinen Kontrahenten, den Gangsterboss Marsellus Wallace (Ving Rhames), befreit, dann nimmt er die unterschiedlichsten Werkzeuge/Waffen von der Wand und spaziert damit zugleich durch die Filmgeschichte, um schließlich nach Hammer, Baseballschläger und der Kettensäge aus „Blutgericht in Texas“ („The Texas Chain Saw Massacre“, 1974) am Ende beim Katana aus den japanischen Schwertkampffilmen zu landen. Auch der Koffer, der eine wichtige Rolle spielt und dessen Inhalt am Ende geheimnisvoll leuchtet, ist ein typischer MacGuffin, der hier konkret ein Zitat aus Robert Aldrichs „Rattennest“ (1955) nach einem Roman von Mickey Spillane beinhaltet. Dann wäre es eine Atombombe und die ganzen Paranoiafilme der 50er-Jahre wären hier mitzudenken. Das berühmte Bibelzitat, welches Jules Winnfield (Samuel L. Jackson) benutzt, in dem er behauptet, aus dem Buch Hesekiel zu zitieren, setzt sich aus mindestens sieben Bibelstellen zusammen, von Psalmen über Sprüche, Genesis, Lukas und Matthäus, also gemischt aus Altem und Neuem Testament. Und genau so muss man Tarantinos Zitate verstehen, sie setzen sich aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammen, die sie aber niemals komplett zitieren, sondern immer wieder verfremden bis sie einen neuen Sinnzusammenhang ergeben. Der Drehbuchautor weiß viel und redet über noch mehr, verfilmt es dann wieder mit seinem Bilderwissen, das erneut, diesmal visuell, zitiert und dann stellt er noch eine Musikauswahl zusammen, die eine neue Ebene dazu bringt. Das mag man als „nerdig“ missverstehen, stellt aber vor allem eine beeindruckende Gesamtleistung dar, die weit über die Menge ihrer Zitate hinausweist.

Blutsbrüder

Und nun wird Quentin Tarantino 60. Filmpreise hat er reichlich bekommen, allen voran die beiden Drehbuch-Oscars für „Pulp Fiction“ und „Django Unchained“ und die drei Golden Globes für die Drehbücher ebendieser plus „Once Upon a Time in Hollywood“. Die Goldene Palme in Cannes für „Pulp Fiction“ gehört natürlich ebenfalls genannt, 1994 war übrigens kein Geringerer als Clint Eastwood Jurypräsident an der Croisette. Möge sich Tarantino in irgendeinem Kino die „Street Fighter“-Trilogie ansehen, Esmeralda neben ihm sitzend, die sich in Santánico Pandemonium verwandelt und ihn aus ihrem Schuh Tequila trinken lässt, während die Hölle losbricht. Aber die kann ihm nichts anhaben, denn wer Hitler und Charles Manson von ihren Taten abhalten kann, der hat auch sonst nichts zu fürchten. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch zum runden Geburtstag!

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Quentin Tarantino haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Rosanna Arquette, Amanda Plummer und Uma Thurman unter Schauspielerinnen, Filme mit Steve Buscemi, Samuel L. Jackson, Harvey Keitel, Ving Rhames, Tim Roth, Eric Stoltz, John Travolta, Christopher Walken und Bruce Willis in der Rubrik Schauspieler.

Das Ende ist der Anfang

Veröffentlichung: 9. März 2023 als UHD Blu-ray (plus Blu-ray), 6. Dezember 2022 als UHD Blu-ray im Steelbook (plus Blu-ray), 7. Oktober 2021 als Blu-ray, 10. Dezember 2020 und 30. September 2019 als 2-Disc Edition Mediabook (Blu-ray & DVD, diverse Covermotive), 7. Dezember 2017 als Jack Rabbit Slim’s Edition Blu-ray, 19. Februar 2015 als Award Winning Collection Blu-ray, 2. Mai 2013 und 20. Dezember 2012 als Blu-ray im Steelbook, 2. Februar 2012 als Special Edition Blu-ray, 8. Dezember 2011 als DVD, 22. Januar 2009 als DVD Art Collection, 16. November 2006 als Collector’s Edition DVD, 17. Juli 2000 als DVD

Länge: 154 Min. (Blu-ray), 148 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Spanisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Englisch für Hörgeschädigte, Isländisch, Spanisch
Originaltitel: Pulp Fiction
USA 1994
Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch: Quentin Tarantino, Roger Avery
Besetzung: Tim Roth, Amanda Plummer, John Travolta, Samuel L. Jackson, Uma Thurman, Bruce Willis, Ving Rhames, Christopher Walken, Harvey Keitel, Rosanna Arquette, Eric Stoltz, Steve Buscemi, Laura Lovelace, Burr Steers, Phil LaMarr, Don Blakely, Maria de Medeiros, Peter Greene, Alexis Arquette, Quentin Tarantino
Zusatzmaterial (variiert je nach Veröffentlichung): Nicht das übliche langweilige Lernen-wir-uns-kennen-Gesülze (43:01 Min.), Hier sind ein paar Fakten über die Fiktion (20:37 Min.), „Pulp Fiction – The Facts“ (30:35 Min.), zusätzliche Szenen (24:19 Min.), Hinter den Kulissen: Jack Rabbit Slim’s (4:45 Min.) & Butchs Volltreffer (6:03 Min.), Making-of (5:15 Min.), Das Produktionsdesign von Pulp Fiction (6:22 Min.), Interview: Quentin Tarantino in der Charlie-Rose-Show (55:30 Min.), Siskel & Ebert „At the Movies – Die Tarantino-Generation“ (16:03 Min.), Interviews bei den Independent Spirit Awards (11:30 Min.), Dankesrede Cannes Filmfestival (5:20 Min.), deutscher Kinotrailer, US-Kinotrailer, weitere Trailer, TV-Spots (5:17 Min.), Bildergalerien, Filmkritiken und -artikel (englische Texttafeln), Cast und Crew (Texttafel-Informationen), Statements der Crew (4:50 Min.), Inside „Pulp Fiction“ (Texttafeln plus Szenen), Trailershow
Label/Vertriebe: BMG Video / Miramax / Buena Vista / Universum Film / Studiocanal Home Entertainment, ’84 Entertainment / Paramount Pictures / Universal Pictures

Copyright 2023 by Lars Johansen

Szenenfotos & Doppel-Packshot: © Paramount Pictures

 
 

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Terry Gilliam (IV): Die Abenteuer des Baron Münchhausen – Fuck Your Reality, Imagination Rulez!

The Adventures of Baron Munchausen

Von Lutz R. Bierend

Fantasy-Abenteuer // „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ bildet den dritten Teil von Terry Gilliams informeller Fantasie(Imagination)-Trilogie, welche nach „Time Bandits“ (1981) und „Brazil“ (1985) hier einen überzeugenden Abschluss findet. Während in „Time Bandits“ ein kleiner Junge von seinen Fantasien in wilde Abenteuer getrieben wird und sich in „Brazil“ ein erwachsener Mann mithilfe seiner Fantasie aus einer unerträglichen Realität flüchtet, erleben wir in „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“, wie ein Meister der Fantasie seine Imagination nutzt, um sich die Welt nach seinen Bedürfnissen zu gestalten. Wer sollte dazu besser geeignet sein als der altbekannte Lügenbaron? Dem hatten unter anderen bereits 1943 Hans Albers in der Titelrolle, Erich Kästner als Drehbuchautor (unter dem Pseudonym Berthold Bürger) und Regisseur Josef von Báky in „Münchhausen“ ein Denkmal gesetzt. Nicht nur die treue Anhängerschaft des buntesten Durchhalte-Films des Zweiten Weltkriegs erschwerte es Gilliam, für seine Regiearbeit ein neues Publikum zu finden.

Schneller als Treppensteigen: einfach mit dem Pferd aus dem Fenster springen

Einer der Gründe warum das Werk so unter Wert lief, waren wieder mal (ähnlich wie bei „Brazil“) politische Querelen mit dem Studio. Diesmal vollzog sich während der Produktion von „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ ein Regimewechsel bei Columbia Pictures. Die neuen Verantwortlichen wollten laut IMDb die von ihren Vorgängern begonnenen Produktionen nicht allzu erfolgreich aussehen lassen und nachdem Gilliam sein Budget schon um fast das Doppelte seiner veranschlagten 23,5 Millionen Dollar überzogen hatte, brachte der Verleih den Film in den USA in lediglich 48 Kinos. Bedauerlich, er ist es definitiv wert, von mehr Menschen gesehen zu werden.

Your reality, sir, is lies and balderdash and I’m delighted to say that I have no grasp of it whatsoever.

Auch die Aura des Spießigen die bereits der Name Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen mit sich bringt, war zusammen mit seinen eher klischeehaften Rollenmodellen schon in den 80ern des 20. Jahrhunderts nicht mehr wirklich PC. Außerdem kennt jeder den Ritt auf der Kanonenkugel und die meisten anderen Geschichten die den Lügenbaron in die Literaturgeschichte haben eingehen lassen. Als ich damals die Ankündigung las, dass Gilliam Baron Münchhausen verfilmt, fiel mir die Vorstellung schwer, wie man aus dieser Geschichte noch etwas Sehenswertes herausquetschen kann. Aber zum Glück heißt der kreativere Terry der Monty Pythons immer noch Gilliam, und er hatte schon vorher gezeigt, dass er klassische Themen durch Entschlackung und seine ganz eigene Perspektive faszinierend neu gestalten kann. So inszenierte er den „Jabberwocky“ (1977) aus Lewis Carrolls „Alice hinter den Spiegeln“ ohne die dazugehörigen Alice und das Wunderland, sein filmischer Beitrag zum Überwachungsjahr 1984 kam ohne den Big Brother aus – der erste Arbeitstitel seiner kafkaesken Dystopie „Brazil“ lautete „1984 and ½“. Nun also sollte Baron Münchhausen einer Radikalkur unterzogen werden.

Late 18th Century. The Age of Reason. Wednesday.

Der Film beginnt in einer namenlosen, vermutlich österreichischen Stadt, die von den Türken belagert wird. Es ist das Zeitalter der Vernunft. Mittwoch. Öffentliche Bekanntmachungen empfehlen den Einwohnern, Nahrung zu sparen und es doch mal mit Kannibalismus zu probieren. Die Türken schießen unverschämterweise selbst am Mittwoch die halbe Stadt in Trümmer und die Bevölkerung der belagerten Metropole vertreibt sich die Zeit in einem Theater. Man gibt „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“. In seiner Loge bespricht währenddessen der hochwohlgeborene Bürgermeister Horatio Jackson (Jonathan Pryce) mit seinem Stab die Lage und beklagt sich über das unsittliche Verhalten des belagernden Sultans (Peter Jeffrey), weil dieser es wagt, am Mittwoch zu kämpfen. Nebenbei wird ihm ein Offizier (Sting) vorgestellt, der ganz allein sechs Kanonen des Feindes zerstört und zehn gefangene Kameraden befreit hat. Der muss natürlich umgehend hingerichtet werden. Wo komme man denn hin, wenn solch emotionale, von toxischer Maskulinität getriebenen Kerle die durchschnittlichen Soldaten herabwürdigen, weil sich diese natürlich nie mit solchem Heldenmut messen können.

We can’t have such emotional people demoralising the average citizen.

Währenddessen bemühen sich die Schauspieler redlich, ihr Stück zu Ende zu bringen. Das wird dadurch erschwert, dass inzwischen alle Bühnentechniker der Belagerung zum Opfer gefallen sind. Dann erscheint ein alter Mann (John Neville), der die Aufführung lautstark unterbricht. Er kann nicht mit ansehen, wie sein Leben von ein paar Chargen als Ansammlung von Lügengeschichten dargestellt wird. Der wahre Baron Münchhausen übernimmt die Hauptrolle und erklärt dem Publikum, wie es zu dieser Belagerung durch die Türken kommen konnte. Eine leichtfertige Wette zwischen Baron und Sultan habe den Herrscher der Osmanen um den Inhalt seiner Schatzkammer gebracht.

Wenn so reizende Damen fragen – wie kann man da nicht die Stadt retten wollen?

Letztendlich wird die Aufführung von den Kanonen des Sultans beendet und Horatio Jackson ordnet an, die Theatertruppe solle die Stadt verlassen. Wer mit solchem fantastischen Kokolores die Rationalität untergräbt, hat dort nichts zu suchen. Von den anwesenden Damen und allen voran von der kleinen Tochter des Chefs der Theatertruppe Sally Salt (Sarah Polley in einer frühen Rolle) lässt sich der Baron überreden, doch nicht zu sterben und stattdessen loszuziehen, um seine außergewöhnlichen Diener zu suchen, mit denen er die Belagerung durch den Sultan im Nu beenden kann. Mit einigen hundert Damenschlüpfern und einem Schiff aus der Bühnenrequisite bauen die Schauspieler einen Heißluftballon, und der Baron macht sich auf den Weg zum Mond.

Der Baron und Sally auf dem Weg zum Mond

Münchhausen hat allerdings die Rechnung ohne Sally gemacht, die sich in dem Ballon versteckt hat und dem Baron nun bei seiner Suche nach den Dienern zur Seite steht. Mit ihr zusammen muss er zuerst zum König vom Mond, dessen Frau immer noch dem Charme des Barons verfallen ist, in den Vesuv hinab, wo er mit Venus (Uma Thurman in einer ebenfalls frühen Rolle) anbändelt, und darf nach Sturz durch den Erdkern auch seine letzten Diener finden. Während der Baron bei dem einen oder anderen Flirt gern die Zeit vergisst und zwischendurch sein Interesse am Leben verliert, ist es Sally, die den alten Mann immer wieder an seine Aufgabe erinnert und nicht sterben lässt, bevor er die Stadt nicht gerettet hat. Aber der Tod ist ein ständiger Begleiter des Barons und will nicht ohne dessen Lebenslicht von dannen ziehen.

…any famous last words?

Not yet.

Not yet? Is that famous?

Natürlich kann man „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ vorwerfen, er sei (wie „Time Bandits“) eine Nummernrevue, in der die nettesten Momente der klassischen Lügengeschichten abgehakt werden, aber letztlich ist es Terry Gilliams Fähigkeit zu verdanken, großartige Bilder zu einem bizarren Gesamtwerk zusammenzufügen, dass der Film auch nach dem dritten Schauen immer noch überraschende Details bietet und bei genauerer Betrachtung sogar eine relativ klassische Dramaturgie hat, auch wenn sich der Zuschauer zwischendurch in den Unglaublichkeiten verliert. Die vielen legendären Momente, allen voran der Ritt auf der Kanonenkugel, passieren so überraschend beiläufig, dass sie ihre Schönheit beim ersten Sehen fast untergeht.

I didn’t fly miles. It was more like a mile-and-a-half. And I didn’t precisely fly. I merely held onto a mortar shell in the first instance and then a cannonball on the way back.

Wie so oft bei Gilliam hat man ohnehin das Gefühl, dass der Film immer kurzweiliger wird, je häufiger man ihn sieht. Wirkt die Reise, auf die der Regisseur den Zuschauer mitnimmt, beim ersten Mal etwas planlos und lang, weil man sich zu sehr mit der Frage beschäftigt, wohin die Reise einen führen wird, wird sie von Mal zu Mal schöner und kurzweiliger. Einfach da sitzen und darauf vertrauen, dass das Gezeigte bis zum Abspann noch ein kohärentes Ganzes ergibt, ist bei Gilliam immer ein guter Rat. Eines sei verraten: Am Ende siegt die Fantasie grandios über die Vernunft und über die Realität. Baron Münchhausen ist halt kein Anfänger wie Sam Lowrie aus „Brazil“, dem seine Fantasie nur noch hilft, aus einer unerträglichen Realität zu fliehen. Er ist ein Meister und dadurch, dass er seine Zuhörer und Zuschauer an seine Hirngespinste glauben lässt, werden sie für alle wahr.

He won’t get far on hot air and fantasy.

Terry Gilliam urteilte über die Verfilmung mit Hans Albers, dieser hinge leider Zwanghaftigkeit an: Die Deutschen wollten zeigen, dass sie einen Zwei-Fronten-Krieg führen und trotzdem den aufwendigsten Fantasy-Film ihrer Zeit drehen können. „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ hingegen springt spielend zwischen – fast brutalem – Realismus und der manchmal absurden Schönheit der Fantasiewelten des Barons hin und her. Wenn die türkischen Belagerer die Stadt in Schutt und Asche schießen und die verletzten Einwohner aus den Trümmern geborgen werden, fragt man sich schon, ob man wirklich in einem Familienfilm gelandet ist. Auch der Harem des Sultans ist meilenweit entfernt von den klassischen Darstellungen, die man aus Hollywoods 1001-Nacht-Verfilmungen wie „Der Dieb von Bagdad“ (1940) oder „Sindbads siebente Reise“ (1958) kennt. Man findet man kaum eine Frau, welche den westlichen Schönheitsidealen entspricht. Wohingegen Details wie die Längen- und Breitengrade auf der Erdkugel, auf die der Baron, Sally und sein Diener Berthold (Eric Idle) bei der Rückreise vom Mond herunterfallen, darauf hindeuten, dass sich die Geschichte wohl doch eher im Kopf eines Kindes abspielt, welches letztlich auch die Person ist, welche die Stadt rettet. Terry Gilliam widmete diesen Film seiner Frau und ihren beiden Töchtern, und offensichtlich nimmt er seine Kinder sehr ernst. Die Authentizität der Belagerung bildet einen guten Kontrast für eine fantastische, leichtfüßige Geschichte, die mit dem notwendigen Augenzwinkern erzählt wird, um den größten Lügner aller Zeiten nicht altbacken wirken zu lassen. Zu keiner Sekunde kommt das Gefühl auf, man würde die Geschichte bereits aus der Hans-Albers-Verfilmung kennen.

Ah, the real Baron Munchhuusen!

„Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ ist ein wunderscherschönes Abenteuer über die Macht der Fantasie geworden, und man versteht nach der Sichtung gut, weshalb Joanne K. Rowling Terry Gilliam als Regisseur für die Harry-Potter-Verfilmung favorisierte. Allerdings wird an ihm auch deutlich, warum es eine wirtschaftlich sehr vernünftige Entscheidung von Warner Bros. war, Rowling ihren Wunsch zu verwehren. Die Filme wären zweifellos noch atemberaubender und fantasievoller geworden, aber Gilliam ist einfach kein Blockbuster-Regisseur und es ist zu bezweifeln, dass er 2019 bereits den Gefangenen von Askaban befreit hätte.

Der König des Mondes ist nicht gut auf Münchhausen zu sprechen

Die Produktion von „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ war – wie bei fast jedem Terry-Gilliam-Film – von diversen Katastrophen geplagt. Am Ende des Budgets war weder die Szene mit dem König vom Mond gedreht, noch hatte Gilliam den eigentlich für diese Rolle vorgesehenen Sean Connery gewinnen können. Als Ersatz sprang Robin Williams ein, der direkt aus dem Flieger zum Set gebracht wurde, und seine Rolle als geübter Stand-up-Comedian fast komplett improvisierte. Man kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass das mal anders geplant war. Wer sich fragt, warum der Film nicht in Willams’ offizieller Filmografie gelistet ist: Im Nachspann steht er als Ray D. Tutto, denn das Geld war verbraucht, Williams spielte gratis und durfte deshalb nicht namentlich genannt werden.

Auch bei Vulkan und Venus hängt dank des alten Charmeurs der Haussegen schief

Die meisten Darsteller empfanden den Dreh als Zumutung. Sarah Polley bezeichnete die Erfahrung als traumatisierendes Kindheitserlebnis. Sie ist übrigens der einzige Grund, weswegen man die Originalfassung der ansonsten außerordentlich guten Synchronfassung vorziehen sollte. Wer sich beklagt, dass dieses Kind in der deutschen Fassung nervt, sollte sich davon überzeugen, dass sie im Englischen ein ganz entzückender Motor für das Voranschreiten der Geschichte ist. Kinder zu synchronisieren, das scheinen die Deutschen überhaupt nicht zu können. Ansonsten macht es auch Spaß, in der englischen Fassung zu hören, auf wie viele verschiedene Arten Engländer den Namen Münchhausen aussprechen können.

It wasn’t just a story, was it?

Von Gilliams altem Monty Python-Kollegen Eric Idle ist die Lebensweisheit überliefert: „Bis zu Munchausen war ich sehr schlau im Umgang mit Terry-Gilliam-Filmen. Sieh sie dir um jeden Preis an, aber sei nie ein Teil von ihnen. Es ist ein verdammter Wahnsinn!“ In einem Interview erklärte Gilliam einmal den Unterschied zwischen Blockbuster-Regisseuren wie Steven Spielberg und Filmemachern wie Stanley Kurbrick: „Meiner Meining nach basiert der Erfolg der meisten Hollywood-Filme in diesen Tagen auf der Tatsache, dass sie tröstlich sind. Sie binden große Fragen in schönen kleinen Päckchen zusammen und geben dem Zuschauer Antworten. Selbst wenn die Antworten dumm sind. Es sind Antworten. Du gehst nach Hause und machst dir keine Sorgen. Die Kubricks dieser Welt, die großartigen Filmemacher lassen Sie nach Hause gehen und darüber nachdenken.“ Terry Gilliam ist definitiv ein Filmemacher, der das Publikum mit Fragen nach Hause schickt. Bei „Das Kabinett des Doktor Parnassus“ (2009) und „The Zero Theorem“ (2013) haben diese Fragen zwar so sehr überhandgenommen, dass sich nur Hardcore-Fans auf ein zweites Sehen einlassen, aber selbst bei „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ gelingt es Gilliam, das Publikum erst mal verwirrt zurückzulassen. Aber vermutlich werden seine Filme deshalb auch von Mal zu Mal schöner, weil sich die Fragen beim zweiten und dritten Schauen entwirren und man sich auf all die vielen Details konzentrieren kann, für die kaum ein Hollywoodproduzent sein Budget rauswerfen will.

Mal wieder hat der Baron sein Leben satt …

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Terry Gilliam sind in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Uma Thurman unter Schauspielerinnen, Filme mit Oliver Reed und Robin Williams in der Rubrik Schauspieler.

… und will dem Sultan seinen Kopf schenken

Veröffentlichung: 8. Mai 2008 als 20th Anniversary Edition Blu-ray, 10. April 2008 als 20th Anniversary Edition Doppel-DVD, 1. Oktober 1999 als DVD

Länge: 126 Min. (Blu-ray), 121 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch u. a.
Untertitel: Deutsch, Englisch u. a.
Originaltitel: The Adventures of Baron Munchausen
GB/BRD 1988
Regie: Terry Gilliam
Drehbuch: Charles McKeown, Terry Gilliam
Besetzung: John Neville, Eric Idle, Sarah Polley, Oliver Reed, Charles McKeown, Winston Dennis, Jack Purvis, Valentina Cortese, Jonathan Pryce, Bill Paterson, Peter Jeffrey, Uma Thurman, Alison Steadman, Sting, Robin Williams
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Regisseur Terry Gilliam & Ko-Drehbuchautor/Schauspieler Charles McKeown, Wahnsinn & Missgeschicke bei der Produktion, Storyboards, entfallene Szenen, „Willkommen in der fantastischen Welt Münchhausens“
Label/Vertrieb: Sony Pictures Home Entertainment

Copyright 2019 by Lutz R. Bierend

Den Tod vor Augen, begehren die Bewohner gegen ihren Bürgermeister auf

Szenenfotos & Packshot: © 2008 Sony Pictures Home Entertainment

 
 

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Nymph()maniac Vol. I & II – Amoralisches Porno-Epos!?

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Nymph()maniac Vol. I & II

Von Simon Kyprianou

Drama // Die Erwartungen auf „Nymph()maniac“ wurden im Vorfeld schon durch von Triers gewitzt-freche Werbekampagne befeuert und mit Vorab-Skandalen geschwängert. Wenn man dann jedoch den Film sieht muss man sich ob der Harmlosigkeit des Films fragen, wo all diese Skadale und Amoralitäten abgeblieben sind – von Trier hat uns offenbar lustvoll an der Nase herumgeführt.

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Joe liegt verprügelt in der Gasse – das Unheil beginnt

Die verprügelte Joe (in der Gegenwart: Charlotte Gainsbourg, als junge Frau: Stacy Martin) wird von Seligman (Stellan Skarsgård) in einer Gasse gefunden. Er will ihr helfen und nimmt sie mit nach Hause, wo sie ihm eröffnet: „I am a bad human beeing“, worauf Seligman entgegnet „There are no bad human beings.“ Dann beginnt sie, ihm in acht Kapiteln ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Nymphomaniac 14 photo by Christian Geisnaes_A4

Joe erzählt Seligman aus ihrem Leben

Die Aufteilung in zwei Volumes und auch die Unterschiede dieser zwei Teile erinnern stark an Tarantinos „Kill Bill“. Der erste Teil ist schnell, komisch, eine Groteske, der zweite Teil wirkt ernsthafter, düsterer und nachdenklicher. Auch sonst ist der Film voll von Hommagen und Verweisen: Bergman, Kubrick, Tarkovskij und auch eigene Filme werden zitiert, mal subtil und versteckt, mal offesichtlich und komisch.

„Nymph()maniac“ ist ein Analogiefilm: Der hochintellektuelle Seligman verweist stets von Joes Bericht auf übergeordnete Sinnzusammenhänge und Wahrheiten. So hievt er die Erzählung immer wieder auf eine intellektuelle, reflektierende Ebene.

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Nur eine von vielen sexuellen Eskapaden

„Chaos Reigns“ hieß es in „Antichrist“, dabei würde dieser Ausspruch wesentlich besser zu „Nymph()maniac“ passen – hier lässt von Trier den Wahnsinn wirklich walten. Volume 1 ist ein verrückter Film, der sich keine visuelle Spielerei versagt, es ist ein wilder Mix aus düsterem Seelendrama und durchgeknallter Groteske, der jedoch nie Gefahr läuft, in die Lächerlichkeit abzudriften – eine Groteske über die Absurdität und die selbstzerstörerische Kraft der Liebe, vor allem aber von Sexualität, vor deren Wirkung und Einfluss ein jeder betroffen ist.

Nymphomaniac 28 photo by Christian Geisnaes_A4

Endlich wieder vereint: Willam Dafoe und Charlotte Gainsbourg

„Nymph()maniac 2“ ist ein radikaler Wechsel im Vergleich zu Teil 1. Die verrückte Groteske weicht dem ernsthaften, abgründigen Drama, wie auch die Jugend der Protagonistin Joe langsam endet (und der schauspielerische Wechsel von Stacey Martin zu Charlotte Gainsburg stattfindet).

Der Ton wird deutlich härter, und mit dem Alter wird das Leben auch langsamer. Auf diese Weise konnte Lars von Trier in Teil 1 noch fünf Episoden in 110 Minuten verpacken, in Teil 2 sind es lediglich drei Episoden in 130 Minuten. Es geht bergab mit Joe, eine geschändete Seele, verloren in sich selbst, von niemandem geliebt, allerhöchstens begehrt. Die Lust führt dazu, dass jeder Schritt sie weiter nach unten reißt, es offenbart sich der Zwist zwischen Kind und Sexualität, zwischen Liebe und Rache.

Nymphomaniac 06 photo by Zentropa_org

Uma Thurman – großartig als durchgeknallte betrogene Ehefrau

Gegen Ende des Films positioniert sich Lars von Trier so direkt wie nie zuvor als Feminist und nimmt damit hoffentlich den Misogynie-Vorwürfen ein für alle Mal den Wind aus den Segeln. Er liebt seine weibliche(n) Figur(en), er fühlt mit ihnen und er leidet mit ihnen. Nicht zuletzt deswegen ist der Leidensweg von Joe auch für das Publikum so ehrlich und berührend.

Nymphomaniac 23 photo by Christian Geisnaes_A4

Auch Udo Kier ist mal wieder mit an Bord

Bei meiner Sichtung lag die Kinofassung vor, der etwas später erscheinende Director‘s Cut ist wesentlich länger. Die zusätzlichen Szenen sollen durchaus auch pornografischer Natur sein, aber keineswegs ausschließlich. Dem Vernehmen nach dienen sie hauptsächlich der Kohärenz der Geschichte. Vergleicht man die Spieldauern der Blu-ray-Discs ergibt sich eine Diskrepanz von mehr als 80 Minuten – es kann sich also lohnen, mit dem Kauf auf das Erscheinen des Director‘s Cuts zu warten.

„Nymph()maniac“ kann nicht ganz an die Meisterwerke von von Trier wie etwa „Breaking the Waves“ (1996) und „Europa“ (1991) anschließen, weder visuell noch intellektuell. Stellenweise wirkt es zu einfach. Sehenswerte Filme sind die beiden Teile dennoch allemal.

Nymphomaniac 03 photo by Christian Geisnaes_A4

Joe und ihre einzige wahre Liebe

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Lars von Trier haben wir in unserer Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Charlotte Gainsbourg und Uma Thurman unter Schauspielerinnen, Filme mit Jamie Bell, Willem Dafoe, Udo Kier, Stellan Skarsgård und Christian Slater in der Rubrik Schauspieler.

Veröffentlichung: Kinofassung und Director’s Cut ab 20. November 2014 jeweils als Blu-ray und DVD

Länge: 241 Min. (Kimofassung, Blu-ray), 232 Min. (Kinofassung, DVD), 327 Min. (Director’s Cut, Blu-ray), 313 Min. (Director’s Cut, DVD)
Altersfreigabe: FSK 16 (Kinofassung), FSK 18 (Director’s Cut)
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Nymph()maniac Vol. I & II
DK/D/BEL/GB/F 2013
Regie: Lars von Trier
Drehbuch: Lars von Trier
Besetzung: Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBoeuf, Christian Slater, Jamie Bell, Uma Thurman, Connie Nielsen, Willem Dafoe, Udo Kier, Jean-Marc Barr
Zusatzmaterial: Interviews mit Charlotte Gainsbourg, Stellan Skarsgård, Stacy Martin, Shia LaBeouf, Trailer
Vertrieb: Concorde Home Entertainment

Copyright 2014 by Simon Kyprianou
Fotos & Packshots: © 2014 Concorde Home Entertainment

 

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